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Updated: 18.12.2012 15:51
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Lidl bekämpft der Menschen Recht

Das System Lidl: Expansion und Angst - Anton Kobel über eine neue ver.di-Kampagne

Die Schnäppchen-Händler fühlen sich bestätigt, und die Konkurrenten finden es klasse: Das »Schwarzbuch Lidl« findet reißenden Absatz. Innerhalb weniger Tage war die erste Auflage von 8000 Exemplaren vergriffen. Ver.di hatte das Schwarzbuch am 10. Dezember 2004, dem internationalen Tag der Menschenrechte, in Berlin auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Noch vor Weihnachten ging die zweite Auflage mit 10000 Exemplaren in Druck. Nachfrage und Resonanz sind ungebrochen. Ver.di hat offensichtlich in ein Wespennest gestochen. Und: Ver.di will's zeigen: Sozialstandards sind machbar!

Franziska Wiethold, im ver.di-Bundesvorstand für den Handel zuständig, erhob massive Vorwürfe gegen Lidl. Der wirtschaftliche Erfolg von Lidl habe eine Kehrseite: »Die Arbeitsbedingungen der mehr als 25000 Beschäftigten sind äußerst schlecht. Menschenunwürdige Behandlung und Bespitzelung sind System. Arbeitshetze, zum Teil unbezahlte Arbeitszeit vor und nach den Öffnungszeiten sowie Mängel im Gesundheitsschutz gehören zum Tagesgeschäft. Der Konzern zeichnet sich zudem durch gewerkschafts- und betriebsratsfeindliche Unternehmenspolitik aus.« So stand's in der Einladung für die Presse.

Ver.di belegte auch die zentralen Vorwürfe der Bespitzelung und Kontrolle: »Die Bespitzelung bei so genannten Spätkontrollen, die nach Lidl-internen Vorgaben mindestens einmal in der Woche stattfinden sollen und bei denen sogar die PKWs der Beschäftigten kontrolliert werden, stellt sämtliche Lidl-Beschäftigte ständig unter einen generellen Diebstahlsverdacht. Gängig sind Durchsuchungen des Spindes, Durchsuchungen der Kittel und der privaten Taschen. In den Filialen werden immer wieder Videokameras ohne Wissen der Beschäftigten zum Zweck der Mitarbeiterüberwachung eingerichtet. Werden Beschäftigte krank, sind Kontrollanrufe und sogar Besuche von Vorgesetzten keine Seltenheit.« Damit hatte sich Lidl den ihm am 29. Oktober 2004 von dem Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e.V. (FoeBuD e.V.) verliehenen »Big Brother Award« in der Kategorie Arbeitswelt, den »Oscar für Überwachung« redlich verdient.

Gnadenlose Arbeitshetze und Leistungsdruck

»Auffällig ist die gnadenlose Arbeitshetze an den Kassen und bei der Verräumung von Waren. Die Beschäftigten erhalten strenge Leistungsvorgaben und werden dabei regelmäßig kontrolliert. Bei Lidl wurde in all den Gesprächen niemand gefunden, der/die seine/ihre Pausenzeiten richtig in Anspruch nehmen kann. Schon ein kurzer Gang zur Toilette ist z.B. für viele Kassierinnen Luxus, den sie sich wegen des Arbeitspensums von mindestens 40 Scann-Vorgängen pro Minute und des Drucks bei Nichterreichen kaum leisten.«

Unbezahlte Mehrarbeit und kurzfristige Arbeitseinsätze

»Unbezahlte Mehrarbeit ist bei Lidl vor und nach der Ladenöffnung verbreitet, obwohl es von Zeit zu Zeit Anweisungen gibt, alle Überstunden aufzuschreiben. Oft erreichen die Filialbelegschaften inclusive Filialleitung die Leistungsvorgaben mit der vorhandenen Zeit nicht und bleiben lieber länger, bevor sie Abmahnungen oder Druck in anderer Form erwarten müssen. Nach unseren Erkenntnissen ist unbezahlte Mehrarbeit keinesfalls eine Ausnahmeerscheinung. Kurzfristige Arbeitseinsätze und Änderungen im Einsatzplan sind wegen chronischer Unterbesetzung an der Tagesordnung. Anwesenheit bis in die späten Abendstunden hinein, um den Laden zu säubern oder Aktionsware aufzubauen, sowie Anrufe an Freizeittagen oder im Urlaub, mit der Aufforderung kurzfristig einzuspringen, belasten vor allem Frauen mit Familie und Kindern zusätzlich.«

Verhinderung von Betriebsräten

»Die von Lidl wohl absichtlich unüberschaubar gehaltene Struktur des Unternehmens erschwert bei mehr als 600 verschiedenen Gesellschaften die Bildung von Betriebsräten, Jugend- und Auszubildendenvertretungen sowie die Vertretung von Schwerbehinderten enorm. Drohungen, Personal auszutauschen oder zu entlassen, falls es die Bereitschaft gäbe, einen Betriebsrat zu gründen, sind bei Lidl offenbar gang und gäbe. Ein anderer Trick des Unternehmens, starke Interessenvertretungen zu verhindern, ist die unternehmensrechtliche Ausgliederung von Filialen. So verhindert Lidl, dass Beschäftigte einer regionalen Niederlassung gemeinsame Betriebsräte für alle Filialen, das regionale Lager und dessen Verwaltung wählen können. Im Schwarzbuch Lidl wird dazu das Lehrbeispiel Unna in NRW vorgestellt.«

Aufhebungsverträge und Eigenkündigungen

»Im gesamten Bundesgebiet gibt es Beispiele von Eigenkündigungen nach Gesprächen, in denen die Betroffenen unter großem Druck entweder Aufhebungsverträge oder Eigenkündigungen unterschreiben. Häufig handelt es sich um für Lidl offenbar zu teure Beschäftigte, doch es gibt weitere Gemeinsamkeiten: Viele der Beschäftigten sind unbequem geworden, weil sie sich für die Bezahlung von Überstunden, faire Behandlung und Respekt von Vorgesetzten oder andere Selbstverständlichkeiten eingesetzt haben.«

»Viele der Betroffenen bekommen, wenn sie klagen, im Nachhinein vor dem Arbeitsgericht Recht. Fristlose Kündigungen werden in fristgerechte umgewandelt, Abfindungen werden gezahlt. Es gibt sogar Entscheidungen, die die Rückkehr in den Discounter möglich machen würden. Davon wird bisher, ohne den Schutz von Betriebsräten in den Filialen, aber kaum Gebrauch gemacht. Zu groß sind die Diffamierungen und der Druck, solange die Beschäftigten alleine gegenüber ihren Vorgesetzten stehen.«

Beispiele aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Bundesrepublik Deutschland anfangs des 21. Jahrhunderts.

Ver.di attackiert Lidl

Für ver.di bekräftigte Franziska Wiethold zum einen den bewussten Gang an die Öffentlichkeit am internationalen Tag der Menschenrechte. Sie geißelte nicht nur die »Brutalität, mit der Lidl Betriebsratswahlen unterdrückt«, sondern auch: »Das System der Krankenkontrolle ist perfide, da die Arbeit bei Lidl krank macht.« Wiethold weiter: »Beschäftigte müssen beweisen, dass sie nicht klauen«, während Lidl andererseits »bei den Beschäftigten Lohn und Arbeitszeit durch unbezahlte Vor- und Nacharbeit, nicht genommene Pausen [klaut]«.

Wiethold kündigte nach den deutlichen Worten und Vorwürfen zum anderen massive ver.di-Aktivitäten an: Für die Lidl-Beschäftigten werde eine Hotline geschaltet, für in und bei Lidl aktive Ehren- und Hauptamtliche von ver.di sei »eine große Anzahl von Juristen bereitgestellt«. Dies soll eine ver.di-Kampagne gegen Lidl begleiten: Bundesweit werden Tausende Ehren- und Hauptamtliche Patenschaften für Lidl-Filialen übernehmen. Ein soziales Netzwerk - bestehend aus öffentlich bekannten Persönlichkeiten - wird für den erforderlichen Druck und Schutz sorgen.

Ver.di werde Lidl »in den Schwitzkasten nehmen« und »wahrscheinlich noch nächste Woche (also Mitte Dezember, d. Verf.) an die Politik rangehen«, so Wiethold am 10. Dezember 2004. Auch mit den »ausländischen Kolleginnen und Kollegen wird es eine intensivere Zusammenarbeit geben. Das Schwarz-Buch Lidl wird in englisch und französisch übersetzt«.

Ver.di fordert von Lidl...

Gegen die Arbeitshetze und krankmachende Überforderung fordert ver.di mehr Personal in den Filialen. Für die ca. 30000 Beschäftigten allein in Deutschland, davon sind ca. 90 Prozent Frauen, stehen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz an vorderer Stelle. Die dauernden schikanösen und gesetzwidrigen Kontrollen des Personals sind zu unterlassen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung sei zu gewährleisten. Das bei Lidl bewusst produzierte Klima der Angst sei menschenunwürdig und deshalb zu beseitigen.

Eine zentrale Forderung von ver.di ist die Wahl von wirksamen Betriebsräten für die Filialen. Lidl müsse die Zusammenfassung mehrerer Filialen zu einem Betrieb im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes durch Abschluss eines Tarifvertrages ermöglichen. Solche Tarifverträge sind bei Unternehmen mit Kleinfilialen üblich. Beispiele: Rewe mit Penny, HL und Minimal, die Tengelmann-Gruppe mit Plus und Kaisers u.ä. Schlecker wurde von HBV 1994/95 durch eine mehrmonatige Kampagne zum Abschluss eines solchen Tarifvertrages gezwungen. Diese Schlecker-Kampagne dient ver.di nun als erfolgversprechendes Vorbild. Ein Schmankerl am Rande: Anton Schlecker ist in der Schwarzgruppe Aufsichtsratsmitglied und mit rund 76 Mio. Euro einer der Lidl-Finanziers. Vielleicht weist Anton Schlecker Dieter Schwarz (Haupteigner der Unternehmensgruppe Schwarz) darauf hin, dass die Schlecker-Kampagne nicht nur Umsatzverluste einbrachte, sondern ihm und seiner Ehefrau am 27. April 1998 zusätzlich einen Strafbefehl mit einer Freiheitsstrafe von je zehn Monaten, zur Bewährung auf zwei Jahre ausgesetzt. Zusätzlich musste Anton Schlecker 1,5 Mio. DM und Christa Schlecker 500000 DM zahlen. Auch sechs leitende Angestellte wurden mit insgesamt sechs Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und 145000 DM bedacht.

Solche von ver.di geforderten Betriebsräte sind auch Voraussetzung für die Wahl von Jugend- und Ausbildungsvertretungen sowie von Vertretungen der Schwerbehinderten. So könnte aus dem Lidl-System der Angst ein normaler, kapitalistischer Betrieb werden, in dem gängige gesetzliche und menschenwürdige Standards gelten und nicht trickreich, rechtswidrig und machtvoll verhindert werden.

Das Schwarzbuch Lidl

Das Schwarzbuch Lidl könnte dazu beitragen: Über eine solch' gierige Nachfrage und den eingangs erwähnten reißenden Absatz hätte sich jeder Einzelhändler gefreut. Auf 103 Seiten stellen die Autoren Andreas Hamann und Gudrun Giese die schwäbische Unternehmensgruppe Schwarz vor, zu der neben den Lidl-Filialen auch Kaufland und Handelshof gehören (s. hierzu auch express 9/2004 und 12/2004). Neben der Darstellung des Konzerns und seiner oberen Helfer und Macher beschreiben die Autoren »das System Lidl: Expansion und Angst«. Zahlreiche - auch ehemalige - Beschäftigte kommen zu Wort und bestätigen die o.g. Vorwürfe. Beispiele aus Österreich, Tschechien, Finnland, Norwegen, Schweden, Belgien und Niederlande deuten die internationale Dimension des »Systems Lidl« an.

Schon die Ankündigung verursachte reichlich Wirbel. Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen und Zeitschriften wollten Informationen über das interne Verhalten eines Branchenriesen im Einzelhandel. Die Berichterstattung ist voluminös.

Reaktionen des Schwarz-Konzerns

Noch vor der Veröffentlichung suchte der Konzern die Flucht nach vorne. Der bis dahin »geheimnisvolle«, »das Licht der Öffentlichkeit scheuende Riese« und »Geheimnis-Krämer«, wenig beliebt bei der Presse, publizierte erstmals ernstzunehmende Unternehmensdaten. Dem ZDF gewährte ein Spitzenmanager erstmals ein Interview. Zeitungen und Zeitschriften wurden mit ganzseitigen Anzeigen über arbeitsmarktfreundliche Wohltaten verwöhnt: »Wir sind die Nummer eins in Deutschland bei der Schaffung von neuen Arbeitsplätzen.« 45000 neue Stellen sollen es in den letzten drei Jahren gewesen sein, »davon 20000 in Deutschland«.

Ver.di weist darauf hin, dass ein neuer Arbeitsplatz bei Lidl zwei Arbeitsplätze im Lebensmitteleinzelhandel vernichtet. Neben diesen »Anzeigen gegen den Imageverlust« (Financial Times Deutschland) warf Lidl ver.di eine » anonyme Diffamierungskampagne« vor. Die ver.di-Vorwürfe seien Ausnahmefälle, die halt bei der großen Expansion passieren könnten, aber nicht geduldet würden. Führungskräfte hätten deswegen schon gehen müssen, und nun sei es gut. Wenn Lidl sich, die Presse und die Öffentlichkeit hier nur mal nicht täuscht. Die Material-Lager bei ver.di sind gut gefüllt und werden täglich voller, wie man hört. Das erste Schwarzbuch bedarf der Erweiterung. Der Autor Andreas Hamann erläuterte schon am 10. Dezember 2004 bei der Pressekonferenz, dass das Material für drei Schwarz-Bücher reiche. Und es wird täglich mehr, aus dem In- und Ausland.

Angesichts der Verteidigungsstrategie des Lidl-Konzerns erhält eine von dem vorher so öffentlichkeitsscheuen Konzern vor kurzem - wohl anlässlich der ver.di-Aktivitäten - verpflichtete Münchner Presse- und PR-Agentur reichlich Arbeit. Ob Lidl bald in Anlehnung an rot-grün oder gar mit Unterstützung plakatiert: »Sozial ist, was Arbeit schafft!«?

Interessiert und vielfach belustigt wurde kurz vor Weihnachten eine andere Reaktion des Konzerns aufgenommen: Führungskräfte, sonst für ihre rabiate Haltung bekannt, erschienen in den Filialen und verteilten kleine Weihnachtsgeschenke. Erstmals.

Reaktionen von Beschäftigten

Seit dem 10. Dezember hatten sich, so Wiethold am 27. Dezember, innerhalb von 14 Tagen 3500 jetzige und ehemalige Lidl-Beschäftigte aus dem In- und Ausland bei ver.di gemeldet. Aus der Belegschaft an sich scheint sich gerade eine Belegschaft für sich zu bilden.

Reaktionen von der Gesellschaft

Bei Lidl kaufen viele ein. Junge und Alte. Arme und Betuchte. Christen und Moslems. Konservative und Linke. Gewerkschaftsmitglieder. Attac-AnhängerInnen. Rot-Grüne. Geißler-/Blüm-Schwarze. Menschen, denen nicht alles gleichgültig ist, die Interesse daran haben, dass soziale, moralische und gesetzliche Standards gelten und eingehalten werden. Auch hier.

Sie alle müssen nicht bei Lidl einkaufen. Darauf wies am 11. Dezember die taz hin: »Der Kunde kann natürlich entscheiden, wo er sein Geld lässt. Aber Geld bedeutet auch Kaufkraft und Entscheidungsfreiheit für den, der es besitzt. So sollten die, die es besitzen, diese fähigen Instrumente einsetzen, damit gute Arbeitsplätze erhalten und neue geschaffen werden.« Und im Einzelhandel gibt es noch immer Alternativen. Oft mehr als in der Politik.

Kaufzurückhaltung und Boykott der Kunden können auch bei Lidl eine wirksame Unterstützung für die Beschäftigten und ver.di werden. Gemeinsam geht's besser. Boykott - die große Macht der kleinen Leute.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 1/05

Anmerkung:

Das Schwarz-Buch Lidl ist für 8 Euro zu beziehen über den Buchhandel, postalisch über: ver.di GmbH, medien/buchhandel/verlag, Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin, per email über: manina.walter@verdigmbh.de, oder per Tel. über: (030) 69 56 12 62

Siehe dazu auch: Lidl und der Menschen Recht - Anton Kobel zu Stand und Perspektiven der Lidl-Kampagne. Erschienen in express 10-12/2005


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