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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Expansiv gegen Menschenrechte Anton Kobel über das neue ver.di-Schwarzbuch zu Lidl in Europa Am 27. Juni 2006 veröffentlichte ver.di das zweite »Schwarzbuch Lidl«. Das Autorenteam um Andreas Hamann analysiert und schildert nach langer Recherche Lidl-Praktiken im Zuge der europaweiten Expansion dieses marktführenden Discounters. Vor eineinhalb Jahren, am internationalen Tag der Menschenrechte, hatten Andreas Hamann und ver.di in Berlin das erste Schwarzbuch »Billig auf Kosten der Beschäftigten« über menschenfeindliche Zustände in den deutschen Lidl-Filialen herausgebracht (s. express, Nr. 11-12/ 2005). Die Resonanz ist bis zum heutigen Tag zu verfolgen. Im Schwarzbuch Lidl Europa belegen die Autoren: Systematisch werden in den Filialen des Schwarz-Konzerns (Lidl und Kaufland) in allen 20 europäischen Ländern, in die der Konzern aus Neckarsulm expandiert ist, Rechte der Beschäftigten verletzt. Das neue Schwarzbuch benennt auch die Folgen der aggressiven Expansion und des dadurch verschärften Vernichtungswettbewerbs im Einzelhandel: Mittelständische Strukturen des mittelständischen Einzelhandels werden zerschlagen, die wohnortnahe, fußläufige Versorgung der Menschen und Zehntausende Arbeitsplätze werden zerstört. Zahlreiche Beispiele illustrieren die bereits aus Deutschland bekannten zentralen Vorwürfe von ver.di: »Gnadenlose Arbeitshetze, chronische Unterbesetzung, geringe Einkommen, Druck und schikanöse Kontrollen prägen den europäischen Lidl-Arbeitsalltag.« (Agnes Schreieder, Leiterin der Lidl-Kampagne bei ver.di) Verfolgung und Unterdrückung von gewerkschaftlichen Bestrebungen gehören ebenso zur Lidl-Geschäftsstrategie wie »enormer Preisdruck auf Produzenten, Lieferanten und vor allem auf das Personal« (A.S.). Zusammenarbeit mit Neofaschisten in Spanien ... Detailliert belegt Andreas Hamann, dass Lidl in Spanien mit einer sog. Sicherheitsfirma, Levantina, zusammenarbeitet, deren Besitzer öffentlich bekannt ist für seine rechtsextremen Aktivitäten und als wichtige Verbindungsfigur im Netzwerk der europäischen Rechtsextremen gilt. Lidl-Pressesprecher Oberle versucht diese Tatsachen herunter zu spielen: »Ein wesentlicher Grund für die Beauftragung dieser Sicherheitsfirma war neben der notwendigen fachlichen Qualifikation die Tatsache, dass die Firma u.a. auch für ... die Landesregierung von Valencia arbeitet.« Mit dieser Begründung haben auch alle Beteiligten von Guantanamo gute Jobaussichten. Oberle kündigte gegenüber A. Hamann die Beendigung der Zusammenarbeit mit Levantina an. Das Sicherheitsbedürfnis von Lidl charakterisieren auch die Kontrollen im Lidl-Lager von Nantes/Frankreich: »Mehr Überwachungskameras als im Gefängnis«. Anlass war der angebliche Diebstahl von »Kinderschokolade«. Diese Videoüberwachung, verbunden mit Arbeitshetze und ungerechtfertigten Sanktionen, führte im November 2005 zu einem 15-tägigen Streik in diesem Lager. Die Überwachungspraktiken von Lidl wurden schon mehrfach ausgezeichnet: im Herbst 2004 in Deutschland mit dem Negativpreis »Big Brother Award«, am 3. Februar 2006 in Paris für die Überwachung der Beschäftigten, darunter »insbesondere die gewerkschaftlich organisierten«, so die Begründung der Jury. ... öffentlich geförderte Kredite in Osteuropa Lesenswert und Anlass zu Protesten ist die ausführlich geschilderte Vergabe und Inanspruchnahme von öffentlich geförderten Krediten: »Lidl-Expansion nach Osten von der Weltbank finanziert.« Seit Oktober 2004 finanzieren die Weltbank-Tochter IFC und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) die Ansiedlung von Filialen des Schwarz-Konzerns in Osteuropa - vor allem Kroatien, Polen, Bulgarien - mit ca. 280 Millionen Euro. Der Weltbankableger IFC beabsichtigt so, »nachhaltige Privatinvestitionen in sich entwickelnden Ländern zu fördern und dabei zu helfen, die Armut zu verringern und das Leben der Menschen zu verbessern«. Ein profitträchtiges Programm zur Armutsbekämpfung! Interessant sind nun die Reaktionen auf diese Veröffentlichung von ver.di. Der EBRD-Sprecher Williams dementierte dieser Tage Fakten und sprach von nur 80 Millionen Euro. Die Quelle für die im Schwarzbuch genannten 280 Millionen ist allerdings EBRD-Vizepräsident Saccomanni, so Andreas Hamann. Die von NGOs immer wieder geforderten Sozial- und Umweltstandards seien, so die IFC, in diesem Fall eingehalten: In der Unternehmensgruppe Schwarz gebe es keine Kinderarbeit, und die Kaufland-Filialen verfügten über Sprinkleranlagen. Lidl-Pressesprecher Oberle toppt dies: »... legen beide Institutionen (IFC und EBRD) auch sehr strenge Kriterien an den Kreditnehmer an: In eingehenden Prüfungen werden die Einhaltung von Umweltvorschriften, von sozialen Standards und des Arbeitsrechts sowie von Sicherheitsstandards beim Kreditnehmer überprüft. Lidl und Kaufland haben hierbei ausnahmslos alle Kriterien erfüllt«, so Oberle am 27. Juni 2006 in einer »Stellungnahme von Lidl zum Schwarzbuch Europa 2006«. Vielleicht kann man den Prüfern nachhelfen. Das erste Schwarzbuch gibt es mittlerweile auch in einer englischen Version: »The Black Book on the Schwarz Retail Company«. Das Schwarzbuch Europa ist zeitgleich auf Deutsch und Englisch erschienen; eine französische Ausgabe ist in Vorbereitung. Lidl kann auch anders, wenn's sein muss! Neben all den menschenfeindlichen Lidl-Aktivitäten zeigt das Schwarzbuch Europa aber auch Beispiele für ein anderes Verhalten bei Lidl. In Dänemark konnte die Handelsgewerkschaft HK durch mehrere Abkommen zufriedenstellende Arbeitsbedingungen regeln. Ähnliches berichten die belgischen Angestelltengewerkschaften BBTK, LBC-NVK und CNE: »Bei uns sind die Probleme weniger scharf.« In Belgien spielt der paritätisch aus Vertretern der Gewerkschaften und der Arbeitgeber zusammengesetzte »Nationale Rat für Arbeit« eine wichtige Rolle bei der Domestizierung von Lidl. In Holland ist die »Kultur der Angst«, die bei Lidl jahrelang geherrscht hat, einem besseren, wenn auch immer noch nicht guten Klima gewichen. Gesellschaftlicher Druck von außen und gewerkschaftlicher Druck in den Filialen und Lägern haben solche Veränderungen ermöglicht, so die Einschätzung der Gewerkschaften FNV und CNV. Während Streiks in den Lidl-Filialen in Deutschland noch eine Seltenheit sind - mit Ausnahme der Kaufland-SB-Warenhäuser, die bereits seit über 20 Jahren immer wieder bestreikt werden -, berichtet das neue Schwarzbuch über zahlreiche Streiks in Spanien, Italien, Griechenland, Frankreich. 1998 streikten die Belegschaften von zwei Filialen in Paris 34 Tage (!). Dieser »Streik für Menschenwürde« erfuhr landesweite Solidarität. Spektakulär und effektiv war die Streikform: Das Personal stand nicht vorm Laden, sondern besetzte von der Öffnung bis zum Ladenschluss die Kassen und verhinderte jeglichen Umsatz. Nachgeben und sich anpassen haben die Lidl-Manager und -Eigentümer also durchaus gelernt, auch wenn sie sich derzeit in Deutschland noch unnachgiebig und menschenfeindlich verhalten. Vorwärts und vergessen! In den Filialen unterdrückt Lidl noch immer brutal gewerkschaftliche Regungen (s. express, Nr. 11-12/2005). In der Öffentlichkeit dagegen hat der Konzern seine Rolle gewechselt. Dank der ver.di-Kampagne leistet Lidl sich jetzt den bereits erwähnten Pressesprecher Oberle und die beiden PR-Agenturen Engel & Zimmermann sowie Media Consulta. Die beiden Agenturen bemühen sich als Krisenmanager, der Pressesprecher tritt als Vertreter von >lidl soft & light< auf. Oberstes Ziel ist es, in der Öffentlichkeit die Skandale und das menschenfeindliche Verhalten als Einzelfälle herunterzuspielen und die immer zahlreicher werdenden Lidl-KritikerInnen einzulullen bzw. zu besänftigen, nach dem Motto: »Schaut her, Lidl ist auch gut!« So ließ Lidl Ende April 2006 in Berlin-Steglitz ein Fußballturnier für Kids veranstalten. Als Aushängeschilder dienten Jörg Butt, Tormann von Bayer Leverkusen (ein Schelm, dem dazu Pestizide u.ä. einfallen), und ein Fernsehkoch. Pressesprecher Oberle ließ es sich nicht nehmen, in diesem Kontext darauf hinzuweisen, »... dass wir gute Qualität und gesunde Produkte haben«. Sicherlich eine Antwort auf den »Pokal für maximale Pestizidbelastung«, mit dem das Unternehmen im vergangenen Jahr von Greenpeace ausgezeichnet wurde. Im Zuge dieser Pokalverleihung landete Lidl im ökologisch orientierten Lager von Kunden und KritikerInnen noch einen Supergau, den jetzt ein Tormann und ein Koch vergessen machen sollen: Lidl hatte in großflächigen Zeitungsanzeigen gegen Greenpeace behauptet, sein Obst und Gemüse seien sauber, dies habe das Labor Piorr/Neulußheim bestätigt. Das Labor ließ Lidl am 13. Dezember 2005 diese Behauptung gerichtlich untersagen! Große Probleme haben die Lidl-Herren auch mit der attac-Kampagne, eine klassische und erfolgreiche »Parallelkampagne«. Hunderte attac-Aktionen in und vor Lidl-Filialen und -Zentralen veranlassten den Konzernchef Gehrig zu einem Gespräch in Frankfurt a.M. und zur Entgegennahme der attac-Forderungen: mehr Auskünfte zur Herkunft der Lidl-Artikel, fairer Umgang mit Produzenten und Lieferanten, menschenwürdige Behandlung der Beschäftigten, größere finanzielle Transparenz des Konzerns. Lidl konnte die attac-Aktiven nicht einlullen und versuchte sein Glück dann andernorts, so im Februar 2006 bei den Ökobauern und danach bei Greenpeace. Diese Gespräche haben das Ziel, KritikerInnen aus ihrer Verbindung mit ver.di herauszulösen und abzuspalten, möglichst öffentlichkeitswirksam und imageverbessernd. Weitere Ergebnisse dieser Anstrengungen: Mit großem TamTam verkündet Lidl die Aufnahme von fair gehandelten Produkten ins Sortiment. Dafür gibt's jetzt das konzerneigene Siegel »FAIRGLOBE«. Allerdings nur für ganze acht (!) der rund 1700 bei Lidl gelisteten Produkte. Eine durchsichtige Show und Schaumschlägerei! Eine vergleichbare Placebowirkung soll wohl die Aufnahme von Bioprodukten haben. Lidl hat dabei zwei Probleme. Viele Kunden fragen, warum dies bei Lidl erst jetzt passiert, nach all den anderen Einzelhandelsketten. Gewichtiger dürfte das Misstrauen der VerbraucherInnen sein. Laut dpa glauben nur 23 Prozent von 1009 Befragten, dass die bei Discountern angepriesenen Öko-Produkte das Biosiegel zurecht tragen (taz, 12. Juni 2006). Zu schaffen machen Lidl auch all die Forderungen von kirchlichen Gruppen, Menschenrechtorganisationen - so ist es Lidl auch gelungen, mit seinen Verstößen gegen Grund- und Menschenrechte in den »Grundrechte-Report 2006« aufgenommen zu werden -, GlobalisierungskritikerInnen, GewerkschafterInnen usw., »faire Bedingungen auch im Verkauf!« in den Filialen zu garantieren. Orangensaft aus Kuba und Brasilien ersetzen keine Gewerkschaftsrechte. Castro hin und Lula her. Als neuer Abspaltungsversuch muss aktuell die Aufnahme des »greenpeace magazin« ins Lidl-Sortiment herhalten. Zweimonatlich sollen 150000 Exemplare des Öko-Magazins in den ca. 2700 Filialen zum Verkauf angeboten werden. Nicht verkaufte Exemplare sollen kostenlos an die Lidl-Beschäftigten abgegeben werden. Wenn das mal nur keine Gründe für die Lidl-üblichen Abmahnungen, Aufhebungsverträge, (Selbst-) Kündigungen, Revisionsfälle liefert! Wie wär's denn, wenn ver.di über Lidl seine Mitgliederzeitung Publik vertreiben lässt; restliche Exemplare bekommt das Personal? ver.di verstärkt den Druck auf Lidl Vielfältig sind die von ver.di initiierten Aktionen gegen Lidl. Das »Europa-Schwarzbuch« stärkt die notwendige internationale Vernetzung. Erste international abgesprochene Aktivitäten gab es um den Internationalen Frauentag am 8. März 2006 sowie vom 4.-7. Mai 2006 auf dem »4. Europäischen Sozialforum« in Athen (dazu in der nächsten Ausgabe des express ein ausführlicher Bericht). Die alten und die neuen Sozialen Bewegungen planen für den Herbst grenzüberschreitendes Handeln. Die Resonanz in den betroffenen 20 Ländern Europas auf das »Europa-Schwarzbuch« ist groß, die darin geschilderten Schweinereien, aber auch die erfolgreichen Aktionen machen Mut. In Deutschland sammelt ver.di derzeit 40000 Unterschriften für die 40000 Lidl-VerkäuferInnen. Zahlreiche Prominente und Persönlichkeiten unterstützen namentlich die von ver.di gegenüber Lidl angebotene Vereinbarung »Faire Betriebsratswahlen«. Ca. 350 KünstlerInnen haben sich mit 649 Arbeiten am ver.di-Wettbewerb »fair kaufen« beteiligt. Kunstwerke, viele unmittelbar gegen Lidl gerichtet, kommen auch aus dem Ausland (Schweiz, Brasilien, Israel, Mexiko) und tragen sicher zur weiteren Internationalisierung dieses Arbeitskampfes bei. Es gibt immer mehr Lidl-Watcher: MenschenrechtlerInnen, Presseleute, Kirchenmenschen, politische Menschen. Ob dazu im stillen Verborgenen schon Staatsanwälte und Verfassungsschutz gehören?! Es geht oft um nichts Geringeres als Verstöße gegen Grund- und Menschenrechte. Mögliche Perspektiven Neben der Internationalisierung wird es konkret um eine verstärkte europäische Vernetzung gehen. Gegen Lidl, aber auch vor allem in Lidl. ver.di wird eine globale Konzernstrategie entwickeln müssen. Dazu kann und sollte auch eine globale Vernetzung entlang der Wertschöpfungsketten (von der Produktion über den Zwischen- bis zum Einzelhandel) kommen. Alle bisherigen erfolgreichen Verknüpfungen mit PartnerInnen im Sozialen Netzwerk sollten bewusst auf die Kunden und VerbraucherInnen ausgeweitet werden. Boykotts müssen gedacht und vorbereitet werden. Dazu gibt es viele fantasievolle Formen. Nicht zuletzt kann und soll auch der Rechtstaat mit seinen Instrumenten eingeschaltet werden. Anton und Christa Schlecker sowie deren Manager waren von der Strafverfolgung im Zuge der Schlecker-Kampagne 1994/95 stark beeindruckt, auch von den Geld- und Haftstrafen. Das »Schwarzbuch Lidl Europa« kann bestellt werden über: manina.walter@verdigmbh.de, Tel. (030) 69561262. Es kostet 9,90 Euro zzgl. 2 Euro Porto und Versand. Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6/06 |