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Updated: 18.12.2012 15:51
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Zuschrift zu "Bekenntnishafte Leerformeln - Wolfgang Schaumberg über den Oktoberstreik bei Opel und die radikale Linke", erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/05

Wann wenn nicht jetzt?

Die Forderung nach Sozialisierung und Arbeiterkontrolle ist hochaktuell

Wolfgang Schaumberg nimmt in seinem Beitrag Flugblätter verschiedene linker Gruppen zum Bochumer Oktoberstreik kritisch unter die Lupe – etwa nach dem Grundsatz: Alle in einen Sack und immer fest draufhauen. Sicher – einige der Zitate sind durchaus phrasenhaft und inhaltlich kritikwürdig. Aber einige der von Wolfgang etwas abschätzig angeführten Ideen sind nach meiner Erfahrung und Ansicht durchaus nicht so abwegig und sollten differenzierter betrachtet werden.
Als ich nach Ausbruch des Oktoberstreiks feststellte, dass der Apparat der britischen Metallergewerkschaft Amicus zu keinerlei Solidaritätsaktionen mit dem Bochumer Streik bereit war (und nicht einmal die Nachricht vom Bochumer Streik offiziell weiter verbreitete), nahm ich nach Rücksprache mit Wolfgang Schaumberg und Mag Wompel übers Wochenende direkten Kontakt zur Gewerkschaftslinken in Amicus (Amicus Unity Gazette) auf. Diese Kollegen verteilten dann den von mir verfassten englischen Text auf eigene Faust an die Vauxhall-Belegschaft (ist alles im Labournet dokumentiert).

In den Telefonaten erklärten mir mehrere dieser engagierten Kollegen, dass sie in einem solchen Arbeitskampf grundsätzlich neben konkreten, unmittelbaren Forderungen zur Ausweitung des Kampfes auf andere Werke die Idee einer Sozialisierung der Industrie unter demokratischer Arbeiterkontrolle vertreten und dafür werben würden. Diese Idee hatte in der britischen Gewerkschaftsbewegung in den 70er und 80er Jahren eine breite Unterstützung gefunden und müsse gerade jetzt wieder angesichts der scheinbar auswegslosen Situation und offenkundigen "Sachzwänge" (europaweite und weltweite Überkapazitäten des Autoindustrie) wieder in den Vordergrund gerückt werden. Ein Kollege in Liverpool, der dann im GM-Werk in Ellesmere Port die Infoblätter über den Bochumer Streik persönlich verteilte, erzählte mir, dass er gerade ein Buch über den Kampf der Belegschaft von Lucas Aerospace in den 70er Jahren lese und davon fasziniert sei, wie die Belegschaft des damaligen Autozulieferers und Rüstungskonzerns aus eigener Kraft handfeste Pläne zur Umrüstung der Produktion auf zivile Produkte entwickelte. Ein Kollege aus einem britischen Ford-Werk erklärte mir, dass Ford im letzten Weltkrieg binnen kurzer Zeit auf Kriegsproduktion umstellen konnte und analog heute auch binnen weniger Woche eine Umstellung von der Automobilproduktion auf andere – und zwar gesellschaftlich noch nützlichere – Produkte möglich wäre.

Solche Grundfragen wurden auch in der IG Metall in den 70er und 80er Jahren relativ breit diskutiert, sind aber inzwischen leider weitgehend in Vergessenheit geraten. Ich erinnere mich an einen Videofilm, der von vielen Metallern mit Interesse gesehen und diskutiert wurde. In diesem Film wurden nicht nur die von der Lucas Aerospace-Belegschaft entwickelten Prototypen (Straßen-Schienen-Fahrzeug, Hilfen für Behinderte und Kranke, Maschinen für Bauern der so genannten „Dritten Welt“ etc.) dargestellt, sondern auch eine Diskussion zwischen Mike Cooley, einem Sprecher der Belegschaft, und Metallern von VFW Fokker in Speyer, die damals mit ähnlichen Problemen konfrontiert waren.

Anders als heute, da die Belegschaft jedes Autokonzerns alleine gelassen wird, organisierte in den 80er Jahren die IG Metall nach meiner Erinnerung zumindest gemeinsame Aktivitäten, um die Beschäftigten einer „Krisenbranche“ – damals war es die Stahlbranche – zusammenzufassen (so unzulänglich manche Inhalte auch gewesen sein mögen). So gab es etwa eine bundesweite Demos aller Stahlarbeiter und wurde auf einer IG-Metall-Stahl-Konferenz in Duisburg Mitte der 80er einmal sogar ein Programm mit der Zielsetzung der Vergesellschaftung der Stahlindustrie verabschiedet. Wann – wenn nicht jetzt – soll der Zeitpunkt gekommen sein, um solche Fragen – in Verbindung mit radikaler Arbeitszeitverkürzung – wieder (und natürlich offensiver als der IG Metall-Apparat damals) aufzugreifen und nicht nur im kleinen Kreise und hinter vorgehaltener Hand zu diskutieren?

Es ist absolut nicht verwerflich, sondern an der Zeit, an solche Traditionen zu erinnern und anhand der aktuellen Erfahrungen das kapitalistische Privateigentum an Produktionsmitteln in Frage zu stellen. Es ist auch nicht verkehrt, argumentativ an entsprechende Sozialisierungsartikel in Landesverfassungen aus der Nachkriegszeit zu erinnern (sofern keine Illusionen in Staatsorgane und Politiker geweckt werden). Solche Verfassungsartikel sind nur ein mattes Echo auf die damaligen Kämpfe besonders im Ruhrgebiet und in Hessen für die Sozialisierung der Schwerindustrie. Am 60. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus sollten Gewerkschaftslinke gerade auch an diese Kapitel unserer Geschichte erinnern und die Aktualität dieser Ideen hervorheben. Es ist kein Zufall, dass sowohl nach dem 1. als auch nach dem 2. Weltkrieg die Idee der Sozialisierung in der arbeitenden Bevölkerung breit diskutiert wurde und dann aber auf ein für das Kapital ungefährliches reformistisches Gleis („Mitbestimmung“) abgeschoben wurde. Es ist auch kein Zufall, dass die hessische Regierung Koch jetzt alle entsprechenden fortschrittlichen Artikel aus der Landesverfassung streichen will und sich dabei auch auf die Grünen stützt.
Ich habe mich schon persönlich mit vielen Belegschaftskämpfen solidarisiert und darüber berichtet. Wie ein roter Faden zog sich dabei durch Gespräche und Interviews stets die Grundidee, dass es die Belegschaft in eigener Regie und kollektiv besser gemacht hätte, weil sie aus ihrer tagtäglichen Erfahrung heraus die betrieblichen Mißstände genauestens kennt und die Probleme kommen sah, aber letztlich doch nichts im Betrieb zu melden hat. Was liegt da näher als die Forderung nach Überführung in Gemeineigentum und demokratische Kontrolle und Verwaltung im Betrieb durch Beschäftigte, Gewerkschaften und Allgemeinheit?

Dass solche Ideen auch keine nostalgische Träumerei „alternder 78er“ sind, zeigt übrigens auch das jüngste Beispiel der venezolanischen Papierfabrik Venepal (jetzt Invepal), deren Belegschaft durch Besetzung die Verstaatlichung und demokratische Kontrolle und Verwaltung des Betriebes erreicht hat und einen eigenen Produktionsplan aufgestellt hat, um mit den vorhandenen Produktionsanlagen gesellschaftlich nützliche Güter (in diesem Fall Schreibhefte für die staatlichen Alphabetisierungsprogramme) zu produzieren.

Ich gehe nicht davon aus, dass die Opelaner in Bochum oder Rüsselsheim zu blöd sind, um solche Ideen zu begreifen. Auch die venezolanische Arbeiterbewegung hatte bis vor wenigen Jahren mit einer langen Tradition rechter Gewerkschaftsapparate mit mafiösen Strukturen zu kämpfen. Auch der Lernprozess der Venepal-Belegschaft kam auch nicht über Nacht.

Ich bekenne mich dazu: ich habe - im Labournet und auch beim Opel-Aktionstag und anderswo- Texte mit solchen Ideen verbreitet und würde es auch nach dem Durchlesen von Wolfgangs Artikel wieder tun. Als Gewerkschaftslinke – auch ich leiste geduldige gewerkschaftliche Basisarbeit und habe diese Woche zwei Warnstreiks mit organisiert – müssen wir natürlich Reizwörter und abschreckende Phrasen tunlichst vermeiden und insofern immer wieder alles selbstkritisch hinterfragen. Aber wir dürfen auch nicht zu zaghaft sein, wenn es darum geht, über das kapitalistische System hinausgehende Perspektiven und Zielsetzungen zu formulieren und dafür einzutreten. Wann wenn nicht jetzt?

Hans-Gerd Öfinger

Siehe von ihm im Labournet Germany zum Thema:

OPEL hat Zukunft – in Arbeiterhand! Ein Plädoyer für Gemeineigentum und Arbeiterkontrolle

Opel Bochum: Alle Bänder standen still. Sechs Tage, die den GM-Konzern in Atem hielten


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