letzte Änderung am 06. Juni 2002

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Nur eine Frage der Fortune?

Heiner Dribbusch zur Parlamentswahl in den Niederlanden

Bei der niederländischen Parlamentswahl am 16. Mai ist nicht nur wiederum eine sozialdemokratisch geführte Regierung in EU-Europa abgewählt worden. Zugleich hat erneut eine rechtspopulistische Wahlformation einen bedeutenden Erfolg erringen können. Beides zusammen Grund genug, einen genaueren Blick auf das Wahlergebnis zu werfen.

Das Ereignis, das den Wahlkampf in den Niederlanden zweifelsohne am stärksten geprägt hat, war die Ermordung von Pim Fortuyn, dem Namensgeber und unbestrittenen Hauptakteur der Lijst Pim Fortuyn (LPF), der bereits im März bei den Gemeinderatswahlen in Rotterdam angetreten war und dort aus dem Stand fast 35 Prozent der Stimmen erzielt hatte. Mit dem Attentat auf Fortuyn endete für alle Parteien der offizielle Wahlkampf, während die Wahlkampagne nicht zuletzt durch eine gezielte Stimmungsmache unter dem Motto »die Linken haben Fortuyn ermordet« weiterlief.

Der LPF waren vor den Wahlen 20 Prozent vorhergesagt worden, und die Frage war, ob die Liste durch das Attentat in einer Trotzreaktion besonders viel Stimmen erhalten, oder ob angesichts der offenkundigen Un-erfahrenheit der meist unbekannten KandidatInnen ein Abrücken von ihr zu verzeichnen sein würde. Mit 17 Prozent erzielte die Liste schließlich nicht den ganz großen Erfolg, konnte aber immerhin mehr als 1,6 Mio. Stimmen auf sich vereinen. Der zweite große Gewinner war die konservative CDA, die nach acht Jahren wieder die Chance zur Regierungsbildung erhielt und ganz offensichtlich auch jenen Teil der WählerInnen gewinnen konnte, der eine »seriöse« Rechte wählen wollte. Der große Verlierer der Wahl war die bisher regierende »lila« Koalition aus Sozialdemokraten sowie Rechts- und Linksliberalen. Die sozialdemokratische PvdA verlor fast die Hälfte ihrer Stimmen und wurde nur noch viertstärkste Kraft, hinter den Liberalen, die gleichfalls stark verloren.

Erstaunlich an der heftigen Niederlage, die sich bereits im Vorfeld abgezeichnet hatte, ist, dass die Niederlande nicht nur zu den wohlhabenden EU-Ländern gehören, sondern ihre Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik während der letzten acht Jahre gute Noten erhielt und lediglich eine vergleichsweise geringe Arbeitslosigkeit von etwa vier Prozent zu verzeichnen ist. Eine Rolle bei der Abwahl spielte, dass die Regierung als »langweilig« und ideenlos wahrgenommen wurde und zugleich unterschwellig eine gewisse Furcht vor einer bevorstehenden Wirtschaftskrise bestand. Beides zusammen ließ so etwas wie eine »Wechselstimmung« entstehen. Pim Fortuyn konnte dabei als jemand auftreten, der behäbig gewordene Politiker, denen vor lauter Konsenssuche die klare Sprache verloren gegangen sei, aufmischte. Dabei führte er insbesondere mit seiner Mischung von »das Boot ist voll« und »wer hier lebt, soll sich anpassen« rechte und rechtsextreme Diskurse. Diese populistische Demagogie, die den Eindruck erweckt, es könne ein Zurück zu einer phantasierten »eigentlichen« niederländischen Identität geben, hat ein terroristisches Potential, weil sie angesichts der irreversiblen Immigration letztlich die Vertreibung aller »Nicht-Niederländischen« beinhaltet.

Die Linke muss wie schon in Deutschland und Frankreich auch in den Niederlanden zur Kenntnis nehmen, dass der rechte Populismus und die von der LPF vertretene Vorstellung, die »Immigration sei in einem ohnehin überbevölkerten Land aus dem Ruder gelaufen« (LPF-Wahlprogramm) nicht zuletzt auch unter ArbeiterInnen verfängt. Dabei zeigen sich in den Niederlanden regionale Unterschiede. Während im Norden, beispielsweise in Groningen, die linken Parteien und die Sozialdemokratie verhältnismäßig gut abschnitten und die LPF mit knapp 11 Prozent unterdurchschnittlich blieb, war letztere nicht nur in einigen Trabantenstädten rund um Amsterdam, sondern mit fast 30 Prozent besonders in der alten »Hochburg der niederländischen Arbeiterklasse« Rotterdam erfolgreich. In einzelnen »Arbeitervierteln« ging wie bereits bei den Gemeinderatswahlen fast jede zweite Stimme an die LPF. Insgesamt konnte die LPF in Rotterdam trotz eines leichten prozentualen Rückgangs durch die gestiegene Wahlbeteiligung gegenüber dem März sogar Stimmen hinzu-gewinnen. Überhaupt scheint die LPF einen Teil ehemaliger NichtwählerInnen mobilisiert zu haben. In der Wählerwanderung konnte sie etwa zehn Prozent der ehemaligen PvdA-WählerInnen zu sich herüberziehen sowie fast ein Viertel der WählerInnen der rechtsliberalen VVD. Ansonsten ein leider auch aus anderen Ländern bekanntes Bild: »Jugend wählt rechts«. Während vor vier Jahren noch 23 Prozent der unter 25-Jährigen die PvdA wählten, sind es 2002 gerade noch neun Prozent. Stärkste Partei in diesem WählerInnenseg-ment sind jetzt die LPF mit 22 Prozent, gefolgt von den Konservativen mit 21 Prozent.

Fand der Rechtsruck vor allem aus der politischen Mitte heraus statt, so konnte umgekehrt die nicht in die Regierung eingebundene Linke trotz der anti-linken Stimmungsmache im Gefolge des Attentats zulegen. Zwar musste GroenLinks, die niederländische grüne Partei, leichte Verluste hinnehmen, konnte mit sieben Prozent aber ihre bisherigen Mandate verteidigen. Politischer Gewinner auf der Linken ist die SP, mit der die Grünen eine Listenverbindung eingegangen waren, die immerhin beinahe sechs Prozent der Stimmen erhielt. GroenLinks und die SP konnten in Amsterdam, Groningen und Utrecht zusammen etwa ein Viertel der Stimmen auf sich vereinigen, wobei GroenLinks mit etwa 13 bis 14,5 Prozent stets etwa ein Drittel stärker als die SP abschnitt.

Diese am linken Rand des politischen Spektrums verordnete, aus dem niederländischen Maoismus hervorgegangene Partei, die sich seit Beginn der 70er Jahre Socialistische Partij nennt, hat seit 1974 an Gemeinderatswahlen teilgenommen und ist seit 1994 im nationalen Parlament vertreten. Die Partei, die sich mit einer eigenen Gewerkschaftsorganisation namens Arbeidersmacht (Arbeitermacht) unter anderem auch bei Philips verankern konnte, hat die separate gewerkschaftliche Organisierung inzwischen zugunsten der Mitgliedschaft in den FNV-Gewerkschaften aufgegeben. Die SP, die nicht mehr als ML-Organisation auftritt, ist nicht frei von linkem Populismus, und ihr Wortführer Marijnissen wird von einigen WählerInnen auch als Al-ternative zu Fortuyn wahrgenommen. Die Partei selbst ist der Ansicht, dass sie durchaus einige der Analysen von Fortuyn teile, nur biete sie eben linke Lösungen. Dies bedeutet dann im Einzelnen, dass sie für ein verstärktes Angebot von niederländischen Sprachkursen, aber gegen einen Zwang zur Teilnahme ist. Sie ist durchaus für mehr Mittel für die Polizei, eine effizientere Strafverfolgung sowie – ebenso wie die Grünen – für mehr »Blau auf der Straße«, u.a. durch Stadtteilpolizisten. Zugleich tritt sie für eine demokratische Kontrolle der Ordnungshüter ein. Die Partei lehnt eine »kurzsichtige« Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte beispielsweise im Pflege- und IT-Bereich ab. Sie tritt ferner für ein Stimmrecht für MigrantInnen ein und ist für eine großzügige Aufnahme aller Asylsuchenden, die vor Krieg, Verfolgung und Terror fliehen. Abgelehnte AsylbewerberInnen sollen, wenn nötig unter Auszahlung einer Startprämie, wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden. Außenpolitisch tritt sie entschieden gegen den Krieg in Afghanistan auf, was ihr bei manchen WählerInnnen Sympathien einbringt, die in anderen Fragen eher GroenLinks wählen würden, dem außenpolitischen Kurs dieser Partei, der dem der deutschen Grünen ähnelt, aber nicht folgen möchten.

Die Gewerkschaften des größten Dachverbandes FNV gaben trotz ihrer traditionellen Nähe zur Sozialdemokratie keine Wahlempfehlung. Dies bedeutete aber auch, dass es keinen Aufruf, zumindest nicht LPF zu wählen, geschweige denn eine Gewerkschaftskampagne gegen die Rechtspopulisten gab. Die außerparlamentarische Linke hatte nach dem Anschlag alle zuvor geplanten Demonstrationen gegen die LPF abgesagt. Inwieweit sie nach der Wahl zusammen mit den Linksparteien gegen die politische Rechte und gegen mögliche Verschärfungen der Migrations- und Innenpolitik mobilisiert, bleibt abzuwarten.

Mit der diesjährigen Parlamentswahl hat sich in den Niederlanden der Trend zur Auflösung festgefügter Parteienpräferenzen weiter fortgeschrieben. Zugleich hat der Erfolg der LPF die Wahlverlierer aufgeschreckt und stärkt dort die rechten Flügel. Ein Ausblick ist zur Zeit schwierig. Es sieht alles nach einer Mitte-Rechts Koalition aus CDA, LPF sowie dem Wahlverlierer VVD aus. Es bleibt abzuwarten, ob sich die LPF auf Dauer halten kann oder noch während der Legislaturperiode zerfällt. Die Ressentiments, die ihren Erfolg ermöglicht haben, werden sie, so steht zu befürchten, überdauern.

Die niederländische Parlamentswahl vom 16. Mai 2002 (Ergebnisse in Prozent)

  Ergebnis 2002 Ergebnis 1998 Diff. Sitze Altersgr.18–24 J. (1)
Wahlbeteilung 78,8 73,2 +5,6 n=150 %
CDA 28,0 18,3 +9,7 43 21
LPF 17,0 - +17,0 26 22
VVD 15,4 24,7 -9,3 24 12
PvdA 15,1 29,0 -13,9 23 9
GroenLinks 7,0 7,3 -0,3 10 11
SP 5,9 3,5 +2,4 9 9
D66 5,1 9,0 -3,9 7 6
Andere 6,5 8,2 -1,7 8 7

Anm.: CDA: Christen Democratisch Apel (Konservative); LPF: Lijst Pim Fortuyn (Rechtspopulisten); VVD (Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (Rechtsliberale); PvdA: Partij van de Arbeid (Sozialdemokraten); GroenLinks (Grüne); SP: Socialistische Partij (Sozialisten); D66: Democraten66 (Linksliberale); außer den genannten sind noch zwei weitere christliche Parteien (ChristenUnie mit 4 und Staatkundig Gereformeerde Partij mit 2 Sitzen) sowie die Partei Leefbaar Nederland (Lebenswerte Niederlande), der Fontuyn bis zu seinem Ausschluss angehörte, mit ebenfalls 2 Sitzen im Parlament vertreten.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/02

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