letzte Änderung am 11. April 2003

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Mauritius is not for sale

Nadja Rakowitz zum »African Growth and Opportunity Act«

So haben sich die Zeiten geändert: Während US-Präsident Nixon noch 1974 den ersten Premierminister der unabhängigen Republik Mauritius, Seewoosagur Ramgoolam, beim Staatsbesuch im Weißen Haus mit dem Präsidenten von Mauretanien verwechselte und sich wunderte, dass die USA Raketenbasen in einem Land hatten, mit dem sie keinerlei diplomatische Beziehungen pflegten[1], gibt es heute so enge Kontakte zwischen den USA und Mauritius, dass George Bush und Colin Powell im Januar diesen Jahres beinahe zum Second AGOA Business Forum in die Hauptstadt Port Louis gekommen wären – hätten sie nicht auf einer anderen »Baustelle« zu tun gehabt...

Auf dem Forum kamen Vertreter von 48 afrikanischen Ländern südlich der Sahara zusammen, die sich ge-mäß den Bestimmungen des African Growth and Opportunity Act (AGOA) alle zwei Jahre treffen müssen, um mit einem Vertreter der USA, diesmal dem Repräsentanten des US-Handels Robert Zoellick[2], erneut über ihre Teilnahme an diesem Zoll- und Freihandelsabkommen zu verhandeln. 30 verschiedene Gewerkschaften und linke soziale Bewegungen[3], die schon lange gegen AGOA und dessen Vorgänger kämpfen, formierten sich dagegen zum People’s Forum und veranstalteten parallel zur offiziellen Veranstaltung ein Seminar, riefen zu Protestaktionen auf und verteilten über die ganze Insel 10000 Broschüren in kreolischer Sprache, die über AGOA und die dazu gehörigen Bedingungen aufklären. Die Bewegung versteht sich explizit als Teil der Anti-Globalisierungsbewegung und als Fortsetzung der Proteste in Seattle, Genua etc.

Bei der Frage, um was es im AGOA geht, beziehe ich mich auf einen Text von Rajni Lallah, Mitglied der linken Partei Lalit (kreolisch für »la lutte«, der Kampf), der im Zusammenhang der Proteste entstanden ist, und auf einen Text von Lindsey Collen und Ram Seegobin, die ebenfalls Lalit angehören.[4] Die Berichterstattung der Tageszeitungen auf Mauritius taugt hier – wen wundert’s? – nur bedingt als Informationsquelle, da diese, wie Rajni Lallah meint, »gemäß ihrer Tradition, den mauritianischen Kapitalisten und seinem Regime nach dem Mund zu reden, es beharrlich vermieden hat, über die Konditionen von AGOA zu berichten«.

Der Köder...

Das US-Gesetzeswerk AGOA setzt die Importzölle für Waren aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara fest. Für das Jahr 2001 betraf dies Waren im Wert von insgesamt ca. sieben Milliarden US-$.[5] Damit z.B. Textilien auf dem US-Markt verkauft werden dürfen, müssen sie aus Rohmaterialien, die aus den USA oder Afrika stammen, hergestellt werden. Waren, deren Rohmaterial z.B. aus Indien, Pakistan, Malaysia oder China kommt, dürfen nicht auf dem US-Markt verkauft werden. Diese Bestimmung traf auch auf mauritianische Textilien zu, weil die Hersteller zum Teil mit billigen Rohstoffen aus Asien arbeiten. Es gibt zwei Möglichkeiten, diese Handelsbarriere zu umgehen: Entweder muss ein Land von den USA als »weniger entwickelt« bzw. »sehr arm« eingestuft werden, d.h. das Pro-Kopf-Einkommen muss unter 1500 US-$ (Stand 1998) im Jahr liegen, was für alle Länder südlich der Sahara außer Äquatorialguinea, Gabun, Mauritius, die Seychellen und Südafrika gilt.[6] Oder aber das Land muss vom US-Präsident »auserwählt« werden, unter die AGOA-Bestimmungen zu fallen – wie Mauritius. Für dortige Unternehmen, wie z.B. das größte Textilunternehmen Floréal Knitwear, bedeutet das einen 17-prozentigen Zollnachlass für seine Waren auf dem US-Markt – allerdings nur, solange dies der US-Textilindustrie nicht schadet![7] Das ist der »Köder für die Bosse« in Mauritius, in deren Namen die mauritianische Regierung den Bedingungen von AGOA zugestimmt hat – immerhin ist Mauritius der drittgrößte Pullover-Exporteur der Welt![8] Aber es gibt keinen Köder ohne einen Haken... Der Haken sind die Bedingungen, die ein Land erfüllen muss, um »auserwählt« zu werden. An diesem Haken aber wird sich die arbeitende Bevölkerung verschlucken – warnen die Linken.

... der außenpolitische Haken

Dass es sich bei AGOA um mehr handelt als bloß ein »Zoll- und Freihandelsabkommen«, wurde bei der Demonstration am 17. Januar 2003 deutlich. Denn hier wurde der Protest gegen AGOA verbunden mit dem Protest gegen den drohenden Krieg gegen den Irak. Wenn einer der Demonstranten rief: »Who let the bombs out?«, skandierten die anderen: »Bush, Blair, Bérenger...«[9] und meinten den stellvertretender Premierminister und Vorsitzenden des links-sozialdemokratischen Movement Militant Mauricien (MMM), Paul Bérenger. Als wir das letzte Mal hier im express über Mauritius berichteten, war dieser noch in der Opposition und reihte sich ein in die Proteste gegen die von der Regierung Ramgoolam eingebrachte Public Security Bill, eine Art Notstandsgesetz.[10] Schon damals waren die Linken in Mauritius diesem Verhalten gegenüber skeptisch, denn der Wahlkampf hatte begonnen, und die Chance, sich zu profilieren, war günstig, auch wenn Bérenger vorher selbst für Law and Order plädiert hatte. Heute, nach den Wahlen im November 2000, ist Bérenger stellvertretender Premierminister und mitverantwortlich für die Unterzeichnung und Fortführung der AGOA und damit auch für die Akzeptanz der daran geknüpften wirtschafts-, innen- und außenpolitischen Bedingungen. Letztere bedeuten u.a., dass die teilnehmenden Länder den außenpolitischen Kurs der USA mitzutragen haben.

Mauritius ist für die USA strategisch äußerst wichtig, weil die zu den Chagos-Inseln und damit zu Mauritius gehörende Insel Diego Garcia eine der weltweit größten Atombasen ist und immer noch unter US-Verwaltung steht. 1965 hatte die damalige Kolonialmacht Großbritannien einige Inseln aus dem Gebiet der Kolonien Mauritius und Seychellen ausgegliedert und dem neu gegründeten British Indian Ocean Territory (B.I.O.T.) zugeschlagen, um sie sich für militärische Zwecke zu sichern, bevor man Mauritius (1968) und die Seychellen (1976) in die Unabhängigkeit entließ. Die meisten Inseln des British Indian Ocean Territory wurden an Mauritius und die Seychellen zurückgegeben. Nur Diego Garcia und einige wenige Chagos-Inseln blieben unter britischer Verwaltung. 1966 verpachtete die Regierung in London Diego Garcia für 50 Jahre an die USA, die dort eine riesige, atomar ausgestattete Militärbasis errichteten. Washington gab den Briten da-für beim Kauf eines Satzes nuklearer Polaris-Raketen einen »Rabatt« von fünf Milliarden Dollar.[11] Die mehr als 1000 dort lebenden Menschen wurden zwangsweise nach Mauritius und auf die Seychellen umgesiedelt – einige kamen allerdings nie dort an. Es wird vermutet, dass sie umgebracht wurden. Bis heute darf kein Mauritianer Diego Garcia auch nur besuchen, denn die Insel ist die wichtigste Militärbasis der USA in diesem Raum und diente sowohl im zweiten Golfkrieg 1991 als auch im Afghanistankrieg als Basis für Kriegsoperationen.

Spätestens seit Dezember 2000 ist die völkerrechtswidrige Konstruktion von 1966 ins Wanken geraten. Seit einigen Jahren verweisen die ehemaligen Bewohner von Diego Garcia vor der UNO immer wieder auf die UN-Menschenrechtskonvention, nach der niemand zwangsweise exiliert und von seinem Heimatland entfernt gehalten werden darf. Die Nichtpaktgebundenen[12] bekräftigten 1992 auf ihrem Gipfel in Jakarta ihre »volle Unterstützung für die Souveränität von Mauritius über den Chagos-Archipel, einschließlich Diego Garcia« und forderten die frühere Kolonialmacht auf, den Archipel zurückzugeben. Das Oberste Gericht in London hat im Dezember 2000 die Unrechtmäßigkeit der Zwangsumsiedlung und das Rückkehrrecht der Bewohner Diego Garcias anerkannt. Praktische Konsequenzen hatte das Londoner Urteil allerdings bisher nicht, denn die Entscheidungsgewalt über Diego Garcia und seine Einwohner liegt längst in Washington.[13] Heute sind auf Diego Garcia B52-Bomber und B2-Stealth-Bomber der Air Force stationiert[14], und so, wie die weltpolitische Lage sich den Regierenden der USA darstellt, werden diese den Stützpunkt so schnell nicht auf- und zurückgeben.

Der Zusammenhang zwischen Diego Garcia und AGOA lässt sich an folgenden Ereignissen ablesen: Kurz nachdem die Regierung von Mauritius ihre Forderung wiederholt hatte, dass Diego Garcia an Mauritius zurückgegeben werden solle, fand der US-Zoll Gründe, dass Textilien aus Mauritius nicht mehr unter AGOA fallen und deshalb nicht mehr zollfrei in die USA eingeführt werden konnten. Nachdem im August 2002 dann der mauritianische Staat die Bombardierung Afghanistans im UN-Sicherheitsrat – gegen großen Widerstand im eigenen Land – unterstützte, galten plötzlich die AGOA-Bestimmungen für mauritianische Textilien wieder. Heute gehört es zu den AGOA-Bedingungen, dass der Irak-Kurs der USA unterstützt werden muss. Soweit zu den notwendigen Hintergrundinformationen, um das Freihandelsgesetz AGOA und die Massivität des Protests der Linken dagegen verstehen zu können.

... der historische Haken

Anfang der 90er Jahre änderten die USA ihre Afrikapolitik; man wollte Afrika nicht mehr länger den ehemaligen Kolonialmächten – vor allem Großbritannien und Frankreich – als Markt überlassen und verfolgte dabei zwei Ziele: ein wirtschaftspolitisches und ein militärisches. Zum einen ging es darum, multinationalen Konzernen den Zugang zu bzw. größere Marktanteile auf dem afrikanischen Markt – vor allem für Rohstoffe wie Gold, Öl, Kupfer und Diamanten – zu verschaffen; zum anderen ging es darum, einen stärkeren militärischen bzw. außenpolitischen Rückhalt in Afrika zu finden.[15] Seither wird versucht, über ein umfassendes »Freihandelsgesetz«, gekoppelt an entsprechende politische Konditionen, beides zu verbinden. Dieses Gesetz musste zunächst verschiedene Hürden überwinden, wurde abgelehnt im Kongress, immer wieder modifiziert und mit immer neuen Namen erneut verhandelt: Zunächst hieß es unter Bill Clinton Africa Bill, dann African Growth and Opportunity Bill, Africa Act oder Trade and Tariff Act. Mit der endgültigen Verabschiedung im Jahr 2000 bleibt es bis jetzt bei African Growth and Opportunity Act. Mit diesem US-Gesetz wird der afrikanische Kontinent zunächst aufgeteilt in eine Zone nördlich und eine südlich der Sahara, die von der Weltbank »Sub-Saharan-Africa« genannt wird und die Kritiker in den verschiedenen Ländern an Kolonialzeiten erinnert, wo im »Berliner Abkommen« (1884) der Kontinent unter den verschiedenen Kolonialmächten aufgeteilt wurde. (Vgl. Collen/Seegobin, S.1) Es werden zwar 48 Länder in dem Gesetz namentlich erwähnt, aber bis September 2008 liegt es am US-Präsidenten, alle zwei Jahre zu entscheiden, für die Waren und Dienstleistungen welchen Landes er den US-Markt öffnen will. Im Moment gehören 36 Länder dieser Zone zu den »auserwählten«.[16]

Rajsoomer Lallah, Mitglied des UN-Menschenrechtskomitees, sieht deshalb durch AGOA die Souveränität der afrikanischen Länder gefährdet. In einem Interview mit der mauritianischen Zeitung L’Express sagte er: »AGOA ist kein multilaterales Abkommen, sondern ein internes Gesetz der USA. Es autorisiert den US-Präsidenten, nach seinem Belieben auf Grund von bestimmten Kriterien Länder auszuwählen oder nicht, die in den Genuss der Vorzüge von AGOA kommen. Es ist nicht die Frage, ob ein Land südlich der Sahara AGOA beitritt oder nicht, wie es behauptet wurde. Ich frage mich, in welchem Artikel unsere Verfassung in politischen oder ökonomischen Fragen wie z.B. der Privatisierung oder der Abschaffung kontrollierter Preise die Unterwerfung der Amtsausübung der Exekutive unter eine ausländische Macht erlaubt. Nichtsdestotrotz sind wir ein Volk (un peuple, N.R.) und haben eine Verfassung, ein Grundgesetz. Wir können unsere Rechte nicht einfach an die USA delegieren! Ich kann Unrecht haben, aber für mich ist AGOA Ausdruck des Wunschs der US-Regierung, ihren ökonomischen und politischen Einfluss auszuweiten auf die Region südlich der Sahara.«[17] Auch Rajni Lallah verweist darauf, dass AGOA kein multilaterales Abkommen zwischen den USA und den afrikanischen Staaten, sondern ein US-Gesetz ist, das vom US Kongress verabschiedet wurde und für die afrikanischen Staaten den Charakter einer extra-territorialen Gesetzgebung hat.

So berechtigt die Empörung über diese Politik allerdings ist, sie ist auch ein wenig naiv gegenüber bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen, denn sie unterstellt die politisch-staatliche Souveränität als jene, die auch die Gesellschaft bestimmt – verwechselt die Form mit dem Inhalt. Solange der Export in den US-Markt für Entwicklungsländer – real oder fiktiv – von entscheidender Bedeutung für die ökonomische Entwicklung ist, steht der politischen Souveränität immer die ökonomische Abhängigkeit und damit ihre Erpressbarkeit gegenüber.

... der wirtschaftspolitische Haken

»Der Präsident ist dazu bevollmächtigt, ein Land südlich der Sahara als berechtigtes zu bestimmen, wenn der Präsident bestimmt, dass das Land eine Marktwirtschaft etabliert hat oder kontinuierliche Fortschritte macht bei der Herstellung einer Marktwirtschaft, die das Recht auf Privateigentum schützt, verbunden mit freiem Handel und wenig Einmischung der Regierung in die Wirtschaft, z.B. durch Maßnahmen wie Preiskontrollen, Subventionen und staatseigenes Kapital.« (AGOA, Abschnitt 104, Auswahlkriterien, vgl. Lallah, S.5)

Damit müsse, so Lallah, die gesamte Wirtschaft einschließlich öffentlicher Aufgaben privatisiert werden und soziale Leistungen wie Gesundheit, Bildung, Renten, aber auch die Versorgung mit Wasser, Elektrizität, Telekommunikation, der Öffentliche Transport etc. müssten zu Waren gemacht werden. Alle bisherigen Maßnahmen, den Reichtum umzuverteilen und die soziale Ungleichheit der Klassen wenigstens einzudämmen, wie z.B. Unternehmenssteuern, Kapitalsteuern etc., könnten dann vergessen werden. Selbstredend gehört dazu dann auch die Forderung nach der Aufhebung aller Preiskontrollen für Grundnahrungsmittel. Ein vollständig »freier«, liberalisierter Markt, auf dem alles in der Hand privater Unternehmen wäre, wie es IWF und Weltbank von der mauritianischen Regierung seit den 70er Jahren fordern, wurde und wird allerdings von der starken linken Opposition – einschließlich der Gewerkschaften – bislang so sehr bekämpft, dass es der Regierung nicht gelang, die Forderungen nach Totalprivatisierung umzusetzen. Auch wenn der Öffentliche Sektor, so Lallah, weit davon entfernt ist, im Eigentum der Bevölkerung zu sein und von ihr kontrolliert zu werden, verteidigt Lallah die, wenn auch auf’s äußerste begrenzte, demokratische Form der Kontrolle durch die Regierung und ihre Bürokratie gegenüber der völligen Privatisierung.

Für die Linke in Mauritius ist klar, dass Privateigentum bzw. Privatisierung des öffentlichen Sektors nicht mehr Freiheit, sondern Entdemokratisierung bedeutet, die im Zusammenhang der Kolonialgeschichte vieler Gesellschaften Afrikas besonders heikel ist: »Das ist eine Form der Enteignung unseres kollektiven Erbes. In afrikanischen Ländern war der Ausbau des öffentlichen Sektors ein Mittel der Entkolonisierung, um ausländische Unternehmen und deren Regierungen davon abzuhalten, strategisch wichtige Sektoren der Wirtschaft zu kontrollieren und alle Gewinne wegzuzaubern. Die Privatisierung macht den historischen Fortschritt der Entkolonisierung wieder zunichte und setzt die afrikanischen Länder wieder einer Re-Koloni-sierung aus.« (Vgl. Lallah, S.5)[18]

Die im AGOA enthaltene Forderung, Subventionen auf Grundnahrungsmittel wie Reis und Mehl, auf Medizin, Impfstoffe, empfängnisverhütende Mittel, Subventionen für kleine Bauern, für Fischer etc., die zum Leben für viele Menschen in Afrika unerlässlich sind, zu streichen, wird von den Kritikern in den gleichen Zusammenhang gestellt. Diese Subventionen waren genauso wie bestimmte protektionistische Maßnahmen zum Schutz der lokalen Produktion, die jetzt abgeschafft werden sollen, Teil der selbständigen Politik dieser Gesellschaften nach ihrer Unabhängigkeit. Gegenüber Deregulierung und Liberalisierung à la AGOA werden sie als Errungenschaften von den Linken zunächst auch verteidigt. Was sich dann für uns leicht nach Standortlogik anhören könnte, stellt sich hier, in einer Gesellschaft mit jahrhundertelanger Kolonialgeschichte und in einer Lage, in der diese eher Objekt denn Subjekt imperialistischer ökonomischer Strategien ist, anders dar. Die Linken in Mauritius verstehen es, ihre Kritik an einer radikalen Öffnung der mauritianischen Ökonomie für den Weltmarkt und ihre Verteidigung der lokalen Wirtschaft so zu diskutieren, dass dabei die mauritianische Gesellschaft als Klassengesellschaft sichtbar bleibt (oder wird) und die einheimische Bourgeoisie entsprechend kritisiert und bekämpft wird.

Letztere ist natürlich interessiert an der Durchsetzung des AGOA, weil ihr bzw. ihren Waren damit der US-Markt geöffnet wird und sie durch den ökonomischen Druck, der dadurch noch zunimmt, die starke Arbeiterbewegung in ihre Schranken verweisen kann. Diese wurde vor die Entscheidung gestellt, neuen, schlechteren Arbeitsbedingungen zuzustimmen, anderenfalls werde die Produktion nach Madagaskar verlegt. Dort sind nicht nur die Löhne niedriger, auch die Gewerkschaften sind dort nicht annähernd so mächtig wie in Mauritius. Das größte und älteste Textilunternehmen Floréal Knitwear hat deshalb bereits 40 Prozent seiner Produktionsstätten nach Madagaskar verlegt und begonnen, Arbeiter und Arbeiterinnen zu entlassen. Andere Fabriken folgten, und rund 100000 Arbeitsplätze in den Free Production Zones auf Mauritius sind bedroht.[19]

Nachdem es in Madagaskar im Umfeld der Präsidentenwahl politische Unruhen gegeben hatte, schien diese Option für die mauritianischen Kapitalisten zunächst nicht mehr zu bestehen. Doch bei der AGOA-Konferenz im Januar in Port Louis versuchten die Lobbyisten aus Madagaskar und Tansania erneut, mauritianische Unternehmen dazu zu bringen, ihre Produktion zu verlagern. Ähnlich wie für das westeuropäische Kapital ist es für das mauritianische viel lukrativer, die Produktion in Gesellschaften mit weniger ausgeprägten sozialstaatlichen Regulierungen zu verlagern. Für die politischen Eliten und die mauritianische Bourgeoisie heißt das, es gibt wieder einen Anlass, ein »armes Land« zu werden...

AGOA – ein Instrument der herrschenden Klassen in den USA wie in Mauritius

Für die Linke in den Ländern südlich der Sahara ist klar, dass sie ihren Widerstand gegen AGOA fortsetzen wird. Für Lindsey Collen und Ram Seegobin ist AGOA ein gutes Beispiel, wie heutzutage kapitalistische Globalisierung funktioniert: »Der US-Kongress verabschiedet ein Gesetz; dieses ermöglicht steigende Profite für Kapitalisten in den USA und in Mauritius; das macht es durch eine Politik, die vom Staat Mauritius durchgesetzt wird; und all das direkt auf Kosten der arbeitenden Menschen in Afrika, die das alles zu bezahlen haben, in Form der Bedingungen, die ihren Lebensstandard beschneiden, sie ihrer Menschenrechte berauben und ihre winzige demokratische Stimme, die sie sich in den vergangen Kämpfen errungen haben, noch mehr vermindern.«[20] Rajni Lallah schließt seinen Text mit den Worten: »Wir müssen weitermachen zu erklären, was AGOA wirklich ist: ein Instrument des US-Imperialismus. Zugleich müssen wir die Rolle der herrschenden Klassen in Afrika erläutern, die AGOA benutzt, um die Menschen in Afrika unseres kollektiven Eigentums, unserer ökonomischen, sozialen, bürgerlichen und politischen Rechte und unserer Souveränität zu berauben.« (Lallah, S.9)

Es wird Zeit, dass wir in Europa davon Kenntnis nehmen und den Protest gegen AGOA unterstützen.

 

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3/03

Anmerkungen:

1) Vgl. Jean-Claude de l’Estrac: »De Nixon à Bush«, in: l’express, 12. Februar 2003 (www.lexpress-net.com)

2) Robert Zoellick, Repräsentant des US-Handels, betonte: »Wir wollen nicht, dass die Afrikaner aufgerufen sind, zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zu wählen. Wir wollen einfach nur den Menschen des afrikanischen Kontinents mehr Möglichkeiten geben. Das muss eine Win-Win-Situation werden.« Vgl. Nad Sivaramen: Cuttaree et Zoellick soulignent surtout le »succès« du Forum, in: l’express, 19. Januar 2003

3) Dazu gehören z.B.: »General Workers’ Federation«, »Féderation des Syndicats de Corps Constituées«, »Muvman Liberasyon Fam«, »Lalit«, »Ledikasyon pu Travayer«, »Muvman Lakaz«, »Mauritius Labour Congress« und viele andere mehr.

4) Rajni Lallah: »Welcomed by the bourgeoisie in South Africa and Mauritius. AGOA – an instrument of the US ruling class«, der Text ist erschienen in dem von »Lalit« geschriebenen und 2002 von »Ledikasyon pu Travayer« (LPT) herausgegebenen Buch: »Diego Garcia in Times of Globalisation«; Lindsey Collen/Ram Seegobin: »Bait for bosses, movernment bites, hook for the people – AGOA: The Sting«, 2002, beide zu finden in: www.labournet.de/internationales/mu/

5) Arianne Navarre-Marie: »La société civile doit agir comme chien de garde«, in: Le Mauricien, 13. Januar 2003

6) Obwohl das BIP pro Kopf dort offiziell höher als 1500 US-$ liegt, wurden Botswana und Namibia in AGOA II trotzdem als wenig entwickelt eingestuft. Wer arm ist in Afrika, bestimmt eben der US-Präsident! Vgl. Lallah, S. 6

7) Vgl. AGOA, Abschnitt 112 (3) C, in: Lallah, S. 7

8) Vgl. Ram Etwareea: Insel im Meer der Armut, in: NZZ Folio, 05/2002

9) Vgl. Nad Sivaramen: Anti-AGOA – L’autre son de cloche, in: l’express, 19. Januar 2003

10) Vgl. Ralf Kliche/Nadja Rakowitz: »Riots can bring progress for the people«. Gewerkschaften, Parteien und politisches Mandat auf Mauritius, in: express Nr. 1/2000, S. 13

11) Vgl. Jochen Reinert: »Diego Garcia – Startbahn für Antiterrorbomber«, in: Neues Deutschland, 24. Juni 2002

12) Der 1961 gegründeten Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten (Blockfreie) gehören derzeit 113 Länder an. Initiatoren waren Indiens damaliger Premier Nehru, die Staatschefs Ägyptens und Jugoslawiens, Nasser und Tito sowie Indonesiens Präsident Sukarno.

13) Vgl. Reinert – Im Dezember 2002 kündigte die Regierung von Mauritius an, vor dem Internationalen Gerichtshof die Rückgabe einiger Inseln einzuklagen. Vgl. www.netzwerk-afrika-deutschland.de

14) Vgl. IRAK-Dossier der Frankfurter Rundschau, 12. Februar 2003

15) Vgl. James Dao in: New York Times, 19. September 2002

16) Nicht dazu gehören: Angola, Burundi, Republik Kongo, Äquatorialguinea, Gambia, Liberia, Togo, Zimbabwe und Burkina Faso, letzteres weil es »regional keine hilfreiche Rolle gespielt hat, was die Stabilität und US-amerikanische außenpolitische Interessen untergraben hat«, so Präsident Bush im »May 2002 AGOA report«. Vgl. Rajni Lallah, Welcomed by the bourgeoisie, a.a.O., S. 3

17) L’Amérique tient à exercer ses pouvoirs de superpuissance, Interview mit Rajsoomer Lallah, in: l’express, 19. Januar 2003

18) Eine ähnliche Politik verfolgen auch andere ehemalige Kolonialmächte, wie etwa Frankreich z.B. im Senegal.

19) Auch wenn es sich hierbei um Sonderzonen mit Sonderbedingungen handelt, die es auch in anderen Ländern gibt, ist es den Arbeitern in den FPZ in Mauritius gelungen, sich gewerkschaftlich zu organisieren und die Arbeitsbedingungen dort – entgegen der Zusagen an die Unternehmer durch die mauritianische politische Klasse – in ihrem Sinne zu verbessern. Eine Verlagerung in FPZ anderer Länder würde deshalb eine Verschlechterung für die Beschäftigten bedeuten.

20) Lindsey Collen/Ram Seegobin: »Bait for bosses«, a.a.O., S. 5

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