letzte Änderung am 11. Juli 2002

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Beschaulich – für Sud-Verhältnisse

Stefanie Hürtgen berichtet vom fünften Kongress der »SUD/PTT«

Nein, so richtig spannend war der fünfte Kongress der Gewerkschaft »SUD/PTT«[1] in Batz-sur-mer vom 27.-31. Mai 2002 nicht. SUD, das steht für »solidaire unitaire démocratique« und ist in Frankreich seit 1989 das Siegel für einen alternativen Gewerkschaftsansatz, der sich sowohl einem basisdemokratischen wie auch einem auf soziale Bewegungen ausgerichteten Politikverständnis verpflichtet.[2] Mehr als 15000 Mitglieder hat die SUD von Post und Telecom derzeit, zwei Drittel davon bei der (staatlichen) Post, ein Drittel bei der (mittlerweile privatisierten) französischen Telecom. Das ist nicht wenig – immerhin ist SUD in beiden Unternehmen jeweils die zweitstärkste Gewerkschaft –, doch an eine euphorische Bilanz denkt auf dem Kongress kaum einer: »Wir befinden uns gerade an einem Wendepunkt«, so ein führendes SUD-Mitglied aus Paris. »Nach der Aufbruchsphase, nach dem Wachstum kommt jetzt die Desillusionierung: Wir sind zwar mehr geworden, und wir konnten eine Reihe von Verschlechterungen aufhalten, verlangsamen, einige Dinge abfedern und abmildern. Gut, wir konnten auch Diskussionen und Debatten in der Öffentlichkeit bestimmen, aber man muss ganz klar sagen: Wir haben nicht eine einzige unserer prinzipiellen Forderungen durchgebracht: Weder den Stop der Privatisierung der Telecom, noch Lohnforderungen, noch die Angleichung des Statuts der prekär und nach Privatrecht Beschäftigten an das der Bessergestellten im Öffentlichen Dienst«.. Und in einem der vielen von den Regionalgruppen vorbereiteten Papiere kann man lesen: »Gibt es nicht eine Tendenz, auch unter uns, sich in sich zurückzuziehen in dieser Zeit, wo wir nicht fähig sind, siegreiche Kämpfe zu führen?«

Nicht, dass es unter den 400 Delegierten aus allen Regionen Frankreichs keine Meinungsverschiedenheiten gegeben hätte. So war ein Streitpunkt die Frage des Verhältnisses der SUD-Gewerkschaften zu den »globalisierungskritischen Bewegungen«, namentlich zu attac. Während die einen das Zusammengehen von SUD und attac im Kampf gegen die »liberale Globalisierung« beschworen, insistierten andere auf dem teilweise unklaren Charakter der »Anti-Globalisierungsbewegung«: »Es geht gar nicht darum, sich nicht an diesen Bewegungen zu beteiligen, im Gegenteil«, so eine Postangestellte aus der Auvergne. »Nicht zufällig war Sud ja auch Mitbegründer von attac. Aber zwischen der Forderung nach einer Tobin-Steuer und einer Politik der sozialen Transformation, wie sie SUD für sich beansprucht, besteht für mich ein Unterschied. Wir können gern attac beitreten, aber wir dürfen unsere eigenen sozialen Forderungen und antikapitalistischen Programme nicht aus den Augen verlieren.« Vergleichbar der Tenor auch in einigen Pausengesprächen, z.B. unter den Delegierten aus dem Elsass: »Natürlich kann man Mitglied von attac werden, man muss nur wissen, warum und was man da machen will. Und dazu wiederum muss man wissen, was die da machen. Und das ist oft etwas unklar. Ehrlich gesagt hab ich den Eindruck, dass dort diejenigen dominieren, die viel von Globalisierung, aber nur wenig von Kapitalismus reden. Aber wir sind da unter uns selbst uneins.« Pragmatisch einigte man sich schließlich auf die Formulierung, die Bewegung gegen die »liberale Globalisierung« mehr noch als bisher in die Betriebe tragen zu wollen.

Ähnlich gelagert war auch der kurze Disput über den Europäischen Gewerkschaftsbund: Ist dieser – was ein Teil der Delegierten vertrat – systematischer Bestandteil der derzeitigen Liberalisierungspolitik der EU, oder soll man ihn zwar kritisieren, aber als bisher einzige funktionierende europäische Gewerkschaftsstruktur anerkennen, um sich nicht in »Sektierertum« zu verlieren?

Nein, an konträren Meinungen und inhaltlicher Konfrontation mangelte es nicht, ebenso wenig an vorwärtsweisenden, programmatischen Formulierungen und Grundsätzen, wie das Eintreten für feste Lohnerhöhung (im Gegensatz zur prozentualen), auf das sich die Delegierten mit großer Mehrheit verpflichteten, oder der Kampf nicht nur zur »Verteidigung«, sondern vielmehr auch zur »Demokratisierung« und zum »Umbau« des Öffentlichen Dienstes zu Gunsten einer Nutzung durch alle, auch der armen und »ausgeschlossenen« BürgerInnen.

Doch insgesamt gab es wenig Aufregung. Ein Umstand, der einem Teil der Anwesenden gefiel, weil nicht mehr das »Chaos« des letzten Mals herrsche. Damals, auf dem Kongress vor drei Jahren, hatte ein Teil der gewählten und freigestellten Delegierten versucht, das im Statut verankerte Rotationsprinzip abzumildern und beantragt, dass man ihnen »ausnahmsweise« eine Verlängerung der Höchstzeit ihrer Freistellung gewähre – ein Anliegen, das bei vielen Delegierten Empörung hervorgerufen hatte und mit großer Mehrheit abgelehnt worden war. Aber die geordnete Ruhe dieses Mal sorgte bei vielen auch für Unzufriedenheit. Die-se Delegierten beklagten den Mangel an Austausch über politische Orientierungen. Grundsätzliche Fragen würden nur gestreift, nicht vertieft, ganze Themenbereiche fielen unter den Tisch. Mehrmals wurde der Antrag gestellt, die Tagesordnung zu ändern, um eine Diskussion über die aktuelle politische Entwicklung (z.B. über den Aufstieg des rechtsradikalen »Front National« bei den Präsidentschaftswahlen) zu ermöglichen, allerdings blieben die Antragsteller mit immerhin einem Drittel der Stimmen in der Minderheit. Die eingeforderte Diskussion sei nicht ausreichend vorbereitet, hieß es. Die Unterlegenen ließen dieses Argument nicht gelten. Sie sahen in den stark vorstrukturierten Debatten und ihrer Konzentration auf das gewerkschaftsinterne Prozedere vielmehr eine Gefahr des Stillstands und begründeten in einem vor Ort verfassten Papier die unbedingte Notwendigkeit offener politischer Diskussionen:

»Wir brauchen eine Klarheit über unsere Divergenzen und unsere Gemeinsamkeiten, um ein neues »tous ensemble« [«alle zusammen«, S.H.] zu erreichen. Wenn wir von »tous ensemble« sprechen, haben wir einen Generalstreik vor Augen, auch wenn der sich natürlich nicht in einigen Tagen, Wochen oder Monaten herstellen lässt. Aber es ist notwendig, heutige Forderungen in der Perspektive größerer Kämpfe zu Fragen der Privatisierung, der Löhne oder der Rentenvorsorge zu verorten. Nicht zuletzt die Erfahrung von 1995 [mehrwöchiger Streik im Öffentlichen Dienst, S.H.] zeigt, dass es jenseits einer gelungenen Mobilisierung notwendig ist, im Moment, wo eben diese Mobilisierung anwächst, über eigene, bereits von uns hergestellte Strukturen (Netzwerke) und weitergehende Überlegungen (Forderungen) zu verfügen. Wenn wir jetzt auf eine Klärung über das Verständnis der aktuellen politischen Situation verzichten, werden wir uns im entscheidenden Moment und unvorbereitet mit einer internen Krise konfrontiert sehen...«

Braucht man immer, braucht man jetzt eine politische Grundsatzdiskussion? Nicht wenige auf dem Kongress betonten demgegenüber die Notwendigkeit, das »Alltagsleben« der Gewerkschaft zu verbessern, nicht zuletzt um attraktiver für potentielle Mitglieder zu werden. Zugleich schienen aber auch für die »Alltagsarbeit« weitere inhaltliche Klärungen angebracht, bspw. wenn es um die Frage gemeinsamer gewerkschaftlicher Aktionen von prekär und nach Beamtenrecht Beschäftigten ging. Rund ein Drittel der Belegschaft der Post, das sind ungefähr 100000 Menschen, arbeitet derzeit in mehr oder minder prekären Arbeitsverhältnissen. Keine Frage für die Delegierten, diese Situation soll verändert, die Gleichheit von Lohn- und Arbeitsbedingungen manifestiert werden. Nur wie, mit welchen Forderungen lässt sich eine tatsächliche Einheit zwischen den so unterschiedlich situierten Beschäftigten herstellen? Während dieser Diskussion kam wohl die meiste Spannung des gesamten Kongresses auf. »Ich bin vor sieben Jahren aus der CGT ausgetreten, weil die sich für die dreckigen Jobs in den kleinen Unternehmen nicht interessiert hat. Ich bin zur SUD gegangen, weil die sich auf die Fahnen geschrieben hat, gerade mit uns zu arbeiten. Aber ich muss sagen: Die Stimmung ist mies. Man hat den Eindruck, dass wir immer in der zweiten Reihe stehen«.. Die junge Frau, die in einem ausgegliederten Privatunternehmen der Telecom arbeitet, betont die Streikbereitschaft der »Vertragsbeschäftigten«. Die Leute hätten die Schnauze voll, wollten mehr Lohn, wollten einen Streik. Das wird aus anderen Regionen bezweifelt, dort sei eher Angst und Müdigkeit zu vermerken, und überhaupt: es ginge doch um die Einheit der Belegschaft, auch die Beamten müssten sich in den Forderungen wiederfinden. Mit dieser Einheit sei es bisher nicht weit her, wurde entgegnet. Beim letzten Streik in Toulouse hätten sich 80 Prozent Vertragler und nur 30 Prozent Beamte beteiligt. Nun wolle man selbst aktiv werden und die Richtung vorgeben. Sofort war man auch bei Grundsatzfragen: Ist der »Kampf gegen die Privatisierung« die Priorität von Sud, oder »der Kampf gegen die Prekarität«?

Mit großer Mehrheit entschieden die Delegierten schließlich, am 20. Juni 2002 einen Streik zur Lohnerhöhung der prekär Beschäftigten durchzuführen. Das, so ein Teil der Anwesenden, könne aber nur der Anfang einer längeren Kampagne zur massiven »Titularisierung« der Prekären sein. Die Angleichung der Arbeitsbedingungen müsse als längerfristige politische Forderung zur Verbindung zwischen den unterschiedlichen Kategorien von Beschäftigten Priorität bekommen. Anderen Delegierten waren solche Äußerungen erneut zu viel »Illusionierung« und »Polemik«. Weitere »grundsätzliche Diskussionen« sind also vorprogrammiert; die deutlich sichtbaren Spannungen und Divergenzen wurden nicht ausgetragen. Denn der Kongress war dieses Mal ruhig, fast beschaulich – für SUD-Verhältnisse wohlgemerkt. Denn von dem Niveau der dortigen Diskussionen sind die offiziellen bundesdeutschen Gewerkschaftsdebatten nach wie vor weit entfernt.

P.S.: Der Streik der befristet Beschäftigten am 20. Juni war kein überwältigender Erfolg, allerdings auch keine Niederlage: Die Streikbeteiligung lag landesweit bei 10 Prozent, und das reichte nicht, um auf die magere Lohnerhöhung von 1,5 Prozent noch weiter Einfluß zu nehmen. Allerdings fand der Streik und seine klassische wie überzeugende Forderung: »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!« ein recht großes und positives Echo in der Öffentlichkeit. Moralisch gestärkt planen SUD/PTT und die in ihr organisierten prekär Beschäftigten weitere Aktionen im Herbst.

 

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/02

Anmerkungen:

1) Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass es sich hierbei um einen Kongress der SUD/PTT (Post) und der SUD/Telecom handelte, und die hier geschilderten Diskussionen nicht unbedingt auf die anderen Sud-Gewerkschaften übertragen werden können.

2) Vgl. den Artikel von Werner Imhof: Un syndicalisme différent, im express Nr. 4/2002

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