letzte Änderung am 11. Juli 2002

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Fiesta española?

Holm-Detlev Köhler* über den Generalstreik, die Gewerkschaften und die »Reform« der Arbeitslosenversicherung in Spanien

Ruhiger als am Totensonntag, kaum Verkehr, geschlossene Geschäfte, Kneipen und Betriebe, praktisch keine öffentlichen Verkehrsmittel und nur wenige ‘Notdienst’-Taxis, geschlossene Schwimmbäder und Museen, im Fernsehen vorfabrizierte Programme und Filme – so sah es an einem hochsommerlichen Donnerstag in fast ganz Spanien aus. Die wenigen Zwischenfälle ereigneten sich vor allem an den Portalen der großen Einkaufszentren, wo Polizisten die Öffnung gegen die Streikposten durchsetzten, sich jedoch kein regulärer Geschäftsbetrieb entwickeln konnte. Die meisten Spanier blieben schlicht zu Hause oder fuhren in ihren privaten Pkws an den Strand; immerhin etwa eine Million beteiligte sich an den vielen Protestmärschen gegen die Regierungspolitik. Generalstreik in Spanien hat für manche immer noch den revolutionären Beiklang aus den ersten Jahrzehnten des XX. Jahrhunderts, doch die wenigen noch lebenden Aktivisten aus dieser Zeit verspotten die Generalstreiks von heute als »kollektive Feiertage« oder »organisierte Massenspaziergänge«.

Am 20. Juni wurde zum fünften Mal im postfrankistischen Spanien und zum ersten Mal gegen die konservative Volkspartei-Regierung José María Aznars (seit 1996 im Amt) ein Generalstreik gegen ein Gesetzesvorhaben durchgeführt. Anlass war ein Reformgesetz, welches einige Aspekte der Arbeitslosenversicherung restriktiver regelt. Die wichtigsten Verschärfungen sind zum ersten der Freibrief für die Arbeitsämter, »zumutbare Arbeitsplätze« für registrierte Arbeitslose festzulegen und dabei auch 30 km vom Wohnort entfernte (im ersten Entwurf waren es 50 km), nicht der Qualifikation und dem letzten Lohnniveau entsprechende Jobs einzubeziehen. Wer einen solchen Job nicht annimmt, verliert das Recht auf Arbeitslosengeld. Die zweite Maßnahme bedroht die Sonderbedingungen der südspanischen Landarbeiter, für die bisher spezielle Regelungen zur Überbrückung der langen Phasen saisonbedingter Arbeitslosigkeit galten, gekoppelt mit lokalen Beschäftigungsprogrammen. Sie sollen nun in ein neues, allgemeines, restriktiveres Arbeitslosenregime für Landarbeiter überführt werden. Die sicherlich schwerwiegendste Maßnahme besteht in der Streichung der Pflicht zur Lohnfortzahlung im Falle unberechtigter Kündigungen. Ein Entlassener, der gegen seinen Rausschmiss klagt und nach sechs Monaten gewinnt, erhält zwar wie bisher eine Abfindung, aber für diese sechs Monate keinen Lohn mehr, sondern Arbeitslosengeld, verliert also Einkommen, Sozialversicherungsbeiträge und Anspruchsmonate auf Arbeitslosengeld. Ungerechtfertigte Kündigungen werden so zur Billigware, und jeder Willkürakt eines Arbeitgebers verwandelt automatisch den betroffenen Arbeitnehmer in einen Arbeitslosen ohne Beschäftigtenrechte.

Nun unterscheidet sich dies zunächst nicht weiter von der üblichen konservativ-neoliberalen Politik, die sich auch unter ‘New Labour’ in Europa durchgesetzt hat, ohne dass man dabei irgendwo mit einem Generalstreik rechnen müsste. Und auch sonst scheint das politische Klima auf den ersten Blick viel entspannter als beispielsweise unter der extremistischen Berlusconi-Regierung, die sich ebenfalls gewerkschaftlichen Generalstreikaufrufen gegenüber sah. Zudem wächst die spanische Wirtschaft seit Jahren und schafft zusätzliche, wenn auch nicht genügend und überwiegend nur prekäre Arbeitsplätze. Wo also liegt der Grund für eine scheinbar drastische Reaktion gegenüber einem eher unspektakulären Gesetzesvorhaben?

Eine Ursache liegt in dem faktischen Regierungswechsel 2000. Vorher hatte die Volkspartei Aznars eine Minderheitsregierung gestellt, die mit mehreren regionalistischen Gruppen, insbesondere der katalanischen Partei CiU (Convergencia i Unió), ihre parlamentarischen Mehrheiten aushandelte. Gerade in der Arbeitsmarktpolitik kam es zu einem im Vergleich zu den sozialistischen Vorgängerregierungen ‘flüssigeren’ »sozialen Dialog« und zu ‘konzertierten’ Gesetzen. In den vergangenen beiden Jahren unter absoluten Mehrheitsverhältnissen dagegen wurde eine erste Arbeitsmarktreform ohne Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände erlassen, gefolgt von einem Hochschulgesetz, das gegen den Widerstand aller hochschulpolitischen Gruppen, von Studenten bis Rektoren, durchgesetzt wurde. Mehrere Wochen streikten die Hochschulen dagegen erfolglos. Es folgte ein neues Bildungsgesetz – abermals gegen alle betroffenen Interessengruppen, die zur Zeit gegen dieses Gesetzesvorhaben mobilisieren, ohne von der Regierung gehört zu werden. Die Stoßrichtung dieser Gesetze zielt stets auf eine Stärkung der privaten Bildungseinrichtungen und eine stärkere und frühere Selektion und Elitebildung. Dabei handelt es sich jedoch keineswegs um grundlegende, einschneidende Radikalreformen, sondern eher um kleinkrämerische Flickschusterei ohne jegliches Fingerspitzengefühl. In Spanien findet derzeit also ein beinahe vulgärer Machtkampf zwischen einer immer autoritärer und selbstherrlicher agierenden Regierung und den organisierten gesellschaftlichen Interessengruppen statt, wobei die Tatsache, dass viele dieser Interessengruppen im Bildungs- und Gewerkschaftsbereich stark von den Oppositionsparteien PSOE (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei) und IU (Vereinte Linke) beeinflusst sind, sicherlich konfliktanheizend wirkt.

Der wesentliche Grund für den Generalstreik liegt also in dem Versuch der Gewerkschaften, gegenüber dem autoritären Regierungsstil ihre Stellung als politischer Verhandlungspartner zu behaupten. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch die Terminwahl einen Tag vor dem EU-Gipfel in Sevilla zu sehen. Man wollte das Ansehen der Regierung vor den europäischen Staatsmännern schwächen und dazu die Synergieeffekte mit den Protestaktionen der Globalisierungskritiker nutzen. Diese sind in den letzten Jahren viel eher als die Gewerkschaften in der Lage gewesen, Massenproteste auf die Beine zu stellen. Während des EU-Gipfels organisierten sie ein alternatives Sozialforum, und am 21. Juni demonstrierten in Sevilla, ähnlich wie vor Monaten in Barcelona, ca. 100000 GlobalisierungsgegnerInnen.

Wer sind die spanischen Gewerkschaften zu Beginn des XXI. Jahrhunderts? Im Kern handelt es sich um den sozialistischen Dachverband UGT (Unión General de Trabajadores) mit ca. 800000 Mitgliedern und die postkommunistischen Arbeiterkommissionen CC.OO. (Comisiones Obreras) mit etwa 900000 Mitgliedern, die sich etwa 75 Prozent der spanischen Gewerkschaftsmitglieder und Betriebsratssitze teilen. Gewerkschaftspolitische Unterschiede bestehen heute kaum noch, und die Rivalität zwischen beiden Organisationen dreht sich mehr um Einfluss und Betriebsratswahlkämpfe. In den CC..OO. gibt es einige kritische und konfliktorientiertere Minderheiten, die dem moderaten Vorstand zeitweise das Leben schwer machen und wesentlich an der Mobilisierung des Generalstreiks beteiligt waren. Daneben existieren in vielen Regionen kleine radikale oder nationalistische Gewerkschaften (z.B. in Galizien, auf den Kanaren, unter den andalusischen Landarbeitern) und mit der links-katholischen USO (Unión Sindical Obrera) und der post-anarchosyn-dikalistischen CGT (Confederación General de Trabajadores) zwei spanienweite Minderheitsgewerkschaften. Alle zusammen genommen beträgt der Organisationsgrad in Spanien nur niedrige 20 Prozent, so dass den spanischen Gewerkschaften eine weit höhere Mobilisierungs- als Verbandsstärke bescheinigt wird.

Eine besondere Note zum Generalstreik lieferten die baskischen Gewerkschaften, gespalten in die Regionalverbände von UGT und CC.OO. einerseits und die beiden nationalistischen Gewerkschaften ELA (Solidarität der baskischen Arbeiter) und LAB (Versammlung Patriotischer Arbeiter) andererseits, mit leichtem Übergewicht letzterer. ELA (Mehrheitsgewerkschaft im Baskenland mit sozialchristlich-nationalistischer Tradition) und LAB (der Terrororganisation ETA nahestehende Minderheitsgewerkschaft) riefen ihren eigenen Generalstreik einen Tag vorher aus und verbanden diesen mit Forderungen gegen die spanischen Gewerkschaften und nach einem eigenständigen Gesetzesrahmen für die baskischen Arbeitsbeziehungen. Der Ge-neralstreik der unter sich zerstrittenen und getrennt demonstrierenden nationalistischen Gewerkschaften sollte vor allem ein »Symbol nationaler Souveränität und Unabhängigkeit« sein. So erlebte das Baskenland zwei halbe ‘General’-Streiks, bei denen jeweils die innergewerkschaftliche Gegnerschaft die Position der Protagonisten bestimmte.

Um ein vollständiges und realistisches Bild zu erhalten, muss man das Ganze allerdings auch aus Regierungssicht analysieren. Ministerpräsident José María Aznar möchte in seiner zweiten und letzten Amtsperiode – seinen Rückzug zum Ende der Legislaturperiode hat er bereits angekündigt – Geschichte schreiben und die farb- und alternativlosen Oppositionsparteien nachhaltig schwächen. Ohnmächtige Gewerkschaften, Rektorenkonferenzen, Lehrer- und Studentenverbände sind ein zentraler Baustein dieses Vorhabens. Neben den wenig spektakulären Inhalten der Reformgesetze geht es also um Potenzgehabe: klar zu machen, dass Protest- und Widerstandsversuche der gesammelten Oppositionskräfte wirkungslos seien und dass die parlamentarische Mehrheit als uneingeschränktes Politikmonopol zu verstehen sei. Dies zeigte sich z.B. in der Reaktion auf die Generalstreikdrohung: In einer stark nach Verfassungsbruch riechenden Aktion erklärte die Regierung das Gesetzesvorhaben kurzerhand zur Eilsache besonderer Dringlichkeit und verabschiedete es per parlamentarischem Schnellverfahren im Alleingang. Man muss allerdings hinzufügen, dass die PSOE-Regierung 1992 ihr umstrittenes Gesetz zur Deregulierung des Arbeitsmarktes in der selben Weise durchsetzte und den folgenden Generalstreik ungerührt verpuffen ließ.

Zur Strategie der nachhaltigen Schwächung oppositioneller Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlaments kommt die spezifische Form der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hinzu. Aznar hat sich vollmundig zu den EU-Beschäftigungszielen von Lissabon bekannt, von denen Spanien zugleich weiter entfernt ist als alle anderen Mitgliedsländer. Grob gesprochen gibt es bekanntlich zwei Methoden, die Arbeitslosenrate zu senken. Man schafft Beschäftigung, oder man schafft die Arbeitslosen ab. Zu einer aktiven Beschäftigungspolitik sieht sich die konservative Regierung weder gewillt noch in der Lage, zumal das einzige, was Konservativ-Liberalen dazu einfällt, Maßnahmen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes, in Spanien schon unter den sozialistischen Regierungen nahezu vollständig umgesetzt wurde. Über 90 Prozent aller abgeschlossenen Ar-beitsverträge sind heute befristet. So bleibt nur die zweite Strategie, zu der auch die aktuelle Reform der Ar-beitslosenversicherung zählt. Bereits die Senkung der Arbeitslosenrate in den letzten Jahren ist wesentlich ein Effekt zweier Reformen der Arbeitslosenstatistik, mit denen per Handstrich jeweils mehrere Hunderttausend Personen umfassende Gruppierungen aus der Kategorie »Arbeitslose(r)« eliminiert wurden (z.B.. alle, die einen Monat lang nicht beim Arbeitsamt vorstellig wurden). Die neue Reform verwandelt das Recht auf Arbeitslosengeld in ein Almosen des allmächtigen Arbeitsamtes, dass Arbeitslose nun jederzeit mit beinahe beliebigen Kriterien aus dem Heer der Anspruchsberechtigten ausschließen kann.

Der Generalstreik des 20. Juni ist also ein Zusammentreffen von zwei entgegengesetzten Strategien in einem ungleichen Kräftemessen. Neben die strukturelle Ungleichheit zwischen einer Regierung, die vorbehaltlos den Staats- und Sicherheitsapparat sowie die öffentlichen Medien (die Fernsehberichterstattung ist nurmehr als skandalöse Propaganda und gezielte Desinformationskampagne angemessen beschreibbar) einsetzt, und mitgliederarmen Gewerkschaften, denen als einziges Druckinstrument eine risikoreiche Massenmobilisierung zur Verfügung steht, tritt ein strategisches Ungleichgewicht. Die organisatorisch gespaltenen Gewerkschaften haben weder eine eigenständige gewerkschaftspolitische Strategie, noch scheinen sie sich über die Hintergrundstrategie der Regierung im Klaren zu sein. Dies zeigt sich u.a. daran, dass kein Aktions-plan für die Phase nach dem 20. Juni bestand und der beachtliche Mobilisierungserfolg schnell im Sand des Alltags zu versickern droht. Die Regierung wird kleine Änderungsanträge parlamentarischer Gruppen in den endgültigen Gesetzestext aufnehmen, ohne substanziell etwas zu ändern. Das Fußball-Spanisch des Ministerpräsidenten (»Dieses Spiel gewinnen wir!«) droht damit Wirklichkeit zu werden – wenngleich Spaniens Fußballmannschaft am 22. Juni eine empfindliche WM-Niederlage gegen den Nobody Korea einstecken musste.

»The same story than every...«? Als vorläufiges Fazit des Generalstreiks stellt sich daher vor allem die Befürchtung einer Wiederholung der Situation von 1992 und 1994 ein, als die damalige sozialistische Regierung die eintägigen Generalstreiks gegen ihre Arbeitsmarktreformen schlicht aussaß und praktisch unbeschadet ihre anti-soziale Politik weiter betrieb. Warum die Gewerkschaften daraus nichts gelernt haben, ist eine nicht nur schwer zu beantwortende, sondern darüber hinaus kaum gestellte Frage. Auch die gewerkschaftliche Präsenz in der Bewegung der GlobalisierungskritikerInnen ist marginal, und der Kontakt in Sevilla war eher punktuell. Doch all dies betrifft vornehmlich die politische Rolle der Gewerkschaften, während die viel entscheidendere gewerkschaftliche Schwäche in ihrem eigentlichen zentralen Aktionsfeld sichtbar wird. Wenige Tage vor dem Generalstreik kündigte der zur Ford-Gruppe gehörende Automobilhersteller Nissan an, man werde die Produktion des neuen Kleinbusses nicht in Spanien, sondern in Frankreich oder Großbritannien anlaufen lassen, wenn der Betriebsrat nicht der Einstellung von 1000 Beschäftigten zu 20-25 Prozent unterhalb des Tariflohns zustimme. »Doppelte Lohnskala« nennt sich dieses Phänomen, das in der spanischen Arbeitswelt um sich greift. Wo bleiben die Generalstreikforderungen der Beschäftigten der spanischen Autoindustrie oder der europäischen Ford-Nissanwerke gegen solche, inzwischen alltäglichen Erpressungen?

 

* Holm-Detlev Köhler arbeitet an der Universität Oviedo.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/02

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