letzte Änderung am 23. Juli 2003

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Wettbewerb der Regulatoren?

Gewerkschaftliche Globalisierungskritik in der BRD und Frankreich – von Stefanie Hürtgen[1]

Was ist Globalisierungskritik? Die Frage scheint derzeit kaum zufriedenstellend zu beantworten, zu unterschiedlich sind soziale Hintergründe und inhaltliche Prämissen der Protagonisten. Das hält die Einen nicht davon ab, sich angeekelt von der vermeintlich dort betriebenen »Nationalstaatstümelei« abzuwenden, während andererseits immer mehr Gruppen und Bewegungen jenseits des Establishments ihre spezifischen Anliegen einer »no-global«-Bewegung zuordnen. Vor allem im Sinne dieser Kräfte sollte es sein, eine Auseinandersetzung um die Inhalte von »Globalisierungskritik« voranzutreiben. Darin eingeschlossen ist eine – solidarische – Kritik der Bewegungen und ihrer Positionen selbst.

Im vorliegenden Artikel geht es um Globalisierungskritik von gewerkschaftlicher Seite, genauer um die »Gewerkschaftslinke«, d.h. diejenigen Kreise, die prinzipielle Kritik an »wettbewerbskorporatistischen« Mainstream-Positionen der Gewerkschaften formulieren. In der Tat findet sich in dieser Gewerkschaftslinken – sowohl in Frankreich wie in Deutschland – ein Verständnis von Globalisierung, das staatliches Handeln ins Zentrum seiner Betrachtung rückt und kapitalistische Verwertungszusammenhänge nur ungenügend berücksichtigt. Warum sich trotz dieser kritikwürdigen gedanklichen Ausgangsposition in Frankreich eine bewegungsnahe und weitaus radikalere Gewerkschaftslinke entwickeln konnte als in Deutschland – dafür sollen im zweiten und dritten Teil des Artikels erste Erklärungsversuche unterbreitet werden. Der Artikel geht dabei nicht auf die aktuellen Auseinandersetzungen in Frankreich und Deutschland, sondern auf systematische Argumentationen ein.

 

Globalisierungskritik für einen staatlichen Politikwechsel?

Längst sind in Deutschland und Frankreich Stimmen laut geworden, die auf die desaströsen Folgen gewerkschaftlicher Standortpolitik aufmerksam machen. Gegen den ständigen und scheinbar unaufhaltsamen Abbau sozialer Standards (innerhalb wie außerhalb der Betriebe) und seine Akzeptanz und Mitgestaltung durch die Mehrheitsgewerkschaften insistiert man auf die Notwendigkeit, Vorstellungen sozialer Gerechtigkeit gegen den »Neoliberalismus« zu verteidigen – was allerdings nur gelänge, wenn sich Gewerkschaften als »Gegenmacht« begreifen. Das Credo dieser kritischen Position lautet: Globalisierung ist kein natürliches Phänomen, kein »Sachzwang«, dem man sich als Gewerkschaft beugen muss. Es gäbe letztlich, so spitzen es einige AutorInnen selbst zu, keine realwirtschaftliche Globalisierung; diese sei vielmehr ein »Mythos« (Bourdieu), ein strategischer »Kampfbegriff«, eine »ideologische Keule, um die arbeitende Bevölkerung zu disziplinieren« (Zinn 1997, S.253).

»Globalisierung wird vom Staat als [...] Drohpotential genutzt, um [...] Handels- oder Investitionshemmnisse abzubauen, gewinnmindernde Sozialstandards und die Ausbeutung der abhängig Beschäftigten begrenzende Schutzvorschriften zu eliminieren, dagegen aber die Sicherheit der Kapitalverwertung zu verbessern.« (Kisker 2000, S.91)

Globalisierung wird also – nach solchen Auffassungen – politisch hergestellt, und zwar von denjenigen, die einer anderen offiziellen Ideologie nach scheinbar ohnmächtig sind: den Nationalstaaten. Resultat sei die Rückkehr zu einem »sozialstaatlich unregulierten und reformpolitisch ungezähmten Kapitalismus« (Huffschmidt 2000, S.67f.).

Der Ausweg aus dieser Entwicklung wiederum ist in ihrer Darstellung selbst angelegt: Wenn »Globalisierung« nichts ist als eine von den Nationalstaaten betriebene Ideologie zur Durchsetzung eines neoliberalen politischen Projekts im Interesse besonders aggressiver Kapitalfraktionen – dann kann umgekehrt der Staat auch in die Verantwortung genommen und zur Änderung seiner Politik gezwungen werden. Entsprechend gälte es, die Hegemonie für eine Transformation des Mehrprodukts in gesellschaftlichen Fortschritt, in Arbeitszeitverkürzung, Bildung, ökologischen Umbau (wieder) zu erlangen: » Die Gesellschaft hat ein Recht darauf, die Verschiebung des Mehrwertes, der im Inland von den abhängig Beschäftigten nicht zuletzt auf Grund bestimmter, von der Gesellschaft geschaffener Voraussetzungen erwirtschaftet worden ist, zu kontrollieren.« (Kisker 1998, S.4).

Mit anderen Worten, die gesellschaftlichen Akteure verlieren in dieser Betrachtung nicht – wie etwa nach der »Sachzwanglogik« behauptet – ihre Handlungsfähigkeit, sondern behalten sie, gerade weil wirtschaftliche »Globalisierung« als materielles Phänomen zuvor weitgehend zurückgewiesen worden ist. Zentrales Anliegen dieser Variante von Globalisierungskritik ist es mithin, einen »Politikwechsel« herbeizuführen, wobei den Gewerkschaften die Aufgabe der Mobilisierung und Aufklärung zugedacht wird: Sie sollen den »Sozialdarwinismus delegitimieren«, den »Mythos der Globalisierung« und des »Modernismus« demaskieren, das »Selbstbewusstsein der Mitglieder erziehen«, Werte ökologischer Entwicklung neu begründen und für Eckpfeiler eines »europäischen Sozialmodells« streiten. Um wirksamen »Druck von unten« zu entwickeln und eine »Gegenöffentlichkeit« herzustellen, müssten Gewerkschaften zudem mit sozialen Bewegungen zusammenarbeiten und sich international koordinieren. Kurz: Gewerkschaften sind nach dieser Konzeption die zentralen Akteure, um den Staat, national wie europäisch, zur Änderung seiner Politik zu zwingen: »Wer anders als die Gewerkschaften sollte die politische Klasse [...] dazu bewegen können, ihre Pflicht zu tun?« (Krätke 2002, S.60).

Diesem Ansatz von Globalisierungskritik ist schon oft vorgeworfen worden, dass er den kapitalistischen Verwertungszusammenhängen nicht auf den Grund gehe, sondern sich lediglich an einer bestimmten Form störe und sich daher mit einem Projekt der »Re-Regulierung« begnüge. In der Tat werden die destruktiven Momente der aktuellen Entwicklung vorrangig am Einfluss und der Macht multinationaler Konzerne, insbesondere jedoch am internationalen Finanzkapital festgemacht. Der kapitalistische gesellschaftliche Zusammenhang wird damit aufgespalten in letztlich »äußerlich« gefasste Momente des Kapitalverhältnisses – das Profitmotiv, Spekulation, Konzernmacht – und »die Gesellschaft« bzw. die »Volkswirtschaft« als positive »innere« Instanzen – zu denen dann etwa auch Wettbewerb bzw. Marktwirtschaft zählen.

Nun wäre es allerdings ungenügend, die hier vorgestellte Variante von Globalisierungskritik mit dem durchaus richtigen Verweis auf ihren »Reformismus« ad acta zu legen. Wer so herangeht verkennt, dass in den Forderungen nach einem »Politikwechsel« der sozialen Akteure zugleich ein Anspruch auf gesellschaftliche Gestaltung enthalten ist, der seinerseits nicht von vornherein definiert, sondern Teil der Auseinandersetzungen ist, nicht zuletzt innerhalb der globalisierungskritischen Gruppen selbst. Mit anderen Worten: Wie »reformistisch« oder staatsfixiert globalisierungskritische Bewegungen wirklich sind, entscheidet sich nicht allein daran, welche Rolle sie dem Staat oder den Gewerkschaften zuschreiben, sondern auch daran, was sie selbst unter »Gewerkschaften« und »Staat« verstehen – und wie sie also ihr eigenes Handeln in Bezug auf diese Institutionen konzipieren. Solche Unterschiede unterhalb der »Gesamtanalyse« müssen zur Kenntnis genommen werden.

Deutschland: Kampf gegen falsches Bewusstsein ...

Befragt man deutsche Diskutanten der Gewerkschaftslinken, warum sich die Belegschaften nicht vehement gegen neue »Rationalisierungsstrategien«, gegen die »Entgrenzung« ihrer Arbeit, zunehmenden Leistungs- und Flexibilitätsdruck oder eine verstärkte »Segmentierung« der Arbeitsverhältnisse in Kern- und Randbelegschaften zur Wehr setzten, so lautet die Antwort: Gewerkschaften wie Belegschaften stünden massiv »unter Druck«, wofür insbesondere die »Massenarbeitslosigkeit«, wichtigstes Resultat der kritisierten Politik der Globalisierung, verantwortlich sei: »Auf die eigene Kraft vertrauen – diese Formel einer autonomen Gewerkschaftspolitik [...] geht heute nicht mehr so leicht von den Lippen. Zu lange hat das Gift der Massenarbeitslosigkeit im Gesellschaftskörper bereits gewirkt« (Detje 2002, S.5)

Im Weiteren bleibt dann allerdings merkwürdig unbestimmt, inwiefern denn Arbeitslosigkeit die Situation von Beschäftigten derart verändert, dass sie – wie Autoren selbst nicht müde werden zu betonen – mit »dem Rücken zur Wand« stehen. Tatsächlich geht es dann gar nicht mehr um die durch Arbeitslosigkeit verschlechterten Handlungsbedingungen für Lohnabhängige, sondern um deren – Bewusstsein:

»Es ist wohl keine Übertreibung festzustellen, dass das historische Bewusstsein bei einem großen Teil der arbeitenden Menschen verloren gegangen ist, und dass sie deshalb ihre Situation als bloße Objekte und Opfer der Kapitalverwertung nicht mehr klar erkennen. Aus solcher Bewusstlosigkeit für die eigene Position folgt dann auch der Mangel an ideologischer Gegenkraft zur Globalisierungs- und Standortpropaganda [...] Leider kommen dieser ideologischen Ohrenbläserei bequemes Harmoniebedürfnis und unsolidarischer Individualismus bei den Empfängern der Botschaft viel zu oft entgegen« (Zinn 2000, S.17).

Etwas freundlicher wird in anderen Analysen auf die gestiegenen »Zukunftsängste« der Bevölkerung, die kämpferisches Verhalten verdrängen würden, verwiesen und dass nun eine Mehrheit der Bevölkerung »glaube«, es gäbe keine Alternativen zur aktuellen »neoliberalen Politik« (Forum Gewerkschaften 2001, S.4f.). Doch auch hier wird »falsches Bewusstsein« zum Ausgangspunkt der Analyse. Nicht von ungefähr ist dann die eingeklagte »Offensive« der Gewerkschaften vor allem als ideologischer Terraingewinn konzipiert. »Die Arena der Macht ist die gesellschaftliche Öffentlichkeit, die es zu überzeugen und zu mobilisieren gilt« (König/Detje 2002, S.29). Es geht um den »Kampf um die Köpfe«, darum, »mit der herrschenden Logik zu brechen«, um »fundierte und schlüssige Aufklärung« und »Überzeugung«. Indem allerdings die durch »Globalisierung« veränderten Lebensrealitäten der sozialen Akteure kaum in einen systematischen Bezug zu ihrem »Bewusstsein« gesetzt werden, zerrinnt gleichsam die Verankerung der eingeklagten Offensive. Kampfesstärke erscheint plötzlich als eine Frage der bloßen Einsicht, des richtigen Wollens.

... und für den Erhalt von Strukturen

Die Verschiebung der Problematik hin zur Ebene der »Köpfe« und des »Bewusstseins« hat weitreichende Folgen für die Konzeption alternativer Gewerkschaftspolitik. Es wird nämlich letztlich unterstellt, man könne ohne weitere Voraussetzungen ein anderes Verständnis von der Welt und sogar ein anderes Handeln an den Tag legen. Konsequenterweise stehen in dieser Herangehensweise dann auch die gewerkschaftlichen Strukturen selbst nicht zur Disposition. So führen dieselben Autoren, die eben noch die Entsolidarisierung durch Massenarbeitslosigkeit beklagen, nun aus, dass die Zukunft von Gewerkschaften in einer Fortsetzung (!) der Organisierung qualifizierter Arbeit läge, nur eben in neuen Branchen – und explizit nicht in der von »Marginalisierten«: »Die Überwindung der Defensive wird maßgeblich davon abhängen, ob die Gewerkschaften die neuen, sehr buntscheckigen Kategorien der ›Wissensarbeiter‹ – die gleichsam der soziale Ausdruck der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte sind – für ihre Zukunftsperspektive überzeugen können. Und davon wird [...] abhängen, ob Solidarität [...] tatsächlich mit neuem Leben gefüllt werden kann. Dies wird nur in begrenztem Rahmen von fragmentierter, marginalisierter Arbeit ausgehen können, und von Arbeitslosen unmöglich herzustellen sein. Die Potenziale liegen dort, wo qualifizierte Arbeit verrichtet wird und diese über die entsprechende Ressourcen verfügt.« (Ebd.) Und in der Fußnote heißt es in Bezug auf Arbeitslose: »Solidarität kann nicht von den ›Opfern‹ durchbuchstabiert werden« (Forum Gewerkschaften 2001, S. 10).

Zunächst einmal wird hier ganzen Gruppen von Lohnabhängigen ohne größere Diskussion die Fähigkeit, ihre soziale Umwelt zu verändern, abgesprochen. Hier ist allerdings vor allem interessant, dass die von den Autoren selbst so betonte (durch die »Drohung« der Arbeitslosigkeit) veränderte Situation der Belegschaften offensichtlich keinerlei organisatorische Konsequenz für die Gewerkschaften hat. Insbesondere in Bezug auf die den »Wissensarbeitern« zugeschriebene Rolle als »künftige Kernbelegschaften« wird zudem gar nicht gefragt, wie die von den Autoren selbst beschriebenen Tendenzen der »Vereinzelung« und innerbetrieblichen »Vermarktlichung« am Arbeitsplatz gerade dieser Klientel passen. Ebenso ist der privilegierte Ort der Organisierung wie selbstverständlich der Betrieb, trotz der von den Autoren genannten Momente der »Fragmentierung« und »Dezentralisierung« innerhalb bzw. von Unternehmen sowie der umfänglich beschriebenen »Entgrenzung der Arbeit«. Die gleiche Leerstelle findet sich in Bezug auf betriebliche Interessenvertretung: Trotz teilweise massiver Kritik an der aktuellen Betriebsratspolitik wird so gut wie nirgends die Institution Betriebsrat daraufhin geprüft, inwieweit sie die kritisierte »Politik der Zugeständnisse« strukturell nahe legt.

Um es zusammenzufassen: Quasi nirgends werden typische »Eckpfeiler« der Interessenvertretung in einen Zusammenhang gebracht zur diagnostizierten Krise der Gewerkschaften. Vielmehr wird die Wiedergewinnung gewerkschaftlicher Kampfesstärke in einer Fortsetzung[2] vermeintlich bewährter Institutionen der Interessenvertretung erblickt, die eben nur von ihrem aktuellen »falschen Bewusstsein« befreit und kämpferisch »gefüllt« werden müssten. Die in der aktuellen deutschen gewerkschaftslinken Debatte umherschwirrenden, radikal klingenden Vorschläge einer erneuerten Gewerkschaftspolitik, bspw. in Richtung Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen oder Internationalisierung der Gewerkschaftsarbeit, entpuppen sich bei genauerer Betrachtung als harmlose Ergänzung der in ihrer Funktionsweise nirgends hinterfragten Gewerkschaftsinstitutionen.

Nun ist nichts gegen innergewerkschaftliche Umdenkungsprozesse oder die Wichtigkeit von Überzeugungsarbeit einzuwenden. Insbesondere hätten konsequente öffentliche Diskussionen um die immer aggressiveren »Maßnahmen«, von Hartz über Rürup bis Agenda 2010, und die ihnen vermeintlich zugrundeliegenden Sach- und Kostenzwänge eine herausragende Bedeutung, nicht zuletzt, um endlich die so erschreckend verbreitete Stimmung der Resignation aufzubrechen.

Umgekehrt muss allerdings festgehalten werden, dass das Alternativ- Projekt der Gewerkschaftslinken bislang ein relativ begrenztes ist: Die politische und soziale Emanzipation vom »Neoliberalismus« wird gedanklich auf das reduziert, was die bisherigen Institutionen der Interessenvertretung zulassen. Trotz aller Erneuerungsrhethorik werden so die prinzipiellen sozialen Rollen innerhalb wie außerhalb der Interessenvertretung nicht problematisiert, sondern im Gegenteil – angesichts ihrer Bedrohung durch »shareholder« – noch harmonisiert, ihrer destruktiven Seiten entledigt. Die Leute sollen arbeiten gehen, am besten im Betrieb, denn der ist das gesellschaftliche Zentrum, und dort werden sie von den Gewerkschaften vertreten; Unternehmen sollen förderlichen »Wettbewerb« betreiben und ordentliche Abgaben zahlen, dann kann wiederum der Staat eine vernünftige Sozialpolitik gestalten und insbesondere Arbeitslose versorgen; soziale Bewegungen sind natürlich »Bündnispartner«, und auf der internationalen Ebene werden die Kontakte ausgebaut. Ohne eine Infragestellung »bewährter« Institutionen kann das Projekt der »Re-Regulierung der Wirtschaft« so nur sehr bedingt mit weitergehenden gesellschaftlichen Konzeptionen verbunden werden.

Frankreich: gemeinsamer Kampf gegen Prekarisierung...

Was ist nun so anders in Frankreich, wo doch vorhin behauptet wurde, auch hier betreibe die Gewerkschaftslinke eine staatszentrierte Globalisierungskritik? Bourdieu rief ja bekanntlich vehement zur Verteidigung des Staates gegen die Bedrohung von außen – das Finanzkapital – und von innen – dessen Komplizen – auf (Bourdieu 1998a, S.56).

Die Antwort lautet: In der linksgewerkschaftlichen französischen Debatte steht genau das im Zentrum, was in der Bundesrepublik bislang überhaupt kein Thema ist: die zunehmende Entsolidarisierung zwischen den verschiedenen, von Globalisierung betroffenen sozialen Gruppen, ihre Konkurrenz untereinander, hervorgerufen durch die permanente Angst vor (weiterem) sozialen Abstieg. Diese Konkurrenz, schreibt Bourdieu, sei das Mittel, mit dem der Neoliberalismus seine politische Hegemonie durchsetze; sie beginne als Konkurrenz um Arbeit, setze sich als Konkurrenz in der Arbeit fort und drohe, als »wirklicher Kampf eines jeden ge-gen jeden« sämtliche Werte der Menschlichkeit und Solidarität zu zerstören (Bourdieu 1998). Das Resultat dieser Konkurrenz ist »Prekarisierung«. Im deutlichen Unterschied zur deutschen Debatte wird Prekarisierung in Frankreich nicht an einer, wenn auch wachsenden, Randgruppe von Lohnabhängigen festgemacht, sondern gilt als ein Phänomen, das alle trifft, insbesondere diejenigen, die noch gesicherte Einkommen haben und daher glauben, verschont zu sein: »Prekarisierung ist heute überall (...) Zu ihren Auswirkungen auf diejenigen, die sie direkt berührt, kommen die Folgen für all die, die sie scheinbar ausspart. Sie lässt sich nie vergessen, sie ist gegenwärtig, in jedem Moment, in jedem Gehirn (Bourdieu 1998, S.96, Übers. d.V.).

Wenn aber »Prekarisierung«, als das entscheidende Resultat von Globalisierung, als Verschlechterung der Lebensbedingungen nahezu aller Bevölkerungsteile verstanden wird, dann wird der »Kampf gegen Prekarisierung« nicht nur zur prioritären, sondern – da nahezu »alle« von ihr betroffen sind – zugleich zur jeweils ureigensten Angelegenheit. Mit anderen Worten: Der gemeinsame Kampf gegen Prekarisierung, und damit gegen »neoliberale Globalisierung«, ist in diesen gewerkschaftslinken Kreisen oberste Maxime. Die sozialen Unterschiede sind nach dieser Betrachtung jeweils nur spezifische Ausformungen einer übergreifenden Gemeinsamkeit, nämlich der, von wachsender sozialer Unsicherheit durch »Globalisierung« betroffen zu sein. Das heißt nicht, dass es in den konkreten Auseinandersetzungen keine unterschiedlichen Kampfesstärken geben würde[3], doch die für die deutsche Debatte skizzierte gedankliche Trennung zwischen potenziell kämpferischen Kernbelegschaften und versorgungsbedürftigen Marginalisierten findet sich im hier vorgestellten Teil der französischen Diskussion nicht: Die Erfahrung der Pauperisierung »sozial Schwacher« ist zugleich der konzentrierte Ausdruck dessen, was die gesamte Bevölkerung unter den Bedingungen der Globalisierung erlebt, ihre Auseinandersetzungen sind daher exemplarisch für die eigene (Desrousses/Peloille 1997, S.162ff.). So erfolgte die Unterstützung der »Sans Papiers« in ihrem Kampf um Legalisierung durch die Reformgewerkschaften »sud« nicht allein aus der Überlegung heraus, deren »Menschenrecht« auf materielle Absicherung geltend zu machen, sondern im Vordergrund stand der Gedanke, dass Illegale – zu Schwarzarbeit gezwungen – die am stärksten Prekarisierten sind, eine dauerhafte Verbesserung der eigenen Situation also durchaus davon abhängig ist, inwieweit der Kampf der »Sans Papiers« um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, und das heißt in erster Linie: Papiere, erfolgreich ist (Interview 1999b). Andere gewerkschaftliche Aktionen und Vernetzungen rekurrieren auf den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Lohndruck einerseits und Überarbeitung, häufige Unfälle und zunehmende Krankheiten in den Betrieben andererseits. Als drittes Beispiel sei die aktuelle Debatte um den Öffentlichen Dienst genannt, wo in teilweise spektakulären Aktionen eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Einstellungen und Lohnerhöhungen und eine kostenlose Versorgung für alle, einschließlich der »Sans Papiers«, gefordert und teilweise durchgesetzt wurden.

In solchen Überlegungen und praktischen Ansätzen wird auf den sozialen Zusammenhang zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen insistiert, um ihn für eigene gewerkschaftliche Ansätze nutzbar zu machen. Die »strukturelle Gewalt der Konkurrenz«, so heißt es, müsse umgekehrt werden in ein Erkennen der gemeinsamen Interessen, die in einer Abwehr der Verschlechterungen und in einem Recht auf eine »Ökonomie des Glückes« bestünden (Bourdieu 1997, S.20).

... und für neue Formen von Interessenvertretung ...

Wenn aber die Überwindung der Konkurrenz zur Bedingung für einen erfolgreichen Kampf gegen »Prekarisierung« gemacht wird, ist es nur konsequent, die jeweiligen sozialen Auseinandersetzungen zuvorderst daraufhin zu befragen, inwieweit sie die unmittelbar eigenen Anliegen in einen Zusammenhang zu den Problemlagen anderer sozialer Gruppen und ihrer Kämpfe stellen. Übergreifende Solidarisierung wird zum zentralen Maßstab der Beurteilung von sozialen und gewerkschaftlichen Bewegungen.

Bourdieu selbst hat dies vorgeführt, als er den großen Streik im Öffentlichen Dienst 1995 genau deshalb vehement unterstützte, weil die Streikenden nicht nur ihre, sondern zugleich die Interessen all jener formuliert hätten, auf deren Kosten der Liberalismus betrieben würde (Bourdieu 1995). Auch für die zwei Jahre später sich ausweitende und radikalisierende französische Arbeitslosenbewegung begeisterte sich Bourdieu, im Gegensatz zu anderen, nicht, weil es um den »Einschluss« der Ausgestoßenen in die Gesellschaft ginge, sondern weil die Bewegung die Mechanismen der allgemeinen »Degradierung« der Arbeit durch Arbeitslosigkeit voranstelle – und also die Arbeits- und Lebensbedingungen aller von Lohn Abhängigen thematisiere (Bourdieu 1998).

Ein solcher Anspruch, der hier gegenüber gewerkschaftlichen und sozialen Bewegungen formuliert wird, hat organisatorische Konsequenzen: Namentlich gewerkschaftliche Interessenvertretungen müssten Form und Funktionieren radikal ändern, wollten sie ihrer historischen Verantwortung gerecht werden, nämlich dem Neoliberalismus ihre Solidarität entgegenzusetzen. »Wir müssen nicht nur Antworten finden, sondern auch die Art neu entwickeln, Antworten zu finden, wir müssen eine neue Form der Organisierung der Protestarbeit, des politischen Aktivismus, hervorbringen«. (Bourdieu 1998, S.64; Übers. d.Verf.)[4]

Um »mit den Mitgliedern zu kämpfen, und nicht für sie« wurden in den Gewerkschaften, die sich im Gefolge des 95er Streiks bildeten oder ihren Aufschwung erfuhren – wir vor allem die »sud« Gewerkschaften[5] eine Reihe von Prinzipien verankert, wie limitierte Befugnisse, Einkommen, Mandate und das Rotationsprinzip für Hauptamtliche, und generell die Kontrolle des – vergleichsweise kleinen – Apparats durch Regionen und Mitglieder (Coupé/Marchand 1998, S.46). Vor allem nach 1995 kommt ein weiteres, grundlegendes Element für das Selbstverständnis dieser Basisgewerkschaften hinzu: Ganz im Sinne der Streikbewegung definiert man sich nun als »Gewerkschaft der sozialen Transformation« – eine Gewerkschaft also, die dem »Neoliberalismus« eigene Vorstellungen gesellschaftlicher Veränderung entgegensetzen will und die dafür mit all jenen Kräften zusammenarbeitet, die ein gleiches Anliegen haben (Sud Ptt 2002, S.7).

Die bemerkenswerte Zusammenarbeit mit den Arbeitslosen, den »Sans Papiers«, der Obdachlosen-, Frauen-, Umwelt- oder Bauernbewegung besteht dabei nicht in formellen Zusammenschlüssen, Flugblattunterschriften oder materieller Unterstützung, sondern wird – wie schon das »tous ensemble!« des Streiks – durch eine Fülle von Arbeits- und Diskussionsprozessen jeweils inhaltlich fundiert und hergestellt. Entsprechend den Lebenslagen und Bedürfnissen der Beteiligten werden mögliche gemeinsame Forderungen formuliert, umgekehrt aber auch Divergenzen festgestellt (Entretien 1999), um dann auf Basis der Gemeinsamkeiten Politik zu machen, bspw. Aktionen durchzuführen, wie die Verhinderung der Abschiebung illegaler Einwanderer, die Besetzung leerstehenden Wohnraums oder auch von Verkehrsmitteln (um kostenlosen Transport durchzusetzen), die Mobilisierung gegen Atomtransporte, die Verteidigung verfolgter nordafrikanischer Frauen oder auch die intensive Beteiligung an den »Europäischen Märschen gegen Arbeitslosigkeit und Prekarisierung«.

Doch in gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich permanent verändern und dabei zugleich die Konkurrenz zwischen den sozialen, ethnischen und geschlechtlichen Gruppen und um materielle und geistige Wohlfahrt weiter akzentuieren, kann die Suche nach gemeinsamen Interessenlagen nur erfolgreich sein, wenn sie nicht nur als demokratischer, sondern zugleich als kontinuierlicher Prozess konzipiert ist. Es geht um ein Gewerkschaftsverständnis » based on the constant search of what unifies rather than what divides« (Union syndicale 2002, Herv. d.V.). Das beinhaltet, dass die einmal errungenen Netze und Forderungsplattformen nicht als selbstverständlich und für immer gegeben angesehen werden können, ebenso wie übrigens auch das Prinzip der Basisdemokratie in den »sud«- Gewerkschaften über konfliktorische Auseinandersetzungen immer wieder neu definiert werden muss (Hürtgen 2002). Eine solche Erfahrung der Veränderbarkeit von Institutionen bleibt vielmehr umgekehrt nicht auf Gewerkschaften beschränkt.

... auch auf gesellschaftlicher Ebene

Anders als in der Deutschland ist die »Politisierung von Gewerkschaften« in jenem hier skizzierten »links-gewerkschaftlichen« Teil der Debatte in Frankreich nicht als eine Rückkehr zu bewährter Gewerkschaftspolitik konzipiert, sondern als ein offener Prozess, in dem die Formen der Interessenvertretung selbst zur Disposition stehen. Das heißt aber, dass die gewerkschaftlichen Institutionen den Ansprüchen und Vorstellungen der Lohnabhängigen genügen müssen – und nicht umgekehrt! Und eben dieser Gedanke wird in der Debatte ausgeweitet, über gewerkschaftliche Fragen hinaus. Es geht, wie die typischen Slogans der Bewegungen zeigen, um ein »Recht auf Aufenthalt«, um ein »Recht auf soziale Sicherheit«, ein »Recht auf Partizipation«, ein »Recht auf Bildung« – einen »öffentlichen Dienst für alle«, ein »Recht auf saubere Umwelt« oder »sinnvolle Produktion«. An diesem legitimen Verlangen der »Bürger« – verstanden als: »alle Menschen«, unabhängig von ihrem formalen Bürgerstatus – nach Glück, Wohlstand und Lebenssinn (Begriffe, die in der Auseinandersetzung jeweils mit Inhalt gefüllt und um die gestritten wird) müssen sich gewerkschaftliche Strukturen, aber auch Grundpfeiler der Gesellschaft, wie Staat, Recht oder Wirtschaft messen – und geraten also in prinzipielle Kritik.

Gesellschaftliche Sphären und Institutionen werden als veränderungsbedürftig konzipiert, entsprechend den ständig – in Gewerkschaften, Bewegungen, Diskussionskreisen und auch in attac – debattierten und sich entwickelnden Maßstäben eines »Rechtes auf schönes Leben« (Malek/Soulier 1996). Nicht zuletzt von den Linksgewerkschaften werden so Vorstellungen von Selbstbestimmung, alternativen Lebens- und Gesellschaftsformen und einer anderen Art des Wirtschaftens über die bestehenden Verhältnisse hinausgetrieben – und damit an Überlegungen einer prinzipiell neuen, nachkapitalistischen Produktions- und Lebensweise überhaupt anschlussfähig.

Die Gestaltbarkeit der Gesellschaft – auf die ja die Globalisierungskritiker gegen die vermeintlichen Sachzwänge zu Recht insistieren – wird damit zu einem von den »Bürgern« getragenen Prozess der sozialen Transformation – und nicht zum politischen Strategiewechsel des Staates.

 

Literatur über die Redaktion erhältlich.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/03

Anmerkungen

1) Der vorliegende Artikel ist die erheblich gekürzte und umgearbeitete Fassung des Aufsatzes: »Gewerkschaftliche Positionen zu Globalisierung in Deutschland und Frankreich«, erschienen in Prokla, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Nr. 1/2003

2) »Die Erwartung, eine neue Proletarität würde sich als Machtfaktor formieren, entspricht nicht den sozialen Verhältnissen. Aus diesen sozialen Gruppen haben die großen Massengewerkschaften [sic!] auch nie ihre aktiven Kerne rekrutiert« (Detje 2002, 280).

3) Wie beim großen Streik 1995 unterstützen auch beim aktuellen Streik des Öffentlichen Dienstes viele in der Privatindustrie Beschäftigte die Bewegung, allerdings – vor allem aus Angst vor Entlassungen – zumeist »nach Feierabend«.

4) Genau in dieser Hinsicht, und nicht allein als Schlachtruf von Masse und Stärke, war während des Streiks 1995 die Parole des »tous ensemble« (alle zusammen) tonangebend.

5) »Sud« steht für »solidaire unitaire democratique«

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