letzte Änderung am 19. März 2003

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In diesem Geschäft ist nichts heilig

Interview mit Winfried Beck* zum Verhältnis von Medizin & Ökonomie, Teil I

An Hysterie grenzt die Art und Weise, wie die Debatte um die Gesundheitsreform im Moment in der Öffentlichkeit geführt wird. Permanent »explodieren die Kosten«, »bricht das System zusammen«, ist »die medizinische Versorgung der Bevölkerung gefährdet«, wenn nicht bald etwas passiert... Wieder ist eine Expertenkommission eingerichtet worden, die unter Anleitung von Herrn Rürup nun jede Woche eine neue Sau durchs Dorf treibt, um zu testen, was sich die Bevölkerung gefallen lassen würde: Sei es die Ausgliederung der Zahnbehandlung aus der gesetzlichen Krankenkasse oder die Abschaffung der Familienmitversicherung, sei es die Aufspaltung des Leistungskatalogs oder die Ausgliederung privater Unfälle aus der GKV... Um die Lohnnebenkosten nicht weiter durch steigende Beitragssätze zu belasten, so das vorherrschende Argument, wird es zu einer Individualisierung des Kostenrisikos bei Krankheit kommen. Was die wirklichen Probleme und ihre Ursachen sind, wird dabei überhaupt nicht diskutiert. In der Auseinandersetzung finden wir nur den Austausch von Mythen, propagandistischen Verkürzungen und vermeintlichen Evidenzen. Um in dieser maximal unterkomplex geführten öffentlichen Debatte ein Licht der Aufklärung anzuzünden, haben wir Winfried Beck, den Vorsitzenden des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) nach den Problemen im Gesundheitswesen gefragt. Da sich die Reform-Vorschläge von Woche zu Woche ändern und man der Aktualität sowieso nur hinterherhecheln könnte, haben wir dabei über die grundlegenden Probleme, Fragen und Perspektiven gesprochen, ohne auf einzelne Vorschläge einzugehen.

Mit Winfried Beck sprachen Nadja Rakowitz und Rolf Schmucker.

 

Was sind Deiner Einschätzung nach die zentralen Probleme des deutschen Gesundheitswesens?

Winfried Beck: Da muss man zwei Seiten unterscheiden: Wie ist zum einen die finanzielle Ausstattung des Gesundheitswesens, und wie ist zum anderen das Gesundheitswesen strukturell aufgebaut, wo sind die strukturellen Mängel?

Fangen wir mit dem Letzteren an. Unser Gesundheitswesen ist nicht systematisch geplant oder gestaltet worden, sondern Ergebnis von Lobbyistenarbeit – insbesondere von der Ärzteschaft. Wir haben Eigenarten in Deutschland: Wir haben erstens eine tiefe Kluft zwischen stationärer und ambulanter Versorgung, die fast unüberwindlich ist. Es gibt deswegen viele Doppeluntersuchungen. Das liegt daran, dass es die niedergelassenen Ärzte über ihre Kassenärztliche Vereinigung (KV)geschafft haben, sozusagen das wichtigere Element in der Gesundheitsversorgung darzustellen – im Gegensatz zu den stationären Ärzten. Sie dominieren das Ganze und sehen in der stationären Versorgung eine Konkurrenz. Das heißt, wenn die Kluft weg wäre, wenn die Krankenhäuser sich öffnen würden für ambulante Versorgung, gäbe es weniger zu tun für die niedergelassenen Ärzte. Das ist ja im Übrigen jetzt auch ein Vorschlag von Frau Schmidt – und sofort kommt der Protest von Fachärzten und Allgemeinärzten. Diese Kluft ist typisch interessegesteuert durch die Ärzteschaft und existiert in anderen Ländern nicht.

Zweitens haben wir im niedergelassenen Bereich, also in der ambulanten Medizin, Fachärzte. Das gibt es nur ganz selten auf der Welt. Sonst sind die alle an den Krankenhäusern. Dort sagt man: Die ambulante Medizin wird von gut ausgebildeten Allgemeinmedizinern gemacht, die dann, wenn es kompliziert wird, an Fachärzte in Krankenhäusern überweisen, weil sie ja auch eine Riesenausstattung brauchen. Das ist in England so, in Holland etc.

Auch das ist in Deutschland wieder interessegesteuert durch die Fachärzte. Sie sagen: Wir haben eine Praxis als »Einzelkämpfer«, Kleinunternehmer und können dort ordentlich verdienen – mehr als ein angestellter Arzt im Krankenhaus. Dadurch haben wir natürlich eine doppelte Vorhaltung von Facharztwissen: ambulant und stationär. Ein ziemlicher Luxus, das muss man einfach so sagen. Auf der anderen Seite ist das natürlich angenehm für die Patienten. Bei Umfragen kommt immer wieder heraus, dass es als sehr angenehm empfunden wird, einfach zum Augen- und zum Ohrenarzt etc. gehen zu können. Das ist ja auch nachvollziehbar. Die Frage ist aber: Muss das sein? Gibt es da nicht auch Nachteile? Nämlich dass man z.B. – weil man keine Ahnung hat – zum Falschen geht, der dann erst mal alles macht. Nehmen wir das Beispiel Rückenschmerzen: Ein Patient mit Rückenschmerzen geht zunächst zum Orthopäden – ich bin ja Orthopäde. Der macht alles und stellt am Schluss fest: Ich finde nichts. Dann schickt er ihn zum Urologen. Der Urologe macht alles, findet nichts. Er schickt ihn zum Internisten, der macht auch alles, findet aber auch nichts. Was ist es nachher? Eine psychosomatische Krankheit. Wäre der Patient vielleicht gleich zu einem hochqualifizierten und – das ist natürlich die Voraussetzung – gut ausgebildeten Allgemeinmediziner gegangen, hätte dieser das erkannt. Er hätte Kosten gespart und dem Menschen vor allen Dingen geholfen.

Ist es tatsächlich so, dass die meisten Leute direkt den Facharzt aufsuchen, oder ist es nicht so, dass viele zuerst zu ihrem Hausarzt gehen?

Winfried Beck: Die Mehrheit geht direkt zum Facharzt. Das ist aber abhängig vom Bildungsstand und vom Einkommensniveau. Je höher das Einkommen und je höher die Bildung, umso mehr wird der Facharzt aufgesucht. Alles, was wir hier reden, gilt natürlich nur für GKV-Versicherte.

Zurück zu den Eigenarten. Auch im Krankenhaus haben wir Strukturen, die es woanders nicht gibt: die Hierarchie von Chefarzt, Oberarzt, Assistenzarzt. Muss es die geben? Wer hat daran Interesse gehabt? Auch wieder die leitenden Ärzte. Nur die dürfen privat liquidieren, private Sprechstunde haben, all diese ganzen Geschichten. Diese Hierarchie ist natürlich qualitätsfeindlich – wie jede Hierarchie. Also hier hat es die Ärzteschaft hingekriegt, ein Gesundheitswesen nach ihrem Gusto zu gestalten. Und das ist etwa seit der Gründung des Hartmannbundes so, einer Kampforganisation der Ärzte gegen die Krankenkassen, also etwa seit 1900. Da haben die Ärzte gesagt: Wir können nur gewinnen, indem wir uns als Monopol verstehen gegenüber den zersplitterten Krankenkassen – vorher war es umgekehrt –, also brauchen wir einen Verband und treten geschlossen auf. Der Hauptknaller kam dann natürlich in der Nazizeit, als ihnen die reichsweite Kassenärztliche Vereinigung gegeben wurde – ein großer Wunsch der Ärzteschaft. Sie wurde zwar kurz nach dem Krieg mal aufgelöst, aber de facto ist dieses Monopol seit dieser Zeit vorhanden. Erst jetzt beginnt es zu bröckeln. Die Bedingungen haben sich so geändert, dass der Streit untereinander ausgebrochen ist. Aber darauf kommen wir später...

Wenn man also das Gesundheitswesen gestalten will, muss man logischerweise diejenigen, die es bisher gestaltet haben, schwächen. Man muss also ran an den Speck! Es geht nicht anders. Und in der Situation befinden wir uns jetzt.

Es gehört noch zur strukturellen Seite des Gesundheitssystems dazu, dass auf der anderen Seite, nämlich der Seite der Kostenträger, Zersplitterung herrschte und auch immer noch herrscht, nicht ein Monopol. Es gibt immer noch über 300 Krankenkassen – früher waren es mal mehrere tausend –, deren Verbände getrennt voneinander mit der Ärzteschaft verhandeln. Das ist also eine Schwächung auf dieser Seite. Ein weiteres strukturelles Problem ist, dass die Krankenkassen ihre Mitglieder schon lange nicht mehr im ursprünglichen »basisdemokratischen« Sinn repräsentieren. Es gibt ja keine richtigen Wahlen. Das ist im Grunde mehr eine Verwaltung, eine Verwaltung von Geld mit dem Interesse, nicht mehr auszugeben, als rein gekommen ist. Ursprünglich waren die Krankenkassen etwas anderes. Das waren die Vertretungen ihrer Mitglieder, eine Art Selbsthilfegruppen, um sich im Gesundheitswesen zurecht zu finden. Das ist inzwischen auch ein struktureller Mangel.

Können wir in diesem Zusammenhang auf den Wettbewerb eingehen, der mittlerweile unter den Krankenkassen eingeführt wurde. Das hat da ja inzwischen auch noch mal Veränderungen gebracht...

Winfried Beck: Der Wettbewerb hat bislang hauptsächlich um die Prämien stattgefunden und nur bedingt um die Leistungen. Und solange es nur um Prämien geht, ist die Kasse am besten, die am billigsten ist. Einen anderen Wettbewerb gibt es nicht. Wie kann eine Kasse billig sein? Indem sie nur gesunde Mitglieder hat, dann muss sie nichts ausgeben. Also wirbt sie um Gesunde und verdrängt möglichst Kranke: Oder, wie jetzt die TKK sagt: Die Gesunden sparen Geld, weil sie nicht zum Arzt gehen; damit kann man die Prämien senken. Es ist allerdings noch die Frage, ob das längerfristig geht. Das wäre natürlich alles ganz anders, wenn es eine Konkurrenz um Leistung gäbe. Dann wird es kriminell. Das muss verhindert werden, weil das ruinös wird.

Wir hatten vorhin als zweites großes Problem die Einnahmeseite der GKV gesehen...

Winfried Beck: Ja. Es ist so, dass die Finanzierung gekoppelt ist an die Lohnsummenentwicklung, also an die Löhne und Einkommen der abhängig Beschäftigten. Das ist so lange in Ordnung, so lange das einigermaßen stabil ist oder solange diese Methode tatsächlich parallel läuft zur Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts, zur allgemeinen ökonomischen Entwicklung einer Gesellschaft. Das bricht dann zusammen, wenn die Lohnsummen relativ sinken im Vergleich zu den Einnahmen durch Kapital, Vermögen usw. Und diese Situation haben wir jetzt schon seit einer ganzen Weile. Hauptgrund dafür ist die Arbeitslosigkeit, aber nicht nur. Auch die gestiegene Produktivität ist ein Grund, denn es wird ja nicht nach Produktivität in die Krankenkasse eingezahlt, sondern nach Lohn. Also ist die sinkende Lohnquote der entscheidende Punkt. Und wenn das so ist, bricht auf einmal das Geld weg, obwohl die Kosten nicht sinken. Sie steigen natürlich tendenziell – wegen des medizinischen Fortschritts, wegen der demographischen Entwicklung, weil die Menschen länger leben. Letzteres wirkt aber auf die Kassen nicht so stark, wie häufig vermutet wird. Und die Kosten steigen wegen des Anspruchsdenkens – aber nicht der Patienten, sondern der Anbieter. Also weil immer mehr gemacht wird, als eigentlich nötig ist. Das ist wiederum auch ein strukturelles Problem, das mit der Art der Honorierung zusammenhängt.

Mit der Einzelleistungsvergütung bei den Niedergelassenen – also für jeden Handgriff Geld (früher war es noch schlimmer, heute gibt es ein paar Komplexgebühren) – kann man natürlich mehr Geld verdienen, weil man es einfach selbst steuern kann. Ich kann viel machen; ob der Patient oder die Patientin das braucht, ist eine andere Frage. Die Tatsache, dass die niedergelassenen Ärzte Privatunternehmer sind, führt notwendigerweise zu einer Verbetriebswirtschaftlichung des Denkens – das ist ganz klar. Jeder niedergelassene Arzt hat Computerprogramme, die z.B. bei der Diagnose Rückenschmerz sagen, was er alles machen kann. Und wenn ich ein guter Unternehmer bin – ist gleich: schlechter Arzt –, dann mache ich das alles. Dann handle ich ökonomisch richtig, also betriebswirtschaftlich richtig, volkswirtschaftlich schädlich – und was den Patienten, den Menschen angeht, katastrophal. Aber der materielle Anreiz zum Handeln ist genau so gelenkt. Deswegen sind die ökonomischen Verlierer die, die sich ärztlich verhalten oder in Gegenden ihre Praxis haben, wo der Beratungsbedarf hoch ist und Technik nicht so nachgefragt wird und – natürlich – wo zur Kompensation dessen wenig Privatpatienten sind.

Aber alles das ist nicht Zufall. Die Ärzteschaft hat es in der Hand gehabt, ob es so oder anders ist. Die Ärzte haben die Gebührenordnung gemacht, sie haben die Verhandlungen geführt.

Nun steckst ja auch Du als kritischer, linker Arzt in diesen objektiven Zwängen. Auch Du musst von etwas leben... Du hast diese Rolle des privaten Unternehmers erst mal nicht freiwillig gewählt, wenn Du niedergelassener Arzt werden wolltest.

Winfried Beck: Nein, die ambulante Versorgung kannst Du in Deutschland nur als privater Unternehmer machen – bis auf die Anstellung in Polikliniken, was derzeit aber nicht vergleichbar ist. Und es ist auch überhaupt keine Frage, dass ich im Laufe der 26 Jahre, in denen ich das gemacht habe, faule Kompromisse gemacht habe, dass mir irgendwann auch dieses Denken ein paar Sachen kaputt gemacht hat. Und es wäre viel schlimmer, wenn ich nicht die Chance gehabt hätte, zu reflektieren in politischen Gruppierungen usw. Wer das aber nicht hat, der wird deformiert mit der Zeit. Das ist überhaupt keine Frage.

Eine andere wichtige Rolle – darauf hast Du ja schon oft aufmerksam gemacht – spielt die Pharmaindustrie. Du hast schon mehrfach beschrieben, wie Krankheiten, »Volkskrankheiten«, förmlich erfunden werden, z.B. Osteoporose. Ein britischer Pharmakonzern hat jetzt die sexuelle Funktionsstörung der Frau als Krankheit entdeckt und ein Medikament entwickelt dagegen, sozusagen Viagra für Frauen. Inwiefern beeinflusst hier die Pharmaindustrie auch das Verhalten der Ärzte?

Winfried Beck: Man muss vielleicht vorher noch zur finanziellen Seite etwas sagen. Eigentlich müssten die Ärzte interessiert sein an hohen Lohnabschlüssen; sie müssten – objektiv gesehen – daran interessiert sein, ja auch bei Streiks für höhere Löhne etc. mitmachen, sich vorne dran stellen und sagen: Jawohl, wir brauchen für die Metallarbeiter eine Lohnerhöhung, die saftig ist. Denn das ist eigentlich das Einkommen der Ärzte. Irrerweise ist es umgekehrt. Sie identifizieren sich eher mit der Pharmaindustrie oder überhaupt mit der Industrie, mit den Arbeitgebern, obwohl das objektiv falsch ist für sie.

Die Ärzte sind eben selbst Unternehmer. Da scheint doch das Sein das Bewusstsein zu bestimmen...

Winfried Beck: Ja, aber das ist dann etwas Ideologisches, nichts objektiv Rationales. Es ist ein: Wohin-ge-hören-wollen. Das sind die so genannten Zwischenschichten, die auch bei revolutionären Umwälzungen immer hochgefährdet sind. In der Nazizeit wurden sie Faschisten; das hätten sie ja nicht werden müssen. Es gab auch andere.

Bei uns haben sie sich – meine ich – ziemlich festgelegt in der Mehrheit. Das kommt unter anderem daher, dass die Industrie – und zwar die medizinische Geräte- und die Pharmaindustrie – sie von morgens bis abends und von der Wiege bis zur Bahre bearbeitet – ideologisch und ökonomisch. Das geht auf verschiedenen Schienen vor sich.

Zum einen schicken sie die Arzneimittelvertreter, die so genannten »Wissenschaftlichen Außendienstmitarbeiter«, die eine Unmenge Geld kosten und die nichts anderes machen, als ein gutes Geschäftsklima erzeugen zwischen Arzt und Industrie. Da wird dann mit diesem vereinzelten isolierten Arzt gesprochen über Kollegen, über den Urlaub, eine nette Atmosphäre geschaffen. Das brauchen die auch, weil sie ja alle kurz vor dem Burn-out stehen und mit niemand anderem reden als mit »Kundschaft« sozusagen. Und wenn dann mal so ein netter Pharmavertreter kommt, wird nebenbei erzählt, was es Neues gibt, und es werden ein paar Proben dagelassen. Das sind praktisch immer Medikamente, die es schon gibt oder die unnötig sind. Antibiotika oder andere hochwirksame Arzneimittel werden nicht dagelassen, weil sie zu teuer sind oder weil es sich nicht um Innovationen handelt. Das ist der eine Einfluss.

Der zweite ist: Sie machen »Fortbildungsveranstaltungen« – das ist ja bekannt –, in denen ebenfalls eine nette Atmosphäre hergestellt wird. Inzwischen wurde das ein bisschen eingeschränkt. Früher war es noch krimineller. Heute dürfen sie keine unmittelbare Verbindung mehr herstellen zwischen ihren Produkten und dem Vortrag. Aber es gibt da natürlich einen Stand und ein Büfett, und dann kann man Sachen mit nach Hause nehmen. Da gehen viele Ärzte hin. Zumindest gehen sie da mehr hin als zu nicht-gesponserten Veranstaltungen, die es ja auch gibt, z.B. von den Kammern.

Kann man einschätzen, welchen Umfang diese Veranstaltungen von der Pharmaindustrie einnehmen?

Winfried Beck: 80 Prozent würde ich sagen. Die anderen sind auch teuer, denn die muss man selbst bezahlen. Das kommt dazu.

Aber meiner Einschätzung nach ist der wesentlichste Einfluss der über die Fachpresse und zwar nicht über die Reklamen darin – das auch, das ist dann wie überall: Reklame wirkt. Klar –, sondern der Einfluss auf den redaktionellen Teil. Dadurch wird der Eindruck erweckt, dass die Ärzte meinen, sich gut fortzubilden, wenn sie das lesen. Das suggeriert erstens, dass Medikamente unheimlich wichtig sind – und zwar viel wichtiger, als sie in Wirklichkeit sind. Es muss dort bei jeder Krankheit immer irgendein Medikament im Spiel sein, sonst stimmt da etwas nicht. Dazu kommt, dass die meiste Forschung über Arzneimittel und ihre Wirkungen stattfindet – und nicht über Ursachen von Krankheiten oder Prävention –, weil das gesponsert wird. Das ist das eine und das andere, das noch Gefährlichere ist, dass die Pharmaindustrie bereits in der Lage ist – ich denke noch nicht länger als zehn Jahre – sozusagen Krankheitsbilder selbst zu definieren. Ihr Interesse ist dabei natürlich, dass es Krankheiten gibt, die massenhaft auftreten und die medikamentös zu behandeln sind.

Jetzt kann man sagen: Klar sollte man massenhaft auftretende Krankheiten behandeln, was soll man dagegen sagen? Problematisch wird es aber, wenn Krankheiten erfunden werden. Wenn kleine Störungen im Funktionieren des Organismus zur Krankheit gemacht werden, die man behandeln muss. Das berühmteste Beispiel sind die Wechseljahre und die Beschwerden mit den Hormonen: Jetzt hat eine große Studie gezeigt, dass die Frauen öfter an der Therapie gestorben sind als an den Beschwerden. Das wurde jahrzehntelang verdrängt. Oder ein anderes Beispiel: die Osteoporose. Die Pharmaindustrie hat nicht nur die Ärzte, sondern auch WHO-Gremien bei der Definition der Osteoporose beeinflusst. Also bei der Beantwortung der Fragen: Ist Osteoporose eine Erkrankung mit oder ohne Brüche, wieviel Knochendichte ist noch normal und wieviel nicht etc., wurden einfach die Werte gesenkt und die Knochenbrüche herausgenommen aus der Definition. D.h., man hat jetzt auch eine Osteoporose, wenn man keine Brüche hat und eine relativ – im Vergleich zu vorher – gute Knochendichte. Und sofort war das eine millionenhaft auftretende Erkrankung!

Soviel zur naturwissenschaftlichen Objektivität in der Medizin...

Winfried Beck: Ja, soviel zur naturwissenschaftlichen Objektivität, die gibt es nicht. Dahinter stecken Interessen, das ist klar. Und so kommt eine Krankheit nach der anderen dazu: der Reizdarm, die erektile Dysfunktion usw. Alles wird zu Krankheiten, die man dann behandeln kann und dann – weil es ja neue Krankheiten sind – gibt es entsprechend innovative Arzneimittel, die dem Patentschutz unterliegen und für die jeder Preis genommen werden kann. Die sind irrsinnig teuer.

Also da ist nichts heilig in diesem Geschäft.

Ein konkretes Problem liegt also in der Frage nach der Bewertung und Definition, was eine Krankheit ist. Könnte in dem Zusammenhang die Einrichtung eines staatlichen Qualitätsinstituts für die Medizin, wie es derzeit diskutiert wird, einen Fortschritt bringen?

Winfried Beck: Ja, aber ich würde sagen: Man muss es umgekehrt machen. Man muss langfristig dafür sorgen, dass z.B. die Drittmittelforschung aufhört oder andersherum gesagt: Es muss eine absolut strikte Trennung von Industrie und Forschung eingeführt werden. Alles andere ist Augenwischerei. Denn in einem solchen staatlichen Institut würden wieder irgendwelche Vertreter sitzen, die zwar sagen: Das und das dürft Ihr nicht. Aber es würde trotzdem gemacht. Wir müssen runter von den Drittmitteln. Darüber gibt es übrigens bei uns im VDÄÄ auch Diskussionen, weil manche meinen, dass das nicht geht, weil es dann ja überhaupt keine Fortbildung mehr gebe usw. Also ich bin der Meinung: Lieber gar keine als diese. Es gibt sie auch schon, und sie würde sich auch wieder rentieren. Nur das ist natürlich wirklich eine Geldfrage. Da haben wir im Moment einen Teufelskreis: Durch diese falschen Forschungsergebnisse wird wieder wahnsinnig viel Geld ausgegeben.

 

Teil II folgt in der nächsten Ausgabe des express.

* Winfried Beck hatte bis Ende 2002 eine orthopädische Praxis in Frankfurt/M und ist Vorsitzender des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte, VDÄÄ; Nadja Rakowitz und Rolf Schmucker arbeiten als wissenschaftliche Mitarbeiter am Institut für medizinische Soziologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 2/03

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