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Juri Martow

ver.di – der Geburtstag als Trauerfall?

Still wurde der Geburtstag begangen. Dabei hatte alles so rauschhaft begonnen. Grandios war die Gründung von ver.di im März 2001 in Berlin inszeniert worden. Aus der Asche der Altgewerkschaftskriege um Strukturen und Funktionen war der jugendliche Phönix Bsirske aufgeflogen und begeisterte die Delegierten mit seinem "Organize! Organize! ..." Ein Jahr danach liegt die Asche auf den Lippen vieler Ehren- wie Hauptamtlicher. Damit nicht genug, wird jetzt eine umfassende Strukturreform der gerade erst installierten Reformstruktur auf den Weg gebracht. Die Ausrede "Anlaufschwierigkeiten" gilt nicht mehr, fragt sich nur, ob die Methode der Problemlösung nicht selbst wieder zum Problem wird.

 

"Wir nehmen es jetzt schon von den Toten." Der das sagt, ist politischer Sekretär bei ver.di. Eine Witwe hat sich beschwert, dass ver.di noch Monate nach dem Tod ihres Mannes Mitgliedsbeiträge vom Konto des Toten abgebucht hat. Der Sekretär hat sich dafür entschuldigt, Sorgen bereiten ihm aber auch die Lebenden: "Wir haben jetzt schon Austritte von Mitgliedern, die noch gar nicht richtig eingetreten sind." Wie das? "In vielen Büros stapeln sich die Eintrittserklärungen, die Beiträge werden zwar abgebucht, aber die neuen Mitglieder sind noch nicht in der Mitgliederverwaltung eingetragen. Also hören oder lesen sie nichts von ihrer neuen Gewerkschaft. Das ist ein Kunden-Killer ...." Der letzte Hit war die Versendung von Werbeschriften in Industriebetriebe aus dem alten DAG-Bereich. Da erhielten IG Metall-BR-Mitglieder Post von ver.di, natürlich mit Eintrittsformular. Aber das Mitglieder-Betreuungs-System "MiBS" steht eh nur als Torso zur Verfügung. "Bei uns in den Bezirken – dort wo die Gewerkschaft ja Gewerkschaft für die Mitglieder ist", sagt ein anderer Sekretär, " – hapert es schlicht an der Messer-und-Gabel-Politik."

 

Politik ohne Messer und Gabel?

Dabei war doch die Mitgliedernähe, die verbesserte Betreuung als Dienstleistung das erklärte Ziel von ver.di. Mehr noch, es ist von den ersten Wochen nach der ver.di-Gründung auch das Versprechen von ver.di gewesen. Das gestylte Image bröckelt, das Lifting hielt nur eine Weile. Nun sieht die alte Dame noch älter und gebrechlicher aus als seinerzeit manche der Altgewerkschaften. Um so größer die Frustration all jener, die genau diesem Image glaubten und zuvor nicht den "Warentest" machten. Ein Rundmail zum ver.di-Geburtstag, von Frank Bsirske und Beate Eggert, wark leinlaut im Tenor. Die Ausrede "Anfangssschwierigkeiten" gilt nicht mehr. Reformen werden angekündigt, eine Strukturreform der gerade erst einjährigen Reformstruktur steht an. Wird das ein noch größerer Belastungstest für die Ausputzer an der Basis?

Aber was ist die Basis der Gewerkschaft? "Die Mitglieder", werden die meisten sagen, erfahrene Linke fügen ergänzen: die "aktiven Mitglieder". Und der Inhalt, der Basisinhalt des Ganzen? Alle Debatten um "Dienstleistung und Solidarität" bleiben abstrakt, wenn sie nicht am Kern des Ganzen ansetzen. Denn die Betreuung der einzelnen Mitglieder – und nicht vorrangig der Betriebsräte oder ehrenamtlicher Gremien – gehört zu den allerersten Basisbanalitäten einer Gewerkschaft. Professionalisierung der Organisation steht dazu nicht im Widerspruch, sondern ist Voraussetzung dieser Solidarbeziehung der Gewerkschaft zu ihren Mitgliedern.

Ein früher begeisterter ver.di-Befürworter bringt es so auf den Punkt: "Wir bewegen uns weit unter dem Niveau, das einst die ver.di-Kritiker kritisiert haben." Dagegen ein früherer Kritiker: "Es gibt unbestreitbar Vorteile oder Chancen. Man kann sie aber nur dann effektiv nutzen, wenn man laufend gegen offizielle Vorschriften verstößt."

 

1+1+1+1+1 = 5,99999?

Vielleicht sollten die Organisations- und Finanzverantwortlichen von ver.di einmal in die vielen – auch gewerkschaftsfreundlichen – Gutachten über die Folgen der unternehmerischen "Fusionitis" schauen. Man weiß ja, in wie vielen Fällen Unternehmensfusionen zwar um der erhofften Einsparungseffekte wegen stattfanden. Doch weiß man auch, wie teuer dieses Sparen manchem Unternehmen zu Stehen kam. Die Finanzkrise der Gewerkschaften, deretwegen ver.di in allererster Linie gegründet wurde, setzt sich in ver.di nicht nur fort, sie wird zum allseits strukturierenden Prinzip. Die Mitgliederentwicklung sieht im Großen und Ganzen weder rosig noch dramatisch aus, bislang verliert ver.di unterm Strich im selben Maße Mitglieder wie die Altgewerkschaften. Wenn nicht steigende Mitgliederzahlen, so doch Synergie-Effekte sollten die Finanzmisere mildern. Synergie?

Die Synergie-Formel bei ver.di scheint eine Art höhere Mathematik zu begründen: 1+1+1+1+1=5,9999999. Auf die Frage, warum man zu so hoher Miete in Berlin residiere, erhält man nämlich die beruhigende Antwort, es sei ja gar nicht so schlimm, die Mietsumme sei in etwa so hoch, wie die Kostenbelastungen der fünf früheren Hauptverwaltungen. Überhaupt Fragen und Antworten. "Fragen Sie Bsirske!" Warum löste man in so kurzer Zeit alle Hauptverwaltungen auf und zog nach Berlin? Warum ging man auf allen Ebenen gleich übereilt vor, so dass keine Ebene – Bund, Land, Bezirk – die andere hat stützen können? Warum? Die Frage an einige der Verantwortlichen gestellt, findet keine sonderlich befriedigende Antwort. Außer hinter vorgehaltener Hand: "Frag doch Bsirske!" Dabei steht der Name des Bundesvorsitzenden nur für das Prinzip, ganz schnell das Sein scheinen zu lassen und auf das spätere Sein des Scheins zu vertrauen. Der Umbau als Abrissunternehmen: Man hat sich das Abenteuer geleistet, alte Strukturen aufzulösen, bevor neue gebildet werden konnten.

Auskünfte dieser Art erhält man zurzeit in Hauptamtlichenkreisen, wo und wann immer man will. Weniger beredt dagegen zeigt man sich bei einem ganz anderen Finanzproblem, einem der dicksten Brocken im Minusgeschäft. Das ist die Beschäftigungssituation. Schildas Bürgermeister hat hier Politik gemacht. Um ver.di akzeptabel zu machen, gab man allen Beschäftigten eine Beschäftigungsgarantie bis zum Jahr 2007. Ein hart verhandelter Sozialplan reicht zwar vielen Beschäftigten nicht aus, belastet jedoch die Finanzen enorm. Und was tun, wenn der "Personalüberhang" so erdrückend ist wie die Anzahl der nicht oder viel zu spät besetzten Stellen? Bsirske fragen? "Nein", protestiert ein ver.di-Kritiker, "schick lieber van Haaren, Issen und Hensche eine Postkarte in den Ruhenstand: War ja mal nur so eine Idee?" Und die Delegierten auf den Gewerkschaftstagen, die für ver.di gestimmt haben? "Die haben doch heute noch feuerrote Augen, so viel Sand ist ihnen in die Augen gestreut worden ..."

"Bloß Schluss mit der Meckerei, endlich Politik machen!" Das unterschreiben alle, aber was tun mit dem schönsten Menü, wenn dazu Messer, Gabel, sogar Teller, Tisch und Stühle fehlen? Gerade weil die Messer-und-Gabel-Politik, und damit auch das Finanzregiment, ein höchstrangiges Politikum sein müsste, verselbstständigt sich das Finanzregiment und produziert fortwährend höhere Kosten des Sparens.

 

Strukturreform der Reformstruktur der Struktur...

Ob es ihn überhaupt gibt, und wenn – wo sitzt er bei ver.di, der "Laplacesche Dämon"? Das ist nämlich der gedachte Punkt, von dem aus alle Funktionen eines Systems zur selben Zeit einsehbar sind. Besser, es bleibt bei dem gedachten Punkt und niemand wird in die Lage versetzt, wirklich alles zur selben Zeit zu durchschauen. Schließlich sind die praktischen Erfahrungen mit den Kosten der Matrix-Bürokratie schon drückend genug. Die Belastungen treffen hier vor allem die Ehrenamtlichen, durch den Vorrang der Ehrenamtlichkeit und durch die Verdoppelung der Gremienarbeit kämen die wenigen Aktiven gar nicht mehr aus Gremiensitzungen heraus, ginge es immer streng nach Quotierungs- und Proporzvorschriften zu.

Natürlich sind es wieder die Kosten, die eine Reform notwendig machen. Auf den Weg gebracht wurde jetzt eine "Strukturreform-Kommission", die ein Jahr nach der bizarren Auffächerung von Matrix, Ebenen und diversen Ausschüssen und Koordinierungsgruppen den Kosten der Entropie beikommen soll. So gut wie unaufhaltsam schieben sich aber jetzt schon die Bugwellen der so genannten Organisationswahlen durchs Land. Denn erstmals sollen ja alle Vorstände aller Ebenen und Fachbereiche zumindest formal demokratisch gewählt werden.

Grundsätzlich wird man bei ver.di nur sehr wenige – nennen wir sie einmal die notorischen Vereinsmeier, deren Lebensinhalt aus Geschäftsordnungen besteht – finden, die einer pragmatischen Auflösung aller fatalen Kompromissbildungen und Overheads aller Art im Wege stehen würden. Aber sensible und leidenserprobte Funktionäre fürchten jetzt schon um die Folgen: "Vor ver.di sprachen wir nur über uns, in der Reformstruktur sprachen wir nur über uns. Sprechen wir jetzt nur noch über uns in der Strukturreform der Reformstruktur...?"

Was unterscheidet da die Optimisten von den Pessimisten? Die Pessimisten meinen, dass der Karren gegen die Wand gefahren sei. Die Optimisten bestreiten das: der Karren ist noch gar nicht los gefahren. Vielleicht hat er noch gar keine Räder? Ein Knirschen ist hörbar, es wird immer lauter. Kommt es nur von den Zähnen oder klingt es so, wenn ein Ozeanriese auf einen Eisberg trifft?


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