letzte Änderung am 21. Mai 2003 | |
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Wenn die Kollegen Schmoldt (IG Chemie), Zwickel (IG Metall) und Bsirske (ver.di) im Vorfeld der Bundestagswahl von der Wahl der CDU abrieten, weil im Falle ihres Wahlsieges die Tarifautonomie zur Disposition stehe, und dabei unterstellten, dass dies bei einer Wahl von Rot-Grün nicht der Fall sei, so lohnt es sich, auch nach der Wahl einen Blick ins Gesetz zu werfen, die geschichtlichen Hintergründe zu beleuchten und zu fragen, ob sich die hochgelobte Tarifautonomie und demzufolge der Flächentarifvertrag auch mit Hilfe der Gewerkschaften nicht schon in einem seit längerem andauernden Auflösungsprozess befinden.
Zur Geschichte: Im Jahr 1873 gelang es den Buchdruckern nach zahlreichen Resolutionen, örtlichen Streiks und Gründung eines Zentralverbands unter großen finanziellen und persönlichen Opfern, den ersten bedeutenden Tarifvertrag in Deutschland, nämlich für den gesamten industriellen Bereich abzuschließen. Trotz aller Schwierigkeiten, zu denen wiederkehrende ökonomische Krisen mit Lohnsenkungen und Massenarbeitslosigkeit hinzukamen, folgte auf den wegweisenden Buchdrucktarifvertrag von 1873 im Jahr 1899 der erste Bauarbeitertarifvertrag.
Es dauerte drei bis vier Jahrzehnte nach diesem Abschluss von 1873, bis Tarifverträge eine größere praktische Bedeutung erlangten. In der Hochkonjunkturphase von 1903 bis 1907 setzten sich Tarifverträge auch außerhalb des graphischen Gewerbes im Bau-, Holz-, Brauerei- und Schneidergewerbe sowie in Klein- und Mittelbetrieben der Metallverarbeitung durch. 1906 existierten bereits zwischen 3000 und 4000 Tarifverträge, im Jahr 1913 zählte man rund 13000 Tarifverträge für mehr als 2 Millionen Beschäftigte. Die Schwerindustrie war davon ausgeschlossen, weil der erbitterte Widerstand von Arbeitgeberseite Tarifverträge verhinderte. Bei den Tarifverträgen ging es grundsätzlich zunächst nur um die Frage der Lohngestaltung.
Den Durchbruch hinsichtlich der rechtlichen Erfassung und Normierung des Tarifvertrages brachte erst die Novemberrevolution des Jahres 1918 mit der »Verordnung für Tarifverträge«, welche dem Tarifvertrag die vollständige rechtliche Anerkennung verschaffte. Nachdem im Gesetz, betreffend den vaterländischen Hilfsdienst, die Gewerkschaften vom Gesetzgeber zum ersten Mal erwähnt wurden, kam es bereits unmittelbar nach der Revolution zu einer Vereinbarung zwischen den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerspitzenverbänden (Stinnes-Legien-Abkommen). Mit diesem Abkommen, das von der Reichsregierung veröffentlicht und ausdrücklich befürwortet wurde, wurden die Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft anerkannt, eine Beschränkung der Koalitionsfreiheit ebenso wie die Unterstützung der wirtschaftsfriedlichen Vereine (gelbe Gewerkschaften) verboten und die Regelung der Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter durch Kollektivvereinbarungen (Tarifverträge) zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften vorgesehen.
Auf Grundlage dieser Koalitionsvereinbarungen erließ der Rat der Volksbeauftragten im Dezember 1918 die Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten. Die Weimarer Reichsverfassung sicherte die dargestellten Errungenschaften schließlich verfassungsrechtlich ab.
In der Zeit der Weimarer Republik war das Tarifvertragsrecht immer größerer Kritik ausgesetzt, was zur Folge hatte, dass der Staat in diese Tarifautonomie regelnd eingriff. Während der Nazidiktatur wurden Gewerkschaften verboten, weil die Naziideologie, abgesehen von der Frage eines revolutionären Potentials in den Gewerkschaften, das es zu unterdrücken galt, auch nicht mehr einen »Interessengegensatz« vorsah, sondern »Kapital« und »Arbeit« gemeinsam für das große Ziel, die deutsche Herrschaft über die Welt, eintreten sollten. Durch das »Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit« vom Januar 1934 wurde die Tarifautonomie eliminiert. Nach einer langen Phase des Stillstands in der Arbeiterbewegung, die auch unter alliierter Verwaltung bis 1948, mit wenigen örtlichen und regionalen Ausnahmen und bei inhaltlicher Begrenzung (z.B. nur Festlegung der Lohnhöhe), ihre Fortsetzung fand, befasste sich erst im August 1948 der in Bonn zusammengetretene Parlamentarische Rat mit der Formulierung eines Koalitionsgrundrechts. Die Verfasser des Tarifvertragsgesetzes verzichteten jedoch darauf, eine Definition eines Tarifvertrags vorzulegen, sondern beschränkten sich auf Funktions- und Verfahrensregelungen, um wiederum den Tarifvertragsparteien alle Optionen beim Abschluss eines Tarifvertrags zu überlassen. Nach Inkrafttreten erfuhr das Tarifvertragsgesetz nur noch wenige gesetzliche Änderungen u.a. bei der Allgemeinverbindlichkeit (Arbeitgeber und Spitzenverbände müssen seitdem einem Antrag zustimmen und der Tarifvertrag muss die Mehrheit der Beschäftigten betreffen) und den »Spitzenorganisationen« (zu Gunsten der DAG, die bis dato nicht antragsberechtigt war).
Das Bundesverfassungsgericht und das Bundesarbeitsgericht konkretisierten das Tarifvertragsgesetz in ihrer Rechtsprechung, so dass heute zusammenfassend folgende Aussagen zur Tarifautonomie und zur Koalitionsfreiheit zu treffen sind:
1. Jeder hat das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, bestehenden Vereinigungen beizutreten, aus solchen Vereinigungen auszutreten und ihnen fernzubleiben. Ferner wird das Recht gewährleistet, sich in den Koalitionen zu betätigen. Alle Abreden, die dieses Recht einschränken, sind unwirksam. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind in ihrer Bildung, ihrer Existenz, ihrer organisatorischen Autonomie und ihrer koalitionsgemäßen Betätigung geschützt.
2. Tariffähige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen frei gebildet, gegnerfrei, auf überbetrieblicher Grundlage organisiert und unabhängig sein sowie das geltende Tarifrecht als für sich verbindlich anerkennen; ferner müssen sie in der Lage sein, durch Ausüben von Druck auf den Tarifpartner zu einem Abschluss zu kommen.
3. Löhne und sonstige Arbeitsbedingungen werden nicht vom Staat, sondern durch freie Vereinbarungen von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch Einzelarbeitsvertrag festgelegt.
Es ist, egal unter welchen parteipolitischen Regierungskonstellationen, vorerst nicht davon auszugehen, dass das Tarifvertragsgesetz direkt angegriffen wird. Stattdessen wird jedoch Druck auf die Gewerkschaften ausgeübt, sich zumal in Zeiten der Globalisierung, einer Parole, die für alle Deregulierungsprozesse herhalten muss mikro- und makroökonomisch so zu verhalten, dass Kapital und Parteien aller Couleur nicht mit »Liebesentzug« reagieren müssen. Der Beginn dieser Bewegung kann in den 70er Jahren festgestellt werden, als der Streik der ÖTV unter Heinz Klunker als Gefahr für die Regierung Brandt dargestellt und in der Folge über staatliche Lohnleitlinien sowie die Reglementierung von Streiks im öffentlichen Bereich diskutiert wurde. Seine Fortsetzung fand dies im »Bündnis für Arbeit« unter Helmut Kohl, bei dem die Arbeitgeber jede anstehende Tarifrunde auf der Tagesordnung haben wollten, und im »Bündnis für Arbeit und Standortsicherung« unter Rot-Grün, in dem den Arbeitgebern erstmals im Jahr 2000 der »Durchbruch« in der Frage der Lohnleitlinien gelang. Zwar legte man sich nicht auf eine fixe Prozentzahl fest, sondern wählte die Formulierung, dass das »Produktivitätswachstum« zu arbeitsplatzschaffenden Maßnahmen verwandt werden solle. Da der DGB und die im Bündnis vertretenen Gewerkschaften dem nicht widersprachen, war jedoch klar, dass die Tarifabschlüsse lediglich in Höhe des Inflationsausgleichs liegen konnten. Diese »klammheimliche« Aushebelung der Tarifautonomie führte nach Bekanntwerden zu erheblichen Eruptionen und Dementis in den Einzelgewerkschaften. Die Ergebnisse der Tarifauseinandersetzungen, die sich jeweils in einer Bandbreite von 1,8 bis 2,1 Prozent, also nur marginal über der Inflationsrate befanden, waren jedoch das traurige De facto-Resultat dieser Absprache. Die Zusage über die Schaffung neuer Arbeitsplätze wurde, wie zu erwarten war, nicht eingehalten, was viele Gewerkschaftsmitglieder im Bündnis zu verbalen Beschimpfungen der Arbeitgeberseite veranlasste. Doch wer immer noch nicht weiß, dass Wachstum der Produktivität durch entsprechende Lohnerhöhung oder Arbeitszeitverkürzung »abgeschöpft« werden muss, da Produktivitätszuwachs sonst zu Arbeitsplatzvernichtung führt, dem ist auch nicht mehr zu helfen.
Da Gewerkschaften, wenn auch mit Zeitverzögerung, lernfähig sind, kam es im Frühjahr 2001 zum »crash«, als die Metalltarifrunde auf die Agenda des Bündnisses gesetzt werden sollte. Dieser (viel zu späte) Ausstieg wurde weitgehend jedoch nur noch unter »Vermischtes« aufgenommen. Bereits einen Tag nach der Bundestagswahl war das »Bündnis« dann allerdings regierungsseitig wieder im Gespräch, die Arbeitgeberverbände ließen pressemäßig ihre prinzipielle Bereitschaft verkünden, knüpften dies jedoch an die Bedingung, dass nun auch über die »Tarifpolitik« verhandelt werden dürfe, während die Gewerkschaften sich in Schweigen hüllten. Es ist zu befürchten, dass eine Neuauflage folgt. »Steter Tropfen höhlt den Stein.«
Wenn Arbeitgeberverbände, Regierungsparteien und die meinungsbildende Presse führenden Gewerkschaftsvertretern einreden, sie hätten eine »staatstragende« Aufgabe, so ist es ratsam, den Weg frei zu machen, um nicht von den Berufenen überrannt zu werden. Die ebenso wie die Hartz-Kommission kurzfristig einberufene Rürup-Kommission ist ein beredtes Beispiel dafür. Um es nochmals ins Gedächtnis zu rufen: Ausgangspunkt für »Hartz« waren laut Bundesrechnungshof möglicherweise nicht korrekt geführte Statistiken über getätigte Vermittlungen der Landesarbeitsämter (in der Presse als »Vermittlungsskandal« tituliert). Diese Fehler wurden jedoch nicht substantiell hinterfragt, und sie wären sicherlich auch ohne Hartz zu bereinigen gewesen. Der dann mit »heißer Nadel« und unter Mitwirkung der Gewerkschaften »gestrickte« Bericht der Hartz-Kommission ist ein »Rundumschlag« gegen die Arbeitsämter und ihre Beschäftigten, gegen die Arbeitslosen, die nun nicht mehr Opfer des Arbeitsplatzabbaus, sondern Täter in der »Arbeitsverweigerung« sind, und gegen die Gewerkschaften die sich allerdings mit Hartz entschieden haben, eine Vermittlung in prekäre Arbeitsverhältnisse zulassen. Festzuhalten ist auch, dass den Gewerkschaftsvertretern in diesem Gremium jegliche demokratische Legitimation der Basis fehlt, obwohl darauf sonst immer, vor allem öffentlichkeitswirksam, Wert gelegt wird. Kein Ortsvorstand ohne Wahl durch die Mitglieder doch bei der Aufweichung der Tarifautonomie sehen wir es etwas »lockerer«. Zudem ist auch nichts darüber bekannt geworden, dass etwa eine Befragungsaktion unter den arbeitslosen Gewerkschaftsmitgliedern durchgeführt worden wäre, um deren Position zu den Vorschlägen der Hartz-Kommission zu ermitteln.
Abgesehen von der Tatsache, dass die in 13 Modulen präsentierten Maßnahmen der Hartz-Kommission nicht einen Arbeitsplatz mehr bringen, aber den Eindruck erwecken, dass es mehr angebotene als nachgefragte Arbeitsplätze gibt, werden diejenigen Beschäftigungsverhältnisse, die bislang nicht einem Tarifvertrag unterliegen, mit diesen Maßnahmen immer mehr ausgeweitet. Daran ändert sich auch nichts, wenn die Gewerkschaften mittlerweile genau für dieses Beschäftigungssegment recht zweifelhafte Tarifverträge abschließen.
Dabei sind diese Beschäftigungsverhältnisse nur ein Teil des Problems des Tarifvertrags/der Tarifautonomie. Nicht zu übersehen ist auch die langsam fortschreitende Erosion der Tarifbindung und die dadurch ad absurdum geführte Diskussion über die Tarifautonomie, z.B. durch
Trotz mehrerer tausend bundesweit existierender Tarifverträge unterliegen diesen Tarifverträgen immer weniger Beschäftigte. So sind beispielsweise im Rheinland-Pfälzer Einzelhandel annähernd 120000 Menschen beschäftigt, einer unmittelbaren Tarifbindung unterliegen aber, auch mangels einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung, nur annähernd 50 Prozent der Beschäftigten. Dass dadurch wieder Beschäftigungsverhältnisse mit einer 40 Stunden-Woche, 24 Tagen Jahresurlaub und 5 Euro Stundenlohn begründet werden, ist zwar nicht die Regel, aber auch nicht die zu vernachlässigende Ausnahme. Der Kollegin und es sind vorwiegend Frauen, die in solche Beschäftigungsverhältnisse gedrängt werden kann man es nicht verübeln, wenn sie sich, auch angesichts der Aussichtslosigkeit eines Arbeitsgerichtsprozesses, die Frage stellt, warum sie trotz ihres niedrigen Gehalts noch Gewerkschaftsbeiträge zahlen soll.
Zu guter Letzt lohnt es sich noch, einen Blick auf den Tarifvertrag im Speziellen zu werfen. Es ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Tarifverträge, zumindest im Manteltarifbereich und (noch) nicht im Lohn- und Gehaltsbereich, mit »Öffnungsklauseln« versehen sind. Mit diesen Öffnungsklauseln können dann die Betriebsparteien (Arbeitgeber/Betriebsrat) beispielsweise die Lage der täglichen, wöchentlichen oder jährlichen Arbeitszeit regeln. Dabei wird die Arbeitszeit an die Kapazitätsauslastung angepasst. Dies führt u.a. dazu, dass es bundesweit fünf Milliarden registrierter Überstunden bei vier Millionen Arbeitslosen gibt.
Es ist davon auszugehen, dass mit der Wiederaufnahme der »globalisiertenstandortlohnnebenkosten«-Debatte auch die Öffnungsklauseln und damit die Flexibilisierung der Löhne und Gehälter wieder auf der Tagesordnung stehen. Die Bankarbeitgeber machten dabei den Vorreiter, indem sie einen Tarifabschluss mit der Gewerkschaft ver.di verweigerten, weil diese sich nicht auf die Diskussion einließ, den Gehaltstarifvertrag in eine Festgehalts- und eine leistungsabhängige Komponente aufzuteilen. Nach monatlangem tariflosen Zustand haben die Arbeitgeber jetzt für eine ausgesuchte Zielgruppe den Einstieg geschafft. In anderen Branchen wird arbeitgeberseitig vorgeschlagen, bei drohender Zahlungsunfähigkeit eines Betriebs den Tarifvertrag auszusetzen oder die Anwendung des Tarifvertrags an die jeweilige Ertragskraft eines Betriebs zu koppeln.
Der Bundeskanzler hat dies durch seine Rede am 14. März 2003 nochmals ausdrücklich unterstützt.
Welche Schlussfolgerungen sind nunmehr zu ziehen?
* Peter Balluff ist Gewerkschaftssekretär bei ver.di in Mainz
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