Leserbrief zu
Leider konzentriert sich die gewerkschaftliche "Realpolitik" überwiegend
auf magere Lohnforderungen, die im Abschluss wie jetzt im Öffentlichen
Dienst deutlich unterboten werden. Es wurde hier ein Abschluss von 4,4 % auf
27 Monate ausgehandelt. Damit kommen wir rein rechnerisch auf eine jährliche
Tarifsteigerung von 1,95%. Abgezogen werden muss noch die jährliche
Verlängerung der Arbeitszeit von 0,4 % durch die Streichung eines freien
Tages . Daher hätte die große Tarifkommission betreffs "abschlussorientierte
Forderung" nicht soviel an Glaubwürdigkeit eingebüsst, wenn sie mit
einer 1+x % Forderung ins Rennen gegangen wäre. Wenn es sicht nicht um
Verlogenheit handelt, müssen die Verhandlungsführer der Gewerkschaft
an einem akuten Gedächtnisverlust leiden. Sie feierten nach der Tarifeinigung
sich selbst und redeten den Tarifabschluss schön. "Unter 3%+x geht
nix", das behaupteten ver.di-Chef Bsirske und andere "kühne Verhandlungsstrategen"
vor und auch noch während der Tarifrunde.
Die Kolleginnen und Kollegen der unteren Lohn- und Gehaltsgruppen sind nach
Abzug der Abgaben-, Steuererhöhungen und Teuerungsrate wiedereinmal
mit Reallohnverzicht konfrontiert. Schon seit Jahren werden von Teilen der Basis
Festgeldforderungen aufgestellt, um die Einkommensentwicklung der unteren Lohn-
und Gehaltsgruppen zu verbessern. Aber die ver.di-Führung hielt an dem
alten Dogma fest, eine Prozentforderung zu stellen und ließ es zu, dass
weiter die Schere zwischen den unteren und oberen Lohn- und Gehaltsgruppen aufgeht.
Das folgende Rechenbeispiel verdeutlicht die Problemlage: Bei einem Bruttogehalt
von 1500 Euro bedeuten 4,4 % nur 66 Euro Brutto mehr und bei 4500
Euro Brutto sind es 198 Euro. Bei letzterem sind auf die Tarifsteigerung keine
Sozialabgaben zu zahlen, da der betreffende Angestellte oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen
liegt. Daher dürften Abteilungs- und Referatsleiter trotz des mageren Tarifabschlusses
real mehr im Geldbeutel haben. Führende Gewerkschaftsfunktionäre machen
sich mit dieser ungerechten Tarifpolitik verdächtig, Lobbyarbeit in eigener
Person zu machen. Sie selbst befinden sich in der oberersten "Gehaltsliga"
und profitieren daher von den Prozentforderungen.
Fazit ist, dass die defensive aber auch unsolidarische Gewerkschaftspolitik
in den eigenen Reihen die Arbeitgeber zu immer dreisteren Angriffen einladen
wird. In Berlin wurde bereits der Anfang gemacht: Der Senat ist aus dem Bundesflächentarifvertrag
ausgetreten und den Landesbeamten und angestellten Lehrern wurde ab Januar
2003 eine 42 Stunden Arbeitswoche verordnet. Bund-, Länder- und Kommunen
wollen weiter wie in den letzten Jahren den massiven Stellenabbau und ihre Privatisierungspolitik
fortsetzen. Einmal mehr wird sich die Einsicht durchsetzen, dass Lohnverzicht
keine Arbeitsplätze sichert. "Arbeiten und trotzdem arm" in den Niedriglohngruppen,
ein ausgedünnter Öffentlicher Dienst, der kaum noch seine gesellschaftlichen
Aufgaben wahrnehmen kann- diese Entwicklung wird weiter durch die fatale Tarifpolitik
der ver.di-Führung beschleunigt. Zudem gab der bewiesene Wille der Gewerkschaftsführung
einen Streik im Öffentlichen zu verhindern für die Schröder Regierung
grünes Licht auch im Jahre Fünf ihres Bestehens die Umverteilungspolitik
mit ungebrochener Kontinuität zu Gunsten der Reichen fortzusetzen.
Es ist zu hoffen, dass der Unmut der Basis nicht in Resignation und Austritten
aus der Gewerkschaft mündet. Stattdessen gilt es für die Kolleginnen
und Kollegen in den Basisstrukturen aktiv zu werden und sich in die gewerkschaftliche
Politik einzuschalten, eigene Forderungen in die Gewerkschaftsgremien einzubringen
und den führenden Gewerkschaftsfunktionären kräftig von unten
einzuheizen und wenn sie nicht willens sind, sie abzulösen und mit kämpferischen
Kolleginnen und Kollegen von der Basis zu ersetzen. .
Die Tarifrunde im Öffentliche Dienst ist noch nicht ganz Geschichte. In
Berlin gilt es nun für die 70 000 Senatsbeschäftigen einen Annerkennungstarifvertrag
und die Rücknahme der Arbeitszeitverlängerung für Beamte und
angestellte Lehrer zu erstreiken. Es ist nicht zu erwarten, dass der Senat
am Verhandlungstisch ohne vorgehenden Streik einlenken wird. Fragwürdig
ist, ob eine notwendiger Arbeitskampf durchzustehen ist, wenn die Basis allein
das Zepter des Handelns der Gewerkschaftsführung überlässt. Es
ist zu hoffen, das die Basisstrukturen sich in die Auseinandersetzung aktiv
einschalten und jeden Schritt der Verhandlungsführung kontrollieren. Der
Senat hat angedroht die Beamten im Falle der Beteiligung an einem Streik mit
.Abmahnungen und Kündigungen zu bestrafen. Dies ist aber kaum machbar,
wenn alle Beamte streiken. Die große Tarifkommission hat sich nach den
Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst solidarisch mit den Berliner
Senatsbeschäftigten erklärt. Wie diese Solidarität konkret aussehen
wird, darüber wurde nichts verlautbart. Ein konsequenter Arbeitskampf in
Berlin und massive bundesweite Solidaritätsstreiks und Protestdemos könnten
in Berlin einen Annerkennungstarifvertrag erzwingen und hiermit würde der
Angriff auf den Flächentarifvertrag erfolgreich verteidigt werden. Ver.di,
GEW und die GdP hätten die Macht dazu, wenn sie gemeinsam und entschlossen
handeln.
Jörg Wuttke
Gruppe sozialistischer Gewerkschafter (GSG) Berlin