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BAD KISSINGEN - ,,Nein, blauäugig bin ich nicht." Eigentlich hat einer wie Walter Bauer solche Bekenntnisse nicht nötig. Der Mann ist schließlich Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats. Einer, der nicht bloß zu kämpfen, sondern auch kühl zu kalkulieren versteht. Aber an diesem zweiten Tag der Betriebsräteversammlung in Bad Kissingen läuft die Diskussion allmählich heiß. Das Streitobjekt: der Zusatztarifvertrag für den Standort Schwieberdingen, nach dem Ingenieure freiwillig 40 statt 35 Stunden arbeiten sollen.
Da wird gemahnt, ja gewarnt, das sei nur der Anfang vom Ende der 35-Stunden-Woche. Als bekämen die Arbeitgeber mit dem Finger gleich die ganze Hand. Das bringt auch einen wie Walter Bauer aus der Reserve. Jeder weiß, dass der Mann nicht blauäugig ist. doch jetzt muss es mal gesagt werden.
Was aber ist Sache? Walter Bauer holt ziemlich weit aus - wohl wissend, dass er heute nur so überzeugen kann: Schon lange beklage die Geschäftsführung, wie schwierig es doch sei, Hochschulabsolventen für die 35-Stunden-Woche zu gewinnen. Und jene 18 Prozent der Belegschaft, die 40-Stunden-Verträge haben dürften, seien an einem Standort wie Schwieberdingen längst ausgeschöpft. Die Firmenseite sehe darin eine Benachteiligung gegenüber anderen Unternehmen und Tarifgebieten.
,,Damit sind wir konfrontiert", sagt Bauer, um sogleich ein kräftiges ,,Andererseits" folgen zu lassen: Auch für die Betriebsrate stehe einiges auf dem Spiel, nämlich die Tarifbindung für das künftige Entwicklungszentrum in Abstatt, das Schwieberdingen entlasten solle. Und Bauer wird deutlich: ,,Mir ist ein Ergänzungstarifvertrag lieber als eine tariffreie Zone." Jedenfalls habe der Gesamtbetriebsrat die IG Metal1 gebeten, Verhandlungen aufzunehmen. Das sei besser, als ständig betrieblichem Druck ausgesetzt zu sein. Und eine .,Verräterdiskussion" könne erst gar nicht aufkommen. Inzwischen liege ein ,,Eckpunktepapier" vor, das die bisherige 18-Prozent-Quote für die 40-Stünder ersetze. In Zukunft könnten Beschäftigte der oberen Tarifgruppen auf freiwilliger Basis bis zu fünf Stunden zusätzlich arbeiten. Davon werde die eine Hälfte ausbezahlt, die andere über Langzeitkonten ausgeglichen. Ein Fahrensmann wie Walter Bauer sieht das als ,,Kompromiss".
Ein Kämpfer wie Helmut Woda, nicht minder redegewandt die Ziele der 35-Stunden-Woche beschwörend, sieht das ganz anders. Rundheraus, als könne er kompromissfrei bleiben, bezeichnet der Betriebsrat aus Schwieberdingen den Ergänzungstarifvertrag als ,,De-facto-Einführung der 40-Stunden-Woche für Ingenieure". Dies konterkariere den Kampf um die Arbeitszeitverkürzung. ,,Und was in Schwieberdingen geprobt wird", malt Woda den Teufel an die Wand, ,,steht anderen Bosch-Bereichen noch bevor." Vor einer Ausweitung könne er nur warnen.
Er wolle nicht erst im nachhinein sagen, ,,ich hatte recht". So spricht einer, der hinter jedem ohnehin schon schwierigen Zug noch dunklere Absichten des Gegners wittert. Das ist der Moment, der Walter Bauer zur an sich unnötigen Beteuerung treibt, auch er sei nicht blauäugig. Aber einer wie Bauer wägt die Absichten des Gegners mit den eigenen ab. ,,Lieber Helmut", sagt er, ,,vielleicht hast Du recht, aber wir können dem Thema nicht ausweichen. Wir leben nicht in einer chemisch reinen Welt."
Gewiss, räumt Bauer ein, der Schwieberdinger Betriebsrat habe durch sein ausdauerndes, ja hartnäckiges Halten der 18-Prozent-Quote die Kompromissbereitschaft der Arbeitgeberseite erst ermöglicht. Aber es müsse zu denken geben, dass nicht wenige Jungingenieure aus eigenem Antrieb zu einer tariffreien Gesellschaft wie Asset gewechselt seien. Die Welt der Metaller, sie ist nicht mehr so klar und rot, wie sie einmal war.
Wirklich nicht? An diesem Tag verabschieden die Betriebsräte noch einstimmig eine Solidaritätsadresse für das Kunststofferzeugnisse-Werk im spanischen Aranjuez. Dort sollen die Tage von Bosch bald vorbei sein. Wie der eigens aus Spanien angereiste Javier Romeo berichtet, sei der Verkauf geplant - es drohe der Verlust der Tarifbindung, sprich: weniger Lohn, mehr Arbeit. Hier gibt es keine Diskussion, sondern Akklamation - und später heben alle Betriebsräte, von Bauer bis Woda, ihre Hand für die Solidaritätsadresse. Doch bleibt von diesem Tag der Eindruck, dass neben der Einigkeit auch die Klugheit stark macht.
Ludger Meyer
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