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Der New Yorker "Aufbau" veröffentlichte im März dieses Jahres die Geschichte eines Möbelverkaufs. Stattgefunden hatte er 1938; Verkäuferin war eine Jüdin, die Deutschland verließ, Käufer die Stadt Lauf an der Pegnitz. Eine Rolle spielt dieser Besitzwechsel noch heute, weil die Nichte der inzwischen verstorbenen Frau die Möbelstücke im Archiv der Stadt vor einiger Zeit ausfindig gemacht hatte. Der Archivar bestätigte ihr auf Anfrage, daß es eine Auflistung der benannten Möbelstücke gebe und diese sich noch im städtischen Besitz befänden. Die Aussichten der Nichte, die Einrichtungsgegenstände als Erinnerung an ihre Familie zurückzuerhalten, verschlechterten sich jedoch durch einen Brief des Bürgermeisters, in dem dieser mitteilte, die Möbel seien laut vorliegender Quittung mit 540 Reichsmark ordnungsgemäß erworben worden, hätten wegen Pflege und Erhalt seit mehr als 60 Jahren erhebliche Unkosten verursacht und wären ohnehin nicht mehr auffindbar.
Lassen wir unberücksichtigt, daß die ursprüngliche Besitzerin immer davon erzählt hatte, ihr seien die Möbel zu einem symbolischen Kaufpreis von einer Reichsmark genommen worden, werten wir auch nicht die städtische Einlassung, die Unterschrift auf der Quittung sei so klar, daß nicht unter Zwang unterschrieben worden sein könne ("dann hätte ihre Hand doch zittern müssen"), übergehen wir schließlich, daß nach bundesdeutschem Rechtsverständnis Besitzübertragungen von Juden nach 1935, also nach Erlaß der "Nürnberger Gesetze", grundsätzlich nicht als "freiwillig" gelten, so ist doch allemal die Hartnäckigkeit bemerkenswert, mit der die Aneignung selbst von Gütern des täglichen Gebrauchs gegenüber den wenigen Überlebenden einer systematischer Vernichtung preisgegebenen Familie behauptet wird. Sicher, es handelt sich hier um eine wenig spektakuläre Geschichte, die angesichts des weiten Feldes übergangenen Unrechts nach 1945 kaum erwähnenswert scheint, doch zeigt sie in Form alltäglicher Begebenheit ein im Hinblick auf Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie auf Vermögensaneignungen durch deutsche Banken maßgebliches Moment offizieller Politik.
Gemeint ist hier nicht, daß die deutsche Seite Zwangsarbeit nicht als Entschädigungsgrund anerkannt hat oder daß das jetzige Abkommen diverse Opfergruppen weiterhin aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausschließt. Angesprochen ist vielmehr die neben aller Gedenkrhetorik stets präsente Kampfhaltung, die Zugeständnisse nur erlaubt, wenn die Umstände ein anderes Vorgehen unmöglich machen. Der US-Richterin Kram, die über die Abweisung von Sammelklagen gegen deutsche Banken wegen bis heute nicht entschädigter unrechtmäßiger Aneignung jüdischen Besitzes zu entscheiden hat, war es vorbehalten, diese Haltung auf simple Weise sichtbar zu machen: Sie nahm die Verantwortung der Wirtschaft ernst.
Mit dem Fall betraut, hatte sie umgehend festgestellt, sie sehe eine vertragsgemäße Fondsausstattung als elementare Voraussetzung für eine Klageabweisung und damit für die Weiterleitung der Kläger an die deutsche Stiftung an. Das wurde hierzulande zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter beachtet. Statt dessen gab man sich überrascht, als die Richterin den Beschluß verkündete, sie sei außerstande, unter den gegebenen Bedingungen die Sammelklagen abzulehnen und NS-Verfolgten damit den Rechtsweg abzuschneiden. Erst jetzt fand sich die Wirtschaft bereit, ihren Pflichtbeitrag von 5 Milliarden Mark zu garantieren, weigert sich aber nach wie vor, ihn - wie ebenfalls gefordert - an die Stiftung zu überweisen.
Doch handelt es sich bei diesem Konflikt nur um die Oberfläche des Problems. Weitaus größere Sprengkraft dürfte die Ernsthaftigkeit haben, mit der die Richterin prüft, ob die im Abkommen nicht berücksichtigten NS-Verfolgten durch den Ausschluß des Rechtswegs einen nach rechtsstaatlichen Prinzipien nicht zu verantwortenden Schaden erleiden. Dieser Frage geht sie am Beispiel eines konkreten Falls nach. Es handelt sich um das Abkommen, das die Bank Austria analog zum deutschen Vorgehen mit NS-Verfolgten wegen bisher nicht entschädigter Vermögensverluste schloß. Die getroffene Vereinbarung enthält allerdings die Weigerung des Geldhauses, für die Zeit nach dem "Anschluß" Österreichs, in der es nebst Vorgängerunternehmen unter Kontrolle deutscher Banken stand, entsprechende Zahlungen zu leisten. Man einigte sich darauf, daß dieser Betrag - 45 Millionen Dollar - von denen zu entrichten sei, die damals aus Übervorteilung und Raub den Nutzen zogen. (Gleichzeitig war man so freundlich, den Rechtsanwälten jede für notwendig gehaltene Archiveinsicht zu gewähren, was die deutsche Seite niemals auch nur in Erwägung zog.) Im deutschen Stiftungsfonds sind die finanziellen Mittel für eine solche Leistung aber nicht enthalten, so daß die Banken diesen Fall separat regeln müßten. Hierzu sind sie nicht bereit, denn - Stichwort Globalabkommen - eine zentrale Bedingung der Wirtschaft für die Zahlung der nach Steuern 2,5 Milliarden Mark ist, sich auf diese Weise aller Verpflichtungen zu entledigen. Ließen sie sich auf die Forderung ein, müßten sie ihr eigentliches Anliegen aufgeben, mit dem Abkommen einen endgültigen Schlußstrich unter alle Forderungen von NS-Verfolgten zu ziehen.
Diese Kopf-oder-Zahl-Situation wirft noch einmal ein Schlaglicht auf einen Grundzug der intendierten Bundesstiftung, der in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielt: Eventuelle Zahlungen an die wenigen heute noch lebenden Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter konnten erst deshalb vereinbart werden, weil diejenigen von ihnen, die in den USA die Möglichkeit zur Klage haben, hierauf - und damit auf eine eventuell weitaus höhere Entschädigung als von der Bundesstiftung vorgesehen - verzichteten. Ihre Sammelklagen wurden deshalb (bis auf ein Berufungsverfahren) bereits Ende letzten Jahres mit Zustimmung der Kläger abgewiesen. Gleichzeitig formulierte die US-Regierung ein "Statement of Interest", das die Justiz darauf verweist, daß die Verhandlung von Entschädigungsklagen vor amerikanischen Gerichten nicht im außenpolitischen Interesse der USA liege. Sie machte so ihrerseits den Klageweg weitgehend "dicht".
Gelingt das Vorhaben gemäß den deutschen Erwartungen, verschlechtert sich die internationale Rechtssituation für die weiterhin übergangenen NS-Verfolgten erheblich; es läge fast ausschließlich im Ermessen deutscher Entscheidungsträger von Justiz bis Politik, über ihre Forderungen zu entscheiden. Der Kreis der Betroffenen reicht von den Opfern des Wehrmachtsmassakers im griechischen Dorf Distomo bis zu den jüdischen Gemeinden in der Slowakei. Letztere versuchten nach langen ergebnislosen Verhandlungen mit der Bundesregierung Ende März vor einem Berliner Gericht unter anderem den "Anstand" einzufordern, daß die deutsche Regierung wenigstens durch Zahlungen für Gräberpflege und religiöse Einrichtungen einen finanziellen Ausgleich dafür schafft, daß die slowakischen Juden in Form einer "Umsiedlungssteuer" die Kosten für ihre Deportation und Vernichtung aufbringen mußten. Sie scheiterten auch diesmal.
Internationaler moralischer, politischer, juristischer und wirtschaftlicher Druck führte nach dem Abschluß des 2+4-Vertrags dazu, daß man auf deutscher Seite in einigen Fällen wie beim Zwangsarbeitskomplex die Haltung grobschlächtiger Ignoranz ablegte. Die Position der Richterin Kram stellt die Wirtschaft und letztlich die deutsche Gesellschaft insgesamt jedoch erneut vor die Entscheidung, ob sie sich den Anliegen der NS-Verfolgten mit der Bundesstiftung nur entledigen wollen oder ob sie über die Einsicht verfügen, daß die geschichtliche Verantwortung gebietet, auch diejenigen noch lebenden Opfer ihrer Verbrechen zu entschädigen, die aufgrund der im Londoner Abkommen von 1953 aufgeschobenen Reparationsforderungen - hierunter fallen unter anderem die individuellen Ansprüche von ausländischen Verfolgten - ihr Recht nie einfordern konnten und im jetzigen "Globalabkommen" unberücksichtigt bleiben.
Erste Positionierungen waren jedoch eindeutig. "Sie (Richterin Kram) nimmt eine Million Zwangsarbeiter in Geiselhaft", kommentierte Otto Graf Lambsdorff den Umstand, daß die weiterhin andauernde deutsche Zahlungsverweigerung international einen katastrophalen Eindruck hinterläßt. Im Feuilleton der FAZ wurde die Richterin dann kongenial als "Geiselnehmerin" bezeichnet. Dabei dürften es die Damen und Herren eigentlich besser wissen. In wessen Interesse lag es denn, Zwangsarbeitsabkommen und Ausgleich von Vermögensschäden miteinander zu verbinden? Auf diese Weise konnten Banken und Versicherungen schnell ein trockenes Plätzchen finden, als wider Erwarten im Zuge des schweizerischen NS-Raubgold-Skandals ihre schmutzigen Geschäfte im Zuge der "Arisierung" und ihre führende Rolle beim Raubgoldhandel thematisiert wurden. Unverhofft kam das für sie und die bereits großmundig über eidgenössische Schuld spekulierende deutsche Öffentlichkeit deshalb, weil zuvor exzellent bezahlte wissenschaftliche Topteams in den Archiven der Banken dergleichen nicht hatten auffinden können.
Es besteht kein Grund, die finanziellen Leistungen an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter weiter hinauszuzögern. Denn die juristisch ausschlaggebenden Klagen, von denen im Berliner Abkommen als Voraussetzung für den Zahlungsbeginn die Rede ist, sind mit der Rücknahme der Sammelklagen zu diesem Punkt vom Tisch. Die Frage bräuchte also lediglich von den Vermögensfragen abgekoppelt zu werden, im übrigen eine Forderung, die seit langem im Raum steht. Der jetzt vernehmbare Einwand seitens der Wirtschaft, eine hierfür notwendige Änderung des Stiftungsgesetzes verstoße gegen die legislative Zuverlässigkeit des Vertragswerks, hat diese wenig beeindruckt, als sie im Zusammenhang mit ihren finanziellen Schwierigkeiten vor einiger Zeit selbst den Vorschlag machte, durch eine Gesetzesänderung den Beitrag der staatlichen Unternehmen ihrem Fondsanteil gutzuschreiben. Wer wen für welchen Zweck als Geisel zu benutzen versucht, wird an dieser Haltung ganz nebenbei mehr als deutlich.
Statt aus Achtung vor den Opfern unverzüglich mit den Auszahlungen zu beginnen, wird jetzt ein offensichtlicher Konfrontationskurs eingeschlagen. Dabei verläßt man sich nicht mehr allein auf eine ebenso spontane wie effektive Ablehnungshaltung, die vom Kleinstadtbürgermeister bis zum Bundeskanzler reicht, sondern versucht dezidiert, die Reihen zu schließen und so verstärkt Druck auszuüben. Seit Gerhard Schröder auf die Rolle des politischen Moderators verzichtete, sich statt dessen von der Wirtschaft beauftragen ließ, Washington bei seinem jüngsten Besuch eine verbesserte Version des "Statement of Interest" abzuhandeln, und mit leeren Händen zurückkam, wird mobilisiert.
Gegen den Willen einiger Opfervertreter verabschiedete das Stiftungskuratorium eine Erklärung, die mit Hinweis auf die Notlage der Opfer zur Abweisung der Klagen in den USA auffordert. Kurz darauf votierte der Bundestag mit großer Mehrheit für eine ähnliche Resolution. Unabhängig vom Ergebnis dieses Unterfangens und unabhängig davon, ob Richterin Kram sich dem Druck beugt oder nicht: Ein Zahlungsbeginn für die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ohne Klärung der von ihr aufgeworfenen Fragen im Sinne der NS-Verfolgten weist immer auch auf all jene hin, die weiterhin von materiellen Leistungen ausgeschlossen bleiben.
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