letzte Änderung am 06. Juni 2002

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Der 1. Mai – vor 29 und vor 69 Jahren

Edgar Weick in der Dokumentationsreihe des express*

Einmal im Jahr demonstrieren die Gewerkschaften öffentlich, dass die Arbeiterschaft in diesem Staat mehr zu fordern hat, als nur das, worüber gerade verhandelt wird. Der »Tag der Arbeit« zwingt sie, das Programm der Gewerkschaften öffentlich zu vertreten. In einer Mai-Losung soll es zum Ausdruck kommen. In diesem Jahr in den drei Worten: »Mitdenken – Mitbestimmen – Mitverantworten«.

Für viele Arbeiter, Angestellte, Beamte, für deutsche und ausländische Kollegen hat sich an diesem Tag ein Hauch von Arbeiterbewegung erhalten. Sie demonstrieren öffentlich, dass es in diesem Staat noch Arbeiter gibt, die zuerst einmal Arbeiter sind, bevor sie Bürger sein können. Sie demonstrieren, dass sie Gewerkschafter sind und merken doch zugleich, dass zwischen ihren Interessen und den Forderungen, die für sie verkündet werden, keine so rechte Übereinstimmung mehr besteht. Sie sind auch für Mitbestimmung, doch ihre Mitbestimmung sieht anders aus als die, von der geredet wird. Sie sind auch für soziale Gerechtigkeit, doch sie wissen genau, dass es diese in diesem Gesellschaftssystem nicht geben wird. Sie fordern auch mehr Rechte für den Arbeiter, aber sie kennen auch die Macht der Herrschenden, und so zweifeln sie, ob es mit den Rechten alleine schon anders werden wird.

Für die meisten Arbeiter ist der 1. Mai ein Feiertag. Zum Ausruhen. Für die Familie. Sie wollen ihre Ruhe haben und in Ruhe gelassen werden. Sie sind froh, dass sie die Stunden bezahlt bekommen, die sie an diesem Tag nicht arbeiten müssen. Für sie sind die Reden, die an diesem Tag gehalten werden, nur ein Gerede.

Die Gewerkschaften, das sind für sie auch »die dort oben«. Abends in der Tagesschau können sie nicht so recht unterscheiden, ob gerade ein Minister, einer von der CDU oder ein Gewerkschaftsvorsitzender redet. Sie reden alle in der gleichen Sprache. Und wenn einmal von ihren Problemen die Rede ist, dann werden sie das Gefühl nicht los, dass sich doch nichts ändern wird. Sind diese Arbeiter, die froh sind, einen Tag Ruhe zu haben, die misstrauisch sind, sich lieber um ihre Familie als um die Politik kümmern, deswegen schon schlechtere Arbeiter?

Deutlicher als sonst geht an diesem Tag ein Riss durch die Arbeiterschaft. Es scheint fast so, als interessieren sich die einen für die anderen nicht mehr. Auf die, die daheim bleiben, wird geschimpft. Die Daheimgebliebenen haben für die anderen oft nur ein mitleidiges Lächeln übrig. Wer die Feiern vorzubereiten hat, der hat inzwischen auch andere Sorgen, als sich um die zu kümmern, die den 1. Mai auf ihre Weise feiern wollen. Ihr Problem ist es, sich die »Radikalen« vom Hals zu halten und dafür zu sorgen, dass alles ordentlich läuft.

Die Demonstrationen und Kundgebungen am 1. Mai werden seit ein paar Jahren oft stärker von politischen Gruppen der Studenten besucht als von Arbeitern. Kommunistische Gruppen und Parteien treten auf, reden und agitieren im Namen der Arbeiterklasse, verkünden Kampfparolen und Siege – und interessieren sich oft wenig für den Arbeiter, der neben ihnen steht. Und viele Arbeiter werden nur schwer verstehen können, was da so gefordert und vertreten wird. Die Selbstdarstellung dieser Linken wirkt abschreckend und abstoßend.

 

Was am 1. Mai passiert hat für uns alle Folgen

Was am 1. Mai passiert und nicht passiert, das hat für uns alle Folgen. Nicht weil es der 1. Mai ist. Das Verhalten der Arbeiter, das Auftreten der Gewerkschaften, auch was Sozialisten an diesem Tag sagen und tun können, das alles lässt beispielhaft erkennen, ob die Arbeiterbewegung in der Bundesrepublik politisch handlungsfähig ist und zu einer sozialistischen Strategie gefunden hat.

Der 1. Mai soll dabei nicht überbewertet werden. Viele, die die Reden und Deklamationen nicht mehr hören können und daheim bleiben, sind im Betrieb aktive Kollegen. Der Kampf in den Betrieben ist wichtiger als die »Kampfdemonstration« mit roten Fahnen und Spruchbändern. In den Betrieben und Verwaltungen wird die Arbeiterklasse lernen, wie dem Kapital die Macht zu entreißen ist. Und auch das wird nicht auf einen Schlag gehen.

Dennoch sollten wir die Erfahrungen, die wir mit dem 1. Mai machen, ernst nehmen. Wenn es uns nicht gelingt, Massen zu aktivieren und für unsere Ziele zu gewinnen, dann bleiben auch unsere politischen Ziele nur Forderungen, über die man reden und schreiben kann. Und der größte Teil der Arbeiterschaft bleibt den Verführungen des Gegners ausgesetzt. Die Bewegung, die in den letzten Jahren in den Betrieben in Gang gekommen ist, kann zurückfallen.

Von den Spitzenfunktionären, die in der Organisation unsere Interessen vertreten, kann heute nicht viel erwartet werden. Ihr Interesse, die Massen in den Betrieben zu mobilisieren, hat merklich nachgelassen. Betriebsnahe Bildungsarbeit, betriebsnahe Tarifpolitik, Mitbestimmung am Arbeitsplatz, darüber redet man heute in den Gewerkschaftshäusern nicht mehr so gerne. Und die wenigen Kollegen in der Organisation, die vor Jahren mit uns die Ansätze einer neuen Gewerkschaftsstrategie entwickelt haben, haben es inzwischen selbst schwer, an diesen Ansätzen noch festzuhalten.

Die Basis bewegt sich nach links, die Spitzen und der Apparat der Organisation bewegen sich nach rechts. Viele Arbeiter denken inzwischen darüber nach, ob das so sein muss. Vielen fällt es sogar noch schwer, diese Entwicklung so zu sehen, wie sie sich vor unseren Augen abspielt. Gibt es dafür objektive Gründe, oder liegt es nur an den hauptamtlichen Funktionären?

Die Gewerkschaften erfahren in den letzten Jahren stärker als früher, welchen Belastungen sie ausgesetzt sind, wenn sie sich auf eine sozialpartnerschaftliche Interessenvertretung einlassen. Nur Vertragspartei im Tarifkonflikt zu sein, das war denen zu wenig, die die gesellschaftlichen Widersprüche durch Integration der Arbeiterklasse in diese bürgerliche Gesellschaft aufheben wollten. Die Gewerkschaften drängten sich dem Kapital als Partner auf. Und sie erhofften sich davon, dass dann Konflikte partnerschaftlich geregelt werden. Und sie beklagten sich dann auch, wenn die kapitalistischen Unternehmer nicht dazu bereit waren, sich ihrerseits als Partner zu verstehen.

Dabei sprechen alle Erfahrungen dagegen, vom Kapital etwas anderes zu erwarten, als dass es eben auf kapitalistische Weise die eigenen Interessen vertritt. Und nach allen Erfahrungen ist auch von diesem Staat nicht zu erwarten, dass er Gesetze beschließt, die nur den Interessen der Arbeiter entsprechen. Dem Staat gegenüber wollten die Gewerkschaften aber auch nur Interessenvertretung sein. Was durch einen Tarifvertrag nicht geregelt werden konnte, das haben die Gewerkschaften vom Staat erwartet. Die Mitbestimmung war eine Forderung an das Parlament, aber kein Ziel, das die Gewerkschaften durch eine Mobilisierung der Massen der Arbeiter erkämpfen wollten.

 

Gefahr zu Staatsgewerkschaften zu werden

Kapital und Staat haben die Gewerkschaft in Anspruch genommen, wo man ihnen Verantwortung für die Aufrechterhaltung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung übertragen konnte. (...) Ohne Zwang haben sich die Gewerkschaften in die bestehende Rechts- und Wirtschaftsordnung eingefügt, weil sie glaubten, so die Interessen der Arbeiterschaft am wirksamsten vertreten zu können. Freiwillig haben sie einen Weg beschritten, der zur Zähmung der Organisation führen muss. Die Kollegen in den Betrieben und Verwaltungen bekommen immer stärker die Auswirkungen zu spüren. Sie sind die Benachteiligten, obwohl ihnen auf diesem Weg Fortschritte versprochen wurden. Sie leisten Widerstand, obwohl ihnen oft noch nicht klar ist, warum sie heute gezwungen sind, in den Betrieben sich selbst zu behaupten. Sie erleben ihre eigene Organisation in der Funktion des Vermittlers, obwohl sie immer noch erwarten, dass die Organisation ihren Widerstand unterstützt, weitertreibt, zum Erfolg führt.

Es muss allmählich ausgesprochen werden: Staatserhaltende Gewerkschaften sind ständig in der Gefahr, Staatsgewerkschaften zu werden. Bei unseren Gewerkschaften gibt es Anzeichen dafür, dass Grenzen bereits überschritten wurden und die Kollegen daran gewöhnt werden sollen, die Aufgaben der Gewerkschaften künftig anders als bisher zu sehen. Wie heute der Vorstand der IG Metall die Aufgaben der Vertrauensleute versteht, ist ein Alarmsignal. Der aktivste Teil der Organisation, die Vertrauensleute in den Betrieben, soll auf ein Gesetz verpflichtet werden. Nicht mehr das Programm der Gewerkschaften und die Beschlüsse der Gewerkschaftskongresse sollen den Rahmen für die Gewerkschaftsarbeit bestimmen, sondern das vom Parlament beschlossene Betriebsverfassungsgesetz. Den Platz von Eugen Loderer könnte dann auch ein Staatskommissar einnehmen. Oder man könnte Eugen Loderer zum Staatskommissar für die IG Metall ernennen.

 

... und vor 40 Jahren

Genau vor 40 Jahren – unter ganz anderen politischen Verhältnissen – glaubten die Gewerkschaften, ihre Existenz retten zu können, wenn sie sich einer staatlichen Aufsicht unterwerfen. Es war ein letzter verzweifelter Versuch der Auflösung zu entgehen. So haben wir bisher diese vielleicht menschlich verständliche, aber politisch verwerfliche Anbiederung an die Nazis gesehen. Kaum bekannt ist, dass zwischen Freien Gewerkschaften (es gab daneben auch noch christliche Gewerkschaften) und den Nazis im September 1932 bereits Geheimverhandlungen stattgefunden haben. Die Nazis haben den Gewerkschaften bei diesem Gespräch im Innenministerium den »Einbau der Gewerkschaften in den staatlichen Apparat« vorgeschlagen. Dem ist nicht widersprochen worden. Über die Schwierigkeiten, die man mit den Mitgliedern haben könnte, hat man sich offenbar größere Gedanken gemacht als über die Folgen einer Verstaatlichung. In einem Protokoll, das damals als Fälschung bezeichnet wurde, über dessen Richtigkeit inzwischen aber kein Zweifel mehr besteht, heißt es: »Man muss daher allen Organisationen Zeit lassen, diesen Gedankengängen assimiliert zu werden. Durch die Ideologie der Gewerkschaften sei diese Assimilierung schon weit, aber noch nicht weit genug fortgeschritten.«

Mit dem Überfall der SA auf die Gewerkschaftshäuser und der Verhaftung einer großen Zahl der Funktionäre am 2. Mai 1933 haben die Gewerkschaften ein gewaltsames Ende gefunden. Vorausgegangen war eine Entwicklung, die erkennen lässt, dass die Gewerkschaften an diesem Ende nicht ganz unbeteiligt waren.

Wenn man genau verstehen will, warum die Weimarer Republik 1933 ein klägliches Ende nahm, dann muss man ihre Geschichte von 1918 an untersuchen. Man wird dann feststellen, dass die Arbeiterbewegung nicht nur ein Opfer reaktionärer Kräfte war. Sie hat die Bedingungen mit geschaffen, an denen sie 1933 zugrunde gegangen ist. Die Gewerkschaften hatten daran einen erheblichen Anteil.

Die Gewerkschaften waren in der Weimarer Republik ebenso staatserhaltende Gewerkschaften wie heute. Ihre gesellschaftspolitischen Forderungen richtete sie wie heute an Regierung und Parlament. Der politische Partner der Freien Gewerkschaften war die SPD. Eine Massenmobilisierung zur Durchsetzung gewerkschaftlicher Forderungen stand den Gewerkschaften damals so fern wie heute. Wo die Tarifpolitik der Gewerkschaften die Lage der Arbeiterschaft nicht mehr zu verbessern vermochte, waren die Gewerkschaften auf eine Unterstützung sozialdemokratischer Sozialpolitik angewiesen. Wenn es darauf ankam, dann waren die Gewerkschaften von den politischen Mehrheitsverhältnissen im Staat abhängig. Diese Abhängigkeit zeigte sich vor allem in den Krisenjahren zwischen 1930 und 1933. Für die Gewerkschaftsführung waren die damals wechselnden Regierungen Gesprächs- und Verhandlungspartner. Und je mehr sich die Massen der Arbeiter radikalisierten, umso hilfloser war die Gewerkschaftsführung.

Die Lage war für die Gewerkschaften auch außerordentlich schwierig. Millionen Arbeitslose verloren jede Hoffnung. Zwischen Kommunisten und Nazis entbrannte ein politischer Kampf, der die Aktionsfähigkeit der Gewerkschaften überforderte. Viele Arbeiter und vor allem Arbeitslose gingen zur KPD, und nicht wenige erwarteten auch von den Nazis eine Änderung der Verhältnisse. Eine Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und KPD war nicht zuletzt wegen der Haltung der Kommunisten gegenüber den Gewerkschaften kaum mehr zu erwarten. Dennoch gab es in vielen Betrieben eine Kampfbereitschaft, auf die sich eine entschlossene Führung der Gewerkschaften hätte stützen können. Doch zu einer Zeit, als ein massiver Widerstand gegen die drohende faschistische Machtergreifung noch hätte organisiert werden können, war man in den Vorständen bereits zur Kapitulation bereit. Enttäuscht und verbittert haben die Kollegen zusehen müssen, wie die eigene Organisation zerfiel, bevor sie zerschlagen wurde.

 

Kein Platz für »freie« Gewerkschaften

Zur Machtergreifung der Nazis nahm der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund am 31. Januar 1933 recht zurückhaltend Stellung: »Es bedarf keiner besonderen Hervorhebung, dass die Gewerkschaften zu dieser Regierung in Opposition stehen. Das kann und wird sie nicht hindern, die Interessen der Arbeiterschaft auch gegenüber dieser Regierung zu vertreten. Die Gewerkschaften werden die Ansprüche der Arbeiter auf Gleichberechtigung in Staat und Wirtschaft mit genau der gleichen Entschiedenheit weiter verfechten wie seither. Organisation – nicht Demonstration: Dass ist die Parole der Stunde.«

Wenige Wochen später erklärten die Gewerkschaften, dass ihre soziale Aufgabe unter jedem Staatsregime erfüllt werden müsse. Sie waren bereit, ein Recht des Staates, in Auseinandersetzungen mit den Unternehmern einzugreifen, anzuerkennen. Sie waren ebenfalls bereit, sich einer staatlichen Aufsicht zu unterwerfen.

Als bereits der offene faschistische Terror in Deutschland herrschte, beklagte sich der Vorsitzende des ADGB Theodor Leipart in Verhandlungen mit den Nazis, dass die Gewerkschaften »an der Ausübung ihrer sozialpolitischen Arbeit« gehindert seien. Zu dieser Zeit waren bereits 43 Gewerkschaftshäuser besetzt. Tausende von Sozialisten und Kommunisten waren festgenommen und in den Konzentrationslagern verschwunden, die die Nazis inzwischen geschaffen hatten.

Für die Nazis stand von vornherein fest, dass in ihrem Staat für freie Gewerkschaften kein Platz ist. Sie hatten auch zu keiner Zeit die Absicht, die Gewerkschaften als Organisationen der Arbeiterschaft zu übernehmen. Um den letzten Widerstand, der vielleicht hätte noch aufflackern können, zu brechen, haben die Nazis den 1. Mai 1933 zu ihrem Feiertag der nationalen Arbeit erklärt. Die Gewerkschaften begrüßten das und forderten die Arbeiterschaft dann auch auf, sich an den »von der Regierung veranlassten Feiern festlich zu beteiligen«.. Eine Mai-Feier der Gewerkschaften fand 1933 nicht mehr statt.

Natürlich musste das alles auch gegenüber den Mitgliedern gerechtfertigt werden. Vieles von dem, was damals in der Gewerkschaftspresse zu lesen stand, war sicherlich unter dem Druck der politischen Verhältnisse geschrieben. Aber so mancher Artikel ist damit nicht mehr zu erklären. Walther Pahl, der nach dem Kriege wieder Chefredakteur der Gewerkschaftlichen Monatshefte werden konnte, schrieb in der vom ADGB herausgegebenen Gewerkschafts-Zeitung zum 1. Mai 1933: »Vom Nationalsozialismus unterschied uns keine andere Rangordnung der Werte Nation und Sozialismus, sondern lediglich eine andere Prioritätsordnung. Wir wollten erst den Sozialismus, um die Nation zu gestalten. Der Nationalsozialismus forderte und verwirklichte jetzt die Einheit der Nation, um auf diesem breiten und festen Fundament den deutschen Sozialismus aufzubauen.«

Die Erinnerung an den 1. Mai 1933, an seine Vorgeschichte und an die Haltung der Gewerkschaften in den Monaten, in denen die Machtergreifung des Faschismus noch hätte verhindert werden können, ist notwendig. Die staatstragenden Gewerkschaften der Weimarer Republik konnten weder den Staat, den sie verteidigen wollten, noch sich selbst erhalten. Die Gegner dieser Republik blieben die Mächtigen. Vertrauen auf formales Recht und staatliche Ordnung machte die Gewerkschaften ohnmächtig gegenüber den gesellschaftlichen Kräften, die Recht nur anerkennen, solange es ihnen nützt und nur für Ordnung eintreten, solange es ihre Ordnung ist.

Heute, 40 Jahre später, scheint es so, als hätten die Gewerkschaften diese Erfahrung vergessen. Und viele Arbeiter vertrauen darauf, dass die Rechte, die sie heute haben, für immer gesichert sind. Die Gefahr eines neuen Faschismus in Deutschland scheint gebannt. Der Ausbau des sozialen Rechtsstaates wird von vielen trotz aller Krisenerscheinungen für möglich gehalten. So gehen die Gewerkschaften ein zweites Mal einen Weg, der sie gegenüber ihrem Gegner schon einmal handlungsunfähig gemacht hat. Und sie gehen diesen Weg, obwohl die Mächtigen die gleichen geblieben sind und auch heute noch das gleiche Geschäft wie damals betreiben. Vergessen sind die Folgen, erhalten geblieben sind die Illusionen.

Egon Lutz, der einmal geschäftsführendes Hauptvorstandsmitglied der IG Druck und Papier war, schrieb 1969 über den Weg, den die Gewerkschaften eingeschlagen haben: »Zur Zeit erleben wir die Übergangsphase von der erzwungenen Kooperation zur ersehnten. Merkwürdigerweise sind es die Unternehmer, die in diesem Moment noch die stärksten Einwände erheben. Aber das wird sich geben. Der soziale Konflikt, der Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit, wird natürlich auch in einer mitbestimmten Wirtschaft weiter existieren. Aber er wird sich neue Wege suchen. In den Gewerkschaften oder – und das ist sehr viel wahrscheinlicher – an den Gewerkschaften vorbei.«

* Aus: express, Nr. 4 vom 16.4.1973

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 5/02

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