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Sand im Getriebe des europäischen Kapitals?

Bedeutung und Widersprüche der Euromärsche

von Stefan Ofteringer

Unter dem Namen ‘Euromärsche’ haben sich seit 1996 Arbeitslosen-, Erwerbslosen- und MigrantInneninitiativen zusammengeschlossen, um grenzüberschreitend zu handeln und eine Revision der Verträge von Maastricht und Amsterdam zu fordern. In der Vorbereitung zu den Aktivitäten gegen die Tagung des EU-Gipfels im Juni 99 in Köln greifen sie die soziale Frage europaweit auf. Welche Möglichkeiten und Grenzen haben die Euromärsche als neue grenzübergreifende Bewegung?

Als die Euromarschbewegung entstand, waren die Folgen der neoliberalen europäischen Politik bereits deutlich spürbar. Massenarbeitslosigkeit und prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse breiteten sich in allen Ländern der EU aus. Kurz vor der Einführung des Euro am 1.1.99 herrschte in der EU eine Arbeitslosenquote von 17,5% und über 50 Mio. Menschen lebten unter der Armutsgrenze. Gleichzeitig hat sich auf der Ebene der EU das Projekt eines Systems sozialer Kontrolle mit polizeistaatlichen Mitteln durchgesetzt. Mit dem Abkommen von Schengen sind in einem Teil der EU-Staaten die Polizeigesetze vereinheitlicht worden und unkontrollierte Repressionsapparate (wie die Polizeibehörde EUROPOL) entstanden. Gesellschaftliche Polarisierungen werden nicht mehr sozialstaatlich "abgefedert", sondern durch eine Politik der Ausgrenzung und Abspaltung repressiv kontrolliert. Die selektive Abschottung der Festung Europa gegen MigrantInnen und Flüchtlingen, die Umwandlung der sozialen Sicherung in Systeme von Arbeitszwang (workfare) und der Abbau von Arbeiterrechten sind Teil dieses Prozesses. In Folge der neoliberalen Transformation der EU werden die gesellschaftlichen Gegensätze, die im keynesianischen "Wohlfahrtsstaat" kanalisiert wurden, wieder deutlicher.

In den Sozialsystemen des Keynesianismus waren die repressiven Elemente von Arbeitszwang und Rassismus allerdings bereits angelegt; es waren nur weniger Menschen davon betroffen. Deswegen tragen die Forderungen nach Rückkehr zur sozialstaatlichen Regulierung die Logik der Ausgrenzung und des Arbeitszwanges in sich. Dies wird auch an der Gewerkschaftspolitik mit ihrer Beteiligung an den "Bündnissen für Arbeit" deutlich: Verlängerung von Arbeitszeiten, und Arbeitszwang für Flüchtlinge und SozialhilfeempfängerInnen werden von ihnen im Namen des Erhalts von Arbeitsplätzen akzeptiert. Aber auch in der linksradikalen Debatte gibt es eine Wiederannäherung an staatliche Verteilungsmodelle. In der gegenwärtigen Debatte um ein "Existenzgeld" wird die Forderung nach einem garantierten Einkommen ("1.500 DM plus Warmmiete") gestellt, die den Anspruch erhebt, die kapitalistische Verwertungslogik von innen aufzulösen. Durch die Entkopplung von Einkommen und Lohnarbeit soll eine "Wiederaneignung der Arbeit" geleistet werden, die die freie Wahl zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit ermöglicht. In diesem Spannungsfeld von neoliberaler EU-Politik und den verschiedenen politischen Ansätzen gegen diese Politik nehmen die Euromärsche eine bedeutende Position ein.

Französische Zustände in Europa?

Ausgangspunkt der Euromarschbewegung war die Streikbewegung in Frankreich im Winter 1995/96. Die massenhaften Arbeitsniederlegungen stellten sich gegen die Politik der Sozialkürzungen der französischen Regierung, die auf diesem Weg versuchte, ihr Budgetdefizit auf die von den Konvergenzkriterien geforderte Höhe zu reduzieren. Erstmals wurde in einem Streik deutlich gegen den neoliberalen Charakter der europäischen Integration gekämpft. Besonders die Erwerbs- und Arbeitsloseninitiative AC! (agir ensemble contre le chomage - gemeinsam kämpfen gegen die Erwerbslosigkeit) wollte eine Spaltung zwischen ArbeiterInnen und Erwerbslosen verhindern. Teile der Gewerkschaften zeigten sich offen für die Forderung nach einer Anhebung der Sozialleistungen und der gesetzlichen Verankerung eines Existenzgelds. In den Wintermonaten von 1995 bekamen auch die Formen der Auseinandersetzungen eine neue Qualität. Arbeitslose und Erwerbslose besetzten gemeinsam Arbeits- und Sozialämter, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.

Diese Stimmung war der entscheidende Motor für die verschiedenen Organisationen, auf europaweiter Ebene zusammenzuarbeiten und zu mobilisieren. Zeitlich fielen die französischen Arbeitskämpfe mit der Verhandlungen um die Revision des Maastrichter-Vertrages zusammen. Aufgrund der militanten Streiks und des Amtsantritts des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jospin in Frankreich war es besonders die französische Regierung, die im Vorfeld des Amsterdamer EU-Gipfels im Juni '97 auf eine stärkere soziale Komponente in den Verträgen drängte. In Folge dieser Entwicklung kamen die Fragen der Arbeitslosigkeit und der Sozialpolitik auf die Tagesordnung der offiziellen EU-Politik. Die europäische Mobilisierung für den sozialen Protest anläßlich des Gipfels in Amsterdam wurde mit 50.000 DemonstrantInnen der erste Höhepunkt für die Euromärsche.

Im Zentrum der Forderungen stand die Einführung einer sozialen Komponente in den Konvergenzkriterien der Währungsunion und eine "wirksame Beschäftigungspolitik auf europäischer Ebene". Drastische Arbeitszeitverkürzungen ohne Einkommenverluste verbunden mit Neueinstellungen sollten das Ziel einer europäischen "Vollbeschäftigungspolitik" sein. Was sich zunächst anhört wie der klassische Forderungskatalog der Gewerkschaften, wurde durch die Forderung nach einem "Recht auf Einkommen, das allen, die keine Arbeit haben, ein menschenwürdiges Leben erlaubt" ergänzt. Zudem griffen sie mit der Forderung nach einem "Europa der offenen Grenzen und freien Zugang zur Staatsbürgerschaft" auch die rassistische Ordnung in der Festung Europa an.

Druck auf die Gewerkschaften

Obwohl die Forderungen der Euromärsche besonders während der Mobilisierung von Amsterdam noch deutliche Elemente klassischer gewerkschaftlicher Politik enthielten, zeigten sich deutliche Differenzen zum ‘mainstream’ innerhalb der Gewerkschaften. Da sowohl der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) als auch der DGB ihre Zustimmung zur Währungsunion nicht grundsätzlich an eine soziale Dimension in den Verträgen knüpften, warfen die EuromarschiererInnen den Gewerkschaften vor, den neoliberalen Geist zu stützen: "Wir wollen, daß sich die Gewerkschaft als soziale Bewegung begreift [und...] nicht nur diejenigen, die noch Arbeit haben, im Mittelpunkt einer immer erfolgloseren Interessenpolitik der Gewerkschaften stehen. Wir wollen den engen Schulterschluß mit und die Förderung der fortschrittlichen sozialen Bewegungen, insbesondere der selbständigen Erwerbslosenbewegung." (vgl. soz Nr. 10, 14.5.98)

In der BRD erhielt die Bewegung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine offene Unterstützung von Gewerkschaftsseite. Trotzdem wird die neue Dimension des Mobilisierungansatzes der Euromärsche deutlich: Mit ihren Forderungen versucht das Bündnis eine europäische Mobilisierung und Organisierung herzustellen, um auch Druck auf die Gewerkschaften auszuüben, mit dem Ziel, ihre Klientelpolitik aufzugeben. An diesem Punkt wird aber auch die Widersprüchlichkeit innerhalb des Netzwerks deutlich: Um die eigenen Positonen für GewerkschafterInnen offenzuhalten, wollen die Märsche offenbar nicht auf die klassischen, sozialstaatlich orientierten Positionen verzichten, wie sie in den Forderungen nach Vollbeschäftigung oder den positiven Bezügen auf die "linken" sozialdemokratischen Regierungen in Europa zum Ausdruck kommen.

Betrachtet man die Positionen einiger an den Euromärschen beteiligter Arbeits- und Erwerbsloseninitiativen, stehen deren Forderungen nach Existenzsicherung den klassischen Gewerkschaftspositionen diametral gegenüber. Die verschiedenen Ansätze verdeutlichen das Spannungsverhältnis zwischen Forderungen nach Wiederherstellung des Sozialstaats auf europäischer Ebene einerseits und einer emanzipatorischen Kapitalismuskritik, wie sie in der Existenzgeldforderung enthalten sein kann, andererseits. Dieses Spannungsfeld spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Aufrufen aus den Reihen des Netzwerks wider: Ein gesonderter Aufruf für Gewerkschafter zur Großdemonstration anläßlich des EU-Gipfels in Köln am 29.5.99 betont die Forderung nach dem Ausbau sozialer Leistungen, nimmt aber keinen Bezug auf ein "garantiertes individuelles Einkommen", wie es der Aufruf der Euromärsche selbst tut.[1]

Die Euromärsche vor dem EU-Gipfel

Im Rahmen der Mobilisierung zu den Kölner Gipfeln hat sich gezeigt, daß es innerhalb der Euromärsche Bedarf gibt, über den europäischen Tellerrand hinauszublicken. Auch angesichts der zeitlichen Nähe zwischen dem EU-Gipfel und dem zwei Wochen später stattfindenden G7/G8-Treffen hat die Konferenz der Märsche in ihrem Aufruf die "Globalisierung der Kämpfe" als eine wichtige Perspektive anerkannt. Zu der geplanten Großdemonstration wird das Bündnis mit sozialen Bewegungen aus dem Süden, wie etwa der brasilianischen Landlosenbewegung ‘MST’, gesucht. Obwohl die Kritik am europäischen Neoliberalismus und die Forderungen Existenzsicherung und Beschäftigung noch keinen expliziten Bezug zu den internationalen Herrschaftsverhältnissen haben, wird sich diese neue Dimension in der Euromarschbewegung sicher noch stärker profilieren.

Die Entwicklung des Netzwerks Euromarsch zeigt, daß der Versuch, Ansätze von neuen sozialen Bewegungen zusammenzuführen, nicht ohne politische Widersprüchlichkeiten von statten gehen kann. Forderungen nach sozialstaatlicher Lösung der Krise des neoliberalen Modells, aber auch die Existenzgeldforderung müssen auf ihr Staatsverständnis hinterfragt werden. Die Forderung nach einer Umgestaltung der EU birgt die Gefahr, einer (neo-)keynesianischen Regulierung das Wort zu reden, wie sie von den sozialdemokratischen Regierungen Westeuropas in die Diskussion gebracht wird. Andererseits ist die Euromarschbewegung ein wichtiger Neuansatz, da sie erstmals den Versuch unternimmt, die Kämpfe der Erwerbslosen, der Flüchtlinge und der illegalen MigrantInnen als Teil eines gemeinsamen Kampfes zu begreifen und zusammenzubringen. Der von manchen Linken geäußerte Vorwurf des Reformismus greift vor dem Hintergrund der berechtigten Forderungen nach einem menschenwürdigen Europa nicht.

Stefan Ofteringer arbeitet beim BUKO, Arbeitsschwerpunkt Weltwirtschaft

Anmerkung:

1) Beide Aufrufe sind auf der Europäischen Konferenz gegen Erwerbslosigkeit, ungesicherte Beschäftigung, Ausgrenzung und Rasismus am 23./24.1.99 in Köln verabschiedet worden und zu erhalten über das Bundesbüro Euromarsch, c/o Bündnis Köln 99, Körnerstr.69, 50 823 Köln.

Der Artikel ist der BUKO-Broschüre "kölngehen – Erkundungen zu Globalisierung und Internationalismus" entnommen. Bezug: iz3w, PF 5328, 79020 Freiburg oder über: www.iz3w.org, Preis: DM 6 + Porto


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