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Hannes Oberlindober

Kritik der Wissensgesellschaft - Mythendekonstruktion als Kernaufgabe gewerkschaftlicher Bildungspolitik

 

1. Mythos: Politikverdrossenheit

Geringe Wahlbeteiligungen sind ein untrügliches Zeichen dafür, daß wir unterwegs sind zu dem Menschen, den genau diejenigen, die über eine geringe Wahlbeteiligung klagen, unentwegt heraufbeschwören: den selbstorganisierten, flexiblen, eigenverantwortlichen Bürger, der sich nicht bevormunden läßt, einsam-entscheidungsfreudig agiert, privat vorsorgt, lebenslang selbständig lernt, pro Jahr eine zunehmende Zahl von Zusatzausbildung per wbt absolviert - ein zur Werbekampagne gewordener Wunsch von CISCO - und wenn er auf der Straße interviewt wird mediengerecht neo(n)liberal leuchtet.

Das mit dem Credo dieses Typus Mensch der repräsentativen Demokratie die Legitimation der Repräsentanz abhandenkommt, wird bislang nicht gesehen. Der netzwerkkompatible, gleichwohl selbstorganisierte und total eigenverantwortliche Mensch - wozu sollte er seine Stimme abgeben, da er in jeder Situation für sich selbst zu sprechen und für sich selbst zu entscheiden vermag? Der wird wohl Kanzler, Parteigremien, Lenkungsausschüsse, Ministerien, Europaparlamente etc. nicht brauchen. Sie werden ihn schlicht nicht interessieren. Bedarf er zur Realisierung seiner Interessen Gleichgesinnte, wird er sich in einer NGO besser aufgehoben wissen, als bei einer Regierung, einer Partei oder seinem örtlichen Gewerkschaftssekretär.

Nun ist nicht davon auszugehen, daß die unbarmerzigen Prediger des lebenslangen Lernens, der Wissensgesellschaft, der Individualisierung als metaphysische Zwangsläufigkeit, von Selbstlosigkeit getrieben absolut altruistisch an der Selbstabschaffung der Posten arbeiten, die sie bekleiden. Die vage Vision der Wissensgesellschaft postuliert an keiner Stelle glaubhaft die Demokratisierung des Wissens. Allenfalls ist von der Zielsetzung eines möglichst offenen Zugangs zu Bildung die Rede, der noch zu schaffen ist. Doch ist davon auszugehen, daß man bereits nicht nur um die Gefahr einer drastischen Zunahme des sozialen Gefälles entlang eines zunehmenden Bildungsgefälles weiß, sondern in diesem Gefälle widerum sich eröffnende Spielfelder für Regierung, Verwaltung, Gesetzgeber und ihre mächtigen Repräsentanten erblickt.

Die Matrizen für die Wissensgesellschaft existieren bereits: in Deutschland weiß dies vor allem die FDP. Möllemanns "18% - Wanderung" durch die Medien und die Parteiorganisation markiert eine Linie, die die Spreu vom Weizen trennen soll. Etwa 18% der wählenden Bevölkerung - so die Spekulation - halten sich für Menschen vom oben skizzierten Schlage, und sind damit Wählerpotential für die Partei, die wie keine andere die Mündigkeit des Bürgers behauptet, dessen Eigenständigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Lernbereitschaft vom Staat immer wieder unterschätzt werde. Der "große Rest" ist der, der Kanzler Schröder trotz oder wegen seines in ganz ähnliche Richtungen zielenden Modernitätsprogrammes schlechte Umfrageergebnisse beschert.

Die Menschen mitnehmen in die Wissensgesellschaft, das scheint für viele eine ebenso zwiespältige Zielsetzung zu sein, wie "Die Menschen mitnehmen in die Globalisierung". Welche Rolle der Mehrheit der Bevölkerung in der Wissensgesellschaft und auf globaler Ebene der Mehrheit der Weltbevölkerung in der Globalisierung zukommen soll, wird im Unklaren belassen. Soziologen wie Ulrich Beck freut dies: dritter im Bunde der Dreifaltigkeit der trendgemäßen Beschreibungen der heraufdämmernden Gesellschaften ist (neben der Wissensgesellschaft und der Weltgesellschaft) die Risikogesellschaft. Je mehr Risiko in der Gesellschaft, desto mehr soziologisch spannendes Konfliktpotential. Kaum ein Forschungszweig wird sich in dieser Dreifaltigkeit derart exponential entwickeln, wie die Soziologie, auch nicht die Biotechnologie. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms wird zwar weitreichende Folgen nach sich ziehen, doch im Zeitalter der bei jeder Stellenanzeige eingeforderten "sozialen Kompetenz" wird es die Soziologie sein, der sich mit der empirischen Erfassung kollektiver Zukunftsängste ein weites Feld erschließt, dessen Beackerung in Form von Beratungsaufträgen, von Gutachten, Untersuchungen im Auftrage von Regierungen, Wirtschaftsunternehmen, Instituten reichen Ertrag verspricht, ganz im Sinne des Vernetzungsgedankens und einer stärkeren Verzahnung von Wirtschaft und Forschung, Hochschulen und Unternehmen, Theorie und Praxis.

Um hier nicht mißverstanden zu werden: am Rang der Soziologie im reformierten oder auch revolutionierten Bereich der Bildung und Forschung wird sich entscheiden, ob überhaupt noch Gesellschaftsentwürfe mit Wirkungsmacht existieren werden, die nicht einseitig skizziert und geprägt sind durch eine deregulierte Wirtschaft und eine Freizügigkeit von Forschung und Entwicklung, die soziale Normen nur als Fesselung begreift und als Hindernis zur wirtschaftlichen Verwertbarkeit Ihrer Ergebnisse. Eben deshalb kann soziologischen Werken durchaus mit Skepsis begegnet werden, die Hymnen auf Veränderung sind und sich ansonsten darauf zurückziehen, das neue Gesellschaftsformen durch Anpassungsdruck entstehen und nicht durch bewußte Entscheidungen als Resultat breitgefächerter, gesellschaftlicher Debatten zumindest nachhaltig beeinflußt werden können und sollen.

Solche Debatten müßten bereits da ansetzen, wo allenthalben von "Politikverdrossenheit" die Rede ist und der Abkehr der Menschen von der Politik. Das Rezept gegen die Verdrossenheit soll sein: "die Menschen mitnehmen". Doch der Begriff "Politikverdrossenheit" ist genauso zu hinterfragen, wie das Rezept. Bei zunehmender Bedeutung von NGOs mit zunehmend ehrgeizigeren Zielen und öffentlicher Resonanz (man denke nur an die öffentliche Mobilmachung anläßlich der WTO-Konferenz in Seattle) von "Politikverdrossenheit" zu reden greift ebenso kurz wie das statement von den "mitgenommenen Menschen", das verdächtig nach zweifelhaften Heuermethoden, der sanften Gewalt der Erziehung und in extremer Überspitzung nach Entführung oder Sklavenhandel klingt. Die Frage sei gestellt: wollen die Menschen mitgenommen werden, und dies auch noch ohne zu wissen, wohin die Reise geht und allem Anschein nach ohne es beeinflussen zu können? Da man aber genau vor dieser Frage ganz entschieden zurückschreckt, formiert sich ein breite Front von Experten, Realpolitikern, Unternehmern und anderen, die die Möglichkeit der Wahl der Zukunftsvarianten negieren und von der Zwangsläufigkeit der kommenden Entwicklungen sprechen, noch bevor sie deren Verlauf selbst kennen. Globalisierung, lebenslanges Lernen, Risikogesellschaft - gerade weil all dies (angeblich) zwangsläufig wie das Schicksal kommt, und dies von denen behauptet wird, die "Zukunft gestalten" wollen, beginnt ein wachsender Teil der wahlberechtigten Bevölkerung sich die Frage zu stellen, wozu in Anbetracht zwangsläufiger Entwicklungen die Stimmabgabe bei Wahlen noch gut sein soll? Wenn es keine Alternative gibt, wozu wählen?

Die sogenannte Politikverdrossenheit ist keine. Allenfalls ist man verdrossen ob der Phrase der Politikverdrossenheit. Was wohl der Fall ist, ist eine Verdrossenheit hinsichtlich der Formen der Politik, hinsichtlich Ihrer Rituale und der Schwerfälligkeit der politischen Organisationen. Als Reaktion auf die permanente Forderung nach Flexibilität, Eigenverantwortung, Entscheidungsfreude trifft der komplett für sich selbst verantwortliche Wähler eine Entscheidung gegen Parteien und Organisationen, die strukturell und organisatorisch das Gegenteil von dem praktizieren, was sie von den Menschen fordern, die sie wählen sollen. Während allenthalben flache Hierarchien, Selbstorganisation und Netzwerkkompatibilität propagiert werden, bleiben Parteien - und auch Gewerkschaften - straff hierarchisch organisiert. Sie sind unattraktiv für diejenigen, die beginnen das zu sein, was die sie Regierenden von Ihnen fordern.

Es fragt sich also eher, ob die Menschen die Parteien mitnehmen. Die Klagen über Politikverdrossenheit spiegeln die Angst der Parteien vor eigenem Bedeutungsverlust, sie spiegeln auch die Angst vor dem Verlust der Bedeutung einer ämterschaffenden, repräsentativen Demokratie, die in einer Wissensgesellschaft mit allen Möglichkeiten der Vernetzung zunehmend unter Änderungsdruck in Richtung einer direkten Demokratie gerät. Die FDP fordert nicht von ungefähr eine stärkere Rolle des Plebiszits - das ist nur konsequent. Der mündige, wissende, lernende Wahlberechtigte wird sich in Zeiten beschleunigten Wandels wohl kaum auf Dauer damit zufriedengeben, daß seine Stimme nur an wenigen Wahltagen zählt.

 

2. Mythos: Die Wissensgesellschaft

Redet man also von gewaltigen Transformationsprozessen wie dem Übergang von der Produktions- in die Wissensgesellschaft, stehen auch sämtliche Organisationsformen, die das gesellschaftspolitische Geschehen strukturieren, auf dem Prüfstand (Gleich ob es sich um die SPD, den DGB oder den DFB handelt). Das heißt nicht, blind einem in seinen Zielsetzungen nicht definierten Modernitätsfetischismus anheimzufallen und alles um der Veränderung willen umzukrempeln, sondern einen breiten, sozialen Dialog in Gang zu setzen darüber, was diese Gesellschaft will, was sie erwartet, wo sie die drängenden Probleme der Gegenwart und der Zukunft sieht, und welche Verfahren der demokratischen Entscheidungsfindung und Umsetzung getroffener Entscheidungen sie für angemessen hält. Es gilt, die Spaßgesellschaft, die wie im Mittelalter als Reflex auf eine als bedrohlich empfundene Gegenwart und als düster wahrgenommenen zukünftigen Horizont eine ewige Party feiert, zum Streiten um die Zukunft einzuladen, die von ihr gestaltet wird. Ihr Feiern ist nicht einfach Ausdruck von Lebensfreude sondern auch Ausdruck von Resignation. Wenn alles unvermeidlich ist und wir nichts ändern können, bleibt nur die Fete bis zur Götterdämmerung.

Die Prediger des Unvermeidlichen predigen von oben herab, wohl wissend das schicksalhafte Zeiten einer Renaissance des Glaubens Vorschub leisten und einer Dekadenz des kritischen Geistes. Wohl deshalb reden hohe Funktionäre und Amtsinhaber so gerne von "unvermeidlichen Entwicklungen". Sie rechtfertigen so selbst Ihre Existenz, die Ihrer Organisation ebenso wie deren hierarchische Konstruktion: Das heraufbeschworene Unvermeidliche legitimiert die Hierarchie, die zur Metapher für die Unmöglichkeit wird, als einfacher Mensch das Unvermeidliche ändern zu können. Zu steil sind die Gefälle und sollen es bleiben - auch in der Wissensgesellschaft.

Die Beseitigung von Hierarchien, die zwischen "gewöhnlichem" Individuum und den VIPs der Politik, der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der Medien eine immense Distanz festschreiben, darf aber kein Tabu sein, wenn Selbstorganisation, Vernetzung und die damit einhergehensollenden Synergieeffekte mehr sein sollen als bloße Sprachhülsen, die den alten Muff nur in neue Talare kleiden.

Eine Debatte um eine Neuformulierung von Gesellschaftsverträgen kann allerdings nur geführt werden, wenn zu einer solchen Debatte überall dort angeregt wird, wo Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Biografie, unterschiedlicher Sozialisation und unterschiedlichen gesellschaftlichen Ranges sich aus Gründen der Kommunikation versammeln. Damit sind nicht etwa primär Talk-Shows und chat-rooms gemeint (wenngleich natürlich auch diese Foren debattengeeignet sind) sondern Universitäten, Schulen, Berufsschulen, in denen Lehrende - wenn es den ernst gemeint ist mit der Wissensgesellschaft - Moderatoren der Debatte über "demokratische Verfahren in der (globalen) Wissensgesellschaft" sein müssen und nicht mehr Dozenten. Dies allein wird jedoch nicht reichen. Der soziale Dialog mit dem Ziel Antworten auf die Frage zu finden: "In welcher und mit welcher Verfassung gehen wir in die Wissensgesellschaft?" muß mit allen und zwischen allen geführt werden, im Kontext der Europäischen Intergration und der Globalisierung auch über die Grenzen von Sprach, Zeit- und Kulturzonen hinweg.

Ist dies ernsthaft gewollt? Äußerungen wie diejenige des neuen Arbeitsministers von NRW, Ex- IGM-NRW-Chef Harald Schartau, der den Arbeitslosenstatus generell ersetzt sehen will durch Konsultanten von Transfergesellschaften, die eine permanente aktive Vorbereitung auf den nächsten "Job" erzwingen, lassen dies nicht unbedingt vermuten. Dieser Vorstoß läßt die Forderung des "lebenslangen Lernens" in einem anderen Licht erscheinen. Gegen Demotivierung von Arbeitslosen wird die Disziplinierung von Personen in Lerngemeinschaften gesetzt, deren Büffelei und Paukerei sozusagen eine als Gegenleistung für die Staatsfürsorge zu erbringende Zwangsarbeit ist. Mit Lernen als Erweiterung des Erfahrungs- und Wissenshorizontes entlang den eigenen Fähigkeiten und Interessen hat dies wenig zu tun. "Lernen" ist hier nur gemeint in bezug auf die Reintegration in die Arbeitswelt und als "sozialer Dienst" - möglicherweise sollte man dieses Prinzip zunächst in Haftanstalten erproben.

 

3. Mythos: Lebenslanges Lernen

Eine weitere kritische Frage an die Wissensgesellschaft schließt sich an: wer bestimmt, was von wem wofür gelernt wird? Wer bestimmt, was wer wissen soll? Es steht zu befürchten, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung Lernvorgaben mit Blick auf den Arbeitsmarkt erhält. Detlev Henschel, der Vorsitzende der IG Medien, liegt falsch, wenn er "lebenslanges Lernen" sozusagen als Königspfad zur Reduzierung der Arbeitszeit sieht. Ein Lernen in der oben beschriebenen Weise ist fremdbestimmte Arbeit und läßt den Lernenden keine Möglichkeit der Zeithoheit und Selbstbestimmung. Werden in Zukunft die Grenzen zwischen Arbeits-, Lern- und Freizeit infolge veränderter Arbeitsorganisation und der Gleichartigkeit der diese Bereiche dominierenden Medien (Telefon, Computer, Internet) zunehmend fließend, verschärft sich die Problematik der Definitionsmacht: gibt es in Zukunft überhaupt noch die Möglichkeit, innerhalb eines bestimmten Zeitraumes nicht zu arbeiten und nicht zu "pauken" oder werden selbst Trauminhalte im Schlaf und Urlaubsaktivitäten ohne individuellen Entscheidungsspielraum je nach der Verwendbarkeit des Einzelnen im Wettbewerb zumindest beeinflußt wenn nicht bestimmt? Schon jetzt träumen laut einer Allensbach-Umfrage 34% der Deutschen von Ihrer Arbeit - die Quote läßt sich bestimmt durch Einsatz von mind-machines steigern.

Solche Fragen zu stellen, stempelt den Fragesteller leicht zu einem Verschwörungstheoretiker ab. Dabei ist jede Frage nur dann Ausdruck einer Theorie, wenn sie ihre Antwort vorwegnimmt. Sinn solcher Fragestellungen ist vielmehr, den häufig als zwangsläufig hingestellten Zukunftsvisionen selbsternannter "Realos" und Pragmatiker - die in genauer Umkehr deren eigener Kritik Ihr Bild der Zukunft als metaphysische Notwendigkeit darstellen - nicht ohne Diskussion und gesellschaftliche Debatte zur allgemeinverbindlichen Zielsetzung werden zu lassen. Wenn überhaupt von "Politikverdrossenheit" geredet werden kann, so resultiert diese neben dem Verweis auf die zunehmende individuelle Eigenverantwortlichkeit aus der rigiden Behauptung der gewählten Volksvertreter, Ihr Einfluß (und damit der Einfluß der Wahlberechtigten) auf unvermeidliche Prozesse sei zunehmend gering. So wird zum einen das Individuum sich selbst überlassen und soll doch Verantwortung delegieren auf Vertreter, die dauerhaft mit Ihrer eigenen Ohnmacht hausieren gehen, die nur da in Macht umschlägt, wo es um Zwangsanpassungen der von Ihnen Regierten an sogenannte unvermeidliche Prozesse geht.

Dementsprechend bleiben Behauptungen wie die der Firma "CISCO" (in Zukunft werde es keine Ausbildung mehr geben, die nicht web-basiert sei) oder Ansprüche von Unternehmen auf die Inbesitznahme der Welt ("The whole world in one bank") ohne nennenswerten Widerspruch: es bleibt "Grassroot-Organisations" vorbehalten, sich in diesem Kontext als Aktivisten zu profilieren, weil sie beweglicher und flexibler als Parteien und Großorganisationen sind. Vor diesem Hintergrund sollte das Problem der Krisis des Politischen, der Rückgang der Attraktivität von Parteien und Gewerkschaften eher als Krisis deren institutioneller Verfassung denn der Ideen, für die sie stehen, gesehen werden.

Transparenz, offene und effektive Informationspolitik, flache Hierarchien, Netzwerkbildung - all dies, was so selbstverständlich als Voraussetzung von Handlungsfähigkeit im Zeitalter der Globalisierung und des Internet gesehen wird, sucht man in den genannten Organisationen mehr oder minder vergeblich. Die formale Gestaltung der Organisationen wird mehr als Verweis auf einen Kompetenzmangel gesehen, als die vertretenen Inhalte. Konsequenz: Mitgliederschwund, fehlender Zugang neuer Mitglieder, damit aber auch ein Mangel an neuen Ideen und "Reformierungsschwung". Einem selbstorganisierten, flexiblen, mobilen, postmodernen Individuum fällt die Wahl zwischen einer eventorientierten Organisation wie Greenpeace und der aktiven Mitgliedschaft bei einer politischen Partei oder/und einer Gewerkschaft sicherlich leicht.

In Bezug auf bildungspolitische Zukunftsskizzen müssen zunächst grundlegende Fragen nach der "Welt von morgen" gestellt und debattiert werden, die auf das zukünftig vorherrschende Menschenbild, Weltbild, Gesellschaftsbild zielen. Die Kernfragen - auch vor dem Hintergrund der gentechnischen Möglichkeiten sowie denjenigen einer zunehmenden Integration von Organismen und Technologien bis in die Ebene der Nanotechnologie hinein - lauten:

Sogenannte Menschheitsträume sind elitär und eben nie Träume der Menschheit, sondern Träume einiger weniger - die Mehrheit träumt, wie die Allensbach-Umfrage zeigt - von ganz anderen Dingen, als von Eugenik, der Schaffung effektiver biologisch-elektronischer Schnittstellen oder einer "world government". Es gilt mitten in die Verbreitung einer Aufbruchstimmung hinein die Frage zu stellen wohin der Aufbruch führen soll, was denn da alles aufbricht und mit welchen Konsequenzen. Erst müssen also die "Trauminszenierungen" der Eliten auf Ihre Konsequenzen hin hinterfragt werden, dann gilt es diese Konsequenzen abzugleichen mit den Zukunftsvorstellungen der Bevölkerung(en) die sie tragen sollen. Nur wenn ein solcher Abgleich stattfindet und Basis politischer Entscheidungen ist, dürfen die häufig angeführten "nachhaltigen Entwicklungen" initiiert werden, die nur Ausdruck diktatorischen Handelns sind, wenn die Bevölkerung nicht gefragt wird und sich nur durch dünne und versteckte Kapillaren darüber informieren kann, was denn die mit der inhaltlichen Ausgestaltung der chicen Phrase befaßten Gremien planen und realisieren.

Grundsätzliche Fragen wie die oben angeführten müssen gestellt sein, wenn man nicht ins archaische Zeitalter des Glaubens an schicksalhafte Mächte zurückfallen will, wo doch nur irdische Interessen walten. Erst, wenn Klarheit darüber besteht und auch ein demokratisch legitimierter Konsens darüber zustandekommt, was denn überhaupt wofür unter welchem Leitbild "ge-bildet" werden soll, kann man ernsthaft über die Zukunft der Wissensgesellschaft, des lebenslangen Lernens, der Bildungs- und Weiterbildungspolitik reden, über Termini also, deren konkrete Substanz von denjenigen, die sie immer wieder verwenden bewußt diffus gelassen wird.

Mit den beiden Begriffen "Wissensgesellschaft" und "Lebenslanges Lernen" ist nichts gesagt. Die inhaltliche Füllung dieser Begriffe fällt verdächtig vage aus und wird gerne im Kontext gesellschaftlicher Umerziehungsszenarien gebraucht. `Wir müssen alle lebenslang lernen` - das klingt so, als wolle man die Gesellschaft darauf trimmen, daß nicht mehr die Rede sein soll von Arbeitszeit und Freizeit, sondern nur noch von Arbeits- und Lernzeit. Die Zeit zwischen job und job, die Zeit geringer Arbeitsdichte im job wird dann zur Zeit hoher Lerndichte. An die Stelle frei und zwanglos gestalteter Freizeit treten mehr und mehr reglementierte Lernzeit, aber auch reglementierte Lerninhalte mit dem Ziel jene so häufig betonte "Demotivierung" Arbeitsloser aufzuheben und sie der Disziplin vorgegebener modularer Curricula zu unterwerfen, die immer nur eins im Visier haben: auf die nächste Beschäftigung vorzubereiten.

Eine Horrorvision: die Lernzeit ist in einem solchen Kontext nichts anderes, als die Verlängerung der Arbeitszeit. Verkürzung von Arbeitszeit zugunsten der Erweiterung von Ausbildungszeit reduziert unterm Strich die freie Zeit von Menschen, in der sie selbst darüber bestimmen, was sie tun oder auch was sie unterlassen. Dabei ist nicht davon auszugehen, daß diese Verlängerung der Arbeitszeit einhergeht mit der Beibehaltung der Rechtstellung von Arbeitnehmern - außerhalb des klassischen Arbeitsverhältnisses heißt auch außerhalb des Tarifrechtes und des Betriebsverfassungsgesetzes. Eine Mitbestimmung der "lebenslangen Pennäler" über Ihre Lernbedingungen nach dem Vorbild der betrieblichen Mitbestimmung ist sicherlich nicht das, was einer solchen Vision zu eigen ist. Verschiedentlich wurde argumentiert, "lebenslanges Lernen" sei auch im Sinne einer lebendigen und wettbewerbsfähigen Demokratie unabdingbar. Für eine permanente Weiterbildung mag dies gelten - als Erweiterung und Bereicherung des individuellen Erfahrungshorizontes wäre "lebenslanges Lernen" eine Bedingung für eine sich immer wieder erneuernde, vitale und kreative Gesellschaft. Ein "lebenslanges Lernen" in der oben skizzierten Weise steht indes jedweder Form von Weiterbildung im Sinne von "education enrichment" entgegen. Die Scheuklappenperspektive auf das nächste Mosaiksteinchen einer löcherigen und gebrochenen Erwerbsbiographie bewirkt eine Verengung des gesellschaftspolitischen, kulturellen und sozialen Horizontes. Lebenslanges Lernen als permanente Berufsvorbereitung ist "education enlargement", ein breit angelegter, unhomogener Flickenteppich aus nur vorübergehend geforderten und bald wieder überholten Kompetenzen.

Eine solche Wissensgesellschaft ist eine der ungleichen Chancen, in denen der Zugang zum wichtigen Gut "Wissen" je nach sozialer Gruppenzugehörigkeit unterschiedlich schwer ist. Einfach skizziert: es bildet sich eine Bildungselite heraus, die über das Herrschaftswissen verfügt und dem Rest der Welt vorschreibt, was wofür gewußt werden soll. Denkbar wäre eine gesellschaftliche Zäsur, die die Kasten internetgewandte Technokraten und lebenslang büffelnde Dienstleister heraus"bildet". Es sollte zumindest nachdenklich stimmen, daß zur Zeit die Förderung von Lernbenachteiligten im Gegensatz zur immer wieder als dringend notwendig proklamierten Hochbegabtenförderung keine Konjunktur hat. Ebenso nachdenklich sollte einen der Rummel um den Fetisch www und hier insbesondere um Telelearning (WBT) stimmen. Telelearning paßt natürlich gut ins Konzept, wenn man mit penetranter Beharrlichkeit Selbstorganisation vom Individuum fordert. Man gebe den Menschen Internet und Multimedia - und dann lasse man sie kostensparend weil nicht personalintensiv mit den Bildungsangeboten allein, für deren Inanspruchnahme Provider und Telefongesellschaften gutes Geld kassieren. Die Menschen mit sich allein zu lassen ist gleichsam die soziale Innovation des angehenden Jahrtausends. Dabei bedeutet "Selbstorganisation" nicht Autarkie und Selbstbestimmung. Die Vorgaben dahingehend, was ich zu lernen habe, bestimmen andere: der Arbeitgeber, der Arbeitsmarkt, die Kammern, die Ministerien, die staatlich anerkannten Bildungsträger. Vor lauter Selbstorganisation werden die Erwerbstätigen/Selbständigen/Transfergesellschafter kaum noch Zeit haben für eine persönliche Weiterbildung, die überhaupt erst ein aktives Sich Einbringen in demokratische Entscheidungsprozesse erlaubt.

Das Sich-Befassen mit komplexen Fragen, die die gesellschaftliche Zukunft, die Gestaltung von Solidargemeinschaften, die Globalisierung betreffen läßt der verengte Horizont des lebenslangen Lernens als permanente Berufsvorbereitung gerade dann kaum zu, wenn alle Zeichen auf grundlegende gesellschaftliche Wertewandel gestellt sind. Gerade dann sollten breite gesellschaftliche Debatten stattfinden, die aber genau der Verweis auf die notwendigen Anpassungsprozesse an den Wandel der Arbeitswelt wirkungsvoll blockiert: der Anpassungsdruck an veränderte Bedingungen der Erwerbswelt verstellt den Horizont auf Themen, mit denen sich erheblich mehr Menschen befassen müßten als die Handvoll hochgebildeter Experten etwa im "Büro für Technikfolgenabschätzung" der Bundesregierung.

Eine Frage aus dem Korpus der bereits weiter oben angeführten sei beispielhaft präzisiert:

Eine solche Frage erscheint angesichts der von Biologen und Medizinern projizierten Zukunftsvisionen weniger utopisch, als sie sich liest. Bereits jetzt lassen sich in den USA die Konturen einer Arbeitswelt erkennen, in der das genetische Zeugnis über die Chance auf einen Arbeitsplatz entscheidet. Möglicherweise müssen bereits bei der anstehenden Novellierung des Betriebsverfassungsgesetze die Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte in bezug auf die Auswertung genetischer Gutachten bei Einstellungsverfahren und bei "scoring cards" berücksichtigt werden.

 

4. Gewerkschaftliche Handlungsspielräume

Weiterbildung - im Gegensatz zu lebenslangem Lernen - sollte bedeuten, daß im Gegensatz zum Tunnelblick auf das für den nächsten eigenen job zu lernende der Einzelne die Chance hat, ein fundiertes Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse zu entwickeln, die überhaupt erst die Forderung nach "lebenslangem Lernen" aufkommen ließen. Nicht "lebenslanges Lernen" fördert demokratische Mündigkeit der Einzelpersonen, Ihre Bereitschaft und Fähigkeiten zur Partizipation an Entscheidungen auf allen Ebenen des Zusammenlebens - ob im Betrieb oder in der Politik -, sondern einzig und allein eine möglichst breite Öffnung der Zugangsmöglichkeiten zu Wissen und Informationen, zu Foren der öffentlichen Diskussion, der für die breite Masse verlorenzugehen droht, wenn diese immer nur wie der berühmte Esel die Möhre die nächste Beschäftigung vor die Nase gehalten bekommt, für die es schon einmal im Vorfeld zu lernen gilt: nach dem job ist vor dem job und umgekehrt.

Eine Funktion und Aufgabe der Gewerkschaften im 3. Jahrtausend sollte es sein, dafür Sorge zu tragen, daß die sogenannte Wissensgesellschaft auch eine soziale Ge-Wissensgesellschaft wird. Dies aber bedeutet, daß nicht nur die Bildungswege für alle zugänglich sind, sondern daß auf dem Wege von Bildungsberatung und Bildungsvermittlung auch dafür Sorge getragen wird, daß nicht der eine mit einem Formel 1 Wagen diese Wege zurücklegen kann, während der andere - eingebunden in einen Alltag, der ausschließlich von Angst um den Arbeitsplatz und Büffeln für den nächsten Arbeitsplatz bestimmt ist - permanent mit angezogener Handbremse fährt. Über die Möglichkeiten von Weiterbildung eben nicht nur auf der Schmalspur der permanenten Berufsvorbereitung bestimmt sich, ob eine Wissensgesellschaft auch eine demokratische Wissensgesellschaft ist, in der die Macht (die ja identisch mit Wissen ist) vom ganzen Volk ausgeht.

Anders als Regierungen und immer mehr zur Mitte drängenden Parteien dürfen Gewerkschaften Beteiligungsgesellschaft nicht als rein ökonomischen Begriff denken, sie müssen diesen Begriff sozial besetzen im Sinne einer Gesellschaft, an der alle Menschen aktiv teilhaben. Das aber ist nicht möglich, wenn Selbstorganisation Isolierung bedeuten soll und "lebenslanges Lernen" nichts anderes ist, als eine Beschäftigungstherapie zum Ausfüllen biografischer Lücken und zur Disziplinierung der breiten Masse. Auch im Sinne der Steigerung Ihrer eigenen Attraktivität für Mitglieder stünde es Gewerkschaften gut an, würden Sie Ihr Weiterbildungsangebot auch als eine Form von Aufklärung verstünde, in der unbeeindruckt vom trügerischen Charisma der kursierenden, zukunftsträchtigen Phrasen die Mythen dekonstruiert werden, die sich rund um Begriffe wie "Informationsgesellschaft", "Wissensgesellschaft", "Lebenslanges Lernen", "virtuelle Unternehmen" ranken.

Voraussetzung: sie dürfen nicht selber partizipieren an dieser Mythenbildung, die der Verfestigung der eigenen Organisationsformen und der eigenen Hierarchien dient.

 


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