letzte Änderung am 8. Sept. 2003

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Unabhängige Arbeitslosenräte an den Arbeitsämtern

Zwischen einem leitenden Mitarbeiter der Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg und mir, einem z.Z. beim Arbeitsamt Berlin-Süd gemeldeten Erwerbslosen, fand in der Zeit vom 5. Juli bis 7. August 2003 ein Briefwechsel zu meinem Vorschlag statt, an den Arbeitsämtern der Bundesrepublik Deutschland unabhängige Arbeitslosenräte zu bilden. Einerseits wurde diesem Vorschlag seitens meines Dialogpartners nicht widersprochen, andererseits ist mein Dialogpartner mit keiner einzigen Silbe auf diesen Vorschlag eingegangen. Aber er hat mir empfohlen, mich mit diesem Vorschlag an die Öffentlichkeit zu wenden. Dies möchte ich hiermit tun. Als Gewerkschafter möchte ich hier, auf einem bundesweitem Podium der Gewerkschaften, diese Initiative zur Diskussion stellen, indem ich einen Auszug aus meinem Schreiben vom 7. August 2003 an den Mitarbeiter der Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit veröffentliche. Der Auszug enthält zusammengefasst den Kern meiner Überlegungen zur Gründung von Arbeitslosenräten:

Antonín Dick


Herrn
Gerhard Bellhäuser
BUNDESANSTALT FÜR ARBEIT
Hauptstelle
Zeichen: Ib3 – 56260.05/5053

07. August 2003

Sehr geehrter Herr Bellhäuser,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 01. 08. 2003.

Mit Verwunderung habe ich zur Kenntnis genommen, dass Sie mit keiner einzigen Silbe auf meinen Vorschlag eingehen, an den Arbeitsämtern der Bundesrepublik Deutschland unabhängige Arbeitslosenräte zu gründen. Stattdessen verweisen Sie mich mit meinem Vorschlag im Zusammenhang mit einer Gesetzesnovellierung an die Öffentlichkeit und die parlamentarischen Institutionen.

( ...)

Meine Überlegungen zur Gründung von Arbeitslosenräten an den Arbeitsämtern gehen exakt von ( ...) empirisch nachweisbaren Divergenzen zwischen den verfassungsmäßig verbrieften Rechten der Arbeitslosen und der realen Praxis an den Arbeitsämtern aus und zielen auf eine verbesserte Logik zivilgesellschaftlichen Verhaltens.

( ...)

Gestatten Sie mir daher bitte, meine Überlegungen zur Gründung von Arbeitslosenräten an den Arbeitsämtern in Umrissen hier kurz dazulegen.

In Erwägung, dass infolge der GLOBALISIERUNG mit einer ganzen historischen Periode anhaltender Massenarbeitslosigkeit zu rechnen ist, in Erwägung, dass die gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland herrschende RESTAURATIONSDEMOKRATIE einem Großteil der arbeitslos gewordenen Bürger die verfassungsmäßig verbrieften Menschenrechte nicht mehr garantieren kann, in Erwägung, dass zwischen der wundervollen Engagiertheit der unzähligen Arbeitsloseninitiativen dieses Landes und ihrer faktischen MACHTLOSIGKEIT ein schreiendes Missverhältnis besteht, in Erwägung, dass die fortschreitende AUSEINANDERDIVIDIERUNG von Besitzern und Nichtbesitzern von Arbeitsplätzen die sozialen Grundlagen der Demokratie weiter aushöhlen wird, in Erwägung, dass mit der geplanten Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe die Bundesanstalt für Arbeit sich unweigerlich zu einer MAMMUTORGANISATION mit ungeahnten Möglichkeiten einer totalen sozialen Kontrolle über Millionen von Menschen auswachsen wird - schlage ich vor, nach dem Vorbild der Arbeiter- und Soldatenräte der Revolution von 1918 und dem aus ihnen hervorgegangenen Betriebsrätegesetz von 1920 an allen Arbeitsämtern der Bundesrepublik Deutschland unabhängige Arbeitslosenräte zu bilden, die fähig sind, vor Ort und direkt die verfassungsmäßig verbrieften Rechte der Arbeitslosen schlagkräftig zu verteidigen. Die Arbeitslosenräte sind gewählte gewerkschaftliche Organe zur Vertretung der Arbeitsloseninteressen in allen Verwaltungseinheiten der Bundesanstalt für Arbeit: in Arbeitsämtern, Landesarbeitsämtern, Personalserviceagenturen, Job-Centers, Profiling-Centers, Vermittlungsagenturen und anderen noch im Entstehen begriffenen Arbeitsverwaltungseinheiten. Die Tätigkeit eines Arbeitslosenrates umfasst folgende Aufgaben:

  1. Der Arbeitslosenrat wacht über die Einhaltung der Menschenrechte gemäß Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialgesetzgebung durch das Arbeitsamt.
  2. Der Arbeitslosenrat hat Mitwirkungsrechte hinsichtlich der Auswahl der Angestellten für die Tätigkeit an einem Arbeitsamt.
  3. Der Arbeitslosenrat beantragt bei der Direktion des Arbeitsamtes Maßnahmen, die dem Arbeitsamt und den Arbeitslosen dienen.
  4. Der Arbeitslosenrat fördert die Integration von ausländischen Arbeitslosen, behinderten Arbeitslosen und anderen Schutzbedürftigen.
  5. Der Arbeitslosenrat hat Mitwirkungsrechte bei der Lösung auftretender Konflikte zwischen den Arbeitslosen und dem Arbeitsamt.
  6. Der Arbeitslosenrat hat Mitspracherechte bei der Verteilung der finanziellen Mittel, die für Maßnahmen der Weiterbildung und Arbeitsförderung zur Verfügung gestellt werden.
  7. Der Arbeitslosenrat unterstützt Initiativen selbstbestimmter Arbeit der Arbeitslosen.

Die Losung kann nur lauten: Die Verteidiger der Menschenrechte an die Macht! Der Demos! Die Machthaber der Arbeitsverwaltung müssen die Macht mit den Arbeitslosenräten teilen! Und die Schöpfer sozialer Phantasie an die Macht! Nur die Arbeitslosenräte, sehr geehrter Herr Bellhäuser, werden fähig sein, die seit Jahrzehnten gepflegten Vorstellungen von Arbeit und Nichtarbeit, auf denen die gesamte Restaurationsdemokratie beruht, zu entrümpeln und auf neuen Baustellen der Demokratie das Thema Arbeit neu zu denken und praktisch zu erproben. Es geht darum, wie es auch der renommierte Wissenschaftler Claus Offe der Bundesrepublik Deutschland in der jüngsten Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" begründet fordert, mit der "Idee einer Erweiterung des Arbeitsbegriffs ernst zu machen. Das Universum nützlicher Tätigkeiten von Bürgern wäre dann über die Grenzen der Erwerbsarbeit hinaus auf familiäre, ehrenamtliche, pflegerische, künstlerische Tätigkeiten sowie alle Arten von Qualifikationsarbeiten auszudehnen." *)

Es würde mich und andere gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer aus dem Berliner Raum sehr freuen, sehr geehrter Herr Bellhäuser, wenn Sie Ihre Auffassung zu dem hier entwickelten Projekt zur Gründung von Arbeitslosenräten freimütig darlegen würden. Darüber hinaus ersuche ich Sie freundlichst, einmal zu überlegen, ob und wie dieses Projekt in Ihrer Hauptstelle der Bundesanstalt für Arbeit zur Diskussion bzw. zur Diskussionsanregung vorgelegt werden könnte. Nach meiner festen Überzeugung erfasst der jetzt notwendig gewordene demokratische Prozess alle Schichten unserer Gesellschaft, gleichgültig, an welcher Stelle sich der Teilnehmer dieses Prozesses gerade befindet.

 

Mit vorzüglicher Hochachtung
Dr. Antonín Dick

*) Claus Offe: Perspektivloses Zappeln oder: Politik mit der Agenda 2010, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 7/2003, S. 816


Der Redaktion liegt die gesamte Korrespondenz mit all ihren Briefen vor. Bei Interesse können die Dokumente zur Verfügung gestellt werden.

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