letzte Änderung am 28. Januar 2004

LabourNet Germany ARCHIV! Aktuelle Meldungen im neuen LabourNet Germany

Home -> Diskussion -> (Lohn)Arbeit -> Realpolitik -> Zwang -> aa -> dick2 Suchen

Dr. Antonín Dick

Berlin, den 27. Januar 2004

Frau
Dr. Ursula Engelen-Kefer
Stellvertretende Vorsitzende des Bundesvorstandes des DGB
Henriette-Hertz-Platz 2
10176 Berlin

Sehr geehrte Frau Dr. Engelen-Kefer,

heute, am Gedenktag zu Ehren der Opfer des deutschen Faschismus, schreibe ich Ihnen, und das ist kein Zufall, denn der Großteil meiner Familie ist von den Nazis umgebracht worden, und Deutschland steht heute wieder, wie damals vor 70 Jahren, wenn auch unter völlig veränderten gesellschaftlichen Voraussetzungen, am Scheideweg gewichtiger politischer Entwicklungen.

Ich schreibe Ihnen als Gewerkschafter, der sich mit großen Zweifeln in den Gesellschaftsentwurf der politischen Klasse, wie er vor allem in der sogenannten Agenda 2010 zum Ausdruck kommt, vertieft. Der gesellschaftliche Wahn vor allem, der darauf gründet, durch rasches wirtschaftliches Wachstum angeblich wieder Lohnarbeit für alle installieren zu können, macht betroffen, weil diese Scheinlogik längst durch international anerkannte Wirtschaftswissenschaftler widerlegt worden ist. Dazu kommt, dass dieser Wahn zunehmend eine Aufladung durch sogenannte nationale Werte erfährt, was bereits im Agenda-Text angelegt ist.

Was kann, was soll eine Gewerkschaft tun in einer Situation der Massenarbeitslosigkeit, die höchstwahrscheinlich über eine ganze Epoche hinweg das Bild unserer Gesellschaft prägen wird - allen scheinlogischen Heilsversprechen zum Trotz? Eine der dringendsten Antworten kann m. E. nur lauten: die ökonomische, soziale, politische, kulturelle und geistige S e l b s t t ä t i g k e i t der Angehörigen der arbeitenden Klassen zu mobilisieren, unabhängig davon, ob und in welchem Umfang sie gerade Lohnarbeit leisten oder nicht. Aufstieg und früher Fall des Florian Gerster, des Vorsitzenden des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, haben u. a. auch deutlich gemacht, dass die Politik der Bevormundung und Entwürdigung der Erwerbslosen, wie sie die Agenda 2010 vorsieht, gescheitert ist. Es muss Schluss sein mit der "Wir-machen-etwas-mit-dem-Arbeitslosen"-Vorstellung, mit der im Prinzip menschenverachtenden Philosophie, den erwerbslosen Menschen, d. h. ein konkretes Individuum mit konkreten Bedürfnissen, Wünschen und Glücksvorstellungen, als bloßes Menschenmaterial zur Verwirklichung abstrakter Systeme zu betrachten. Setzte sich diese Philosophie durch, diese Reform von oben, so wäre dies mit Sicherheit das Ende der Demokratie hierzulande.

Im Sinne dieser Zweifel und Grundüberlegungen erlaube ich mir, Ihnen meine Reportage über meine konkreten Erfahrungen mit der Bundesagentur für Arbeit unter dem Titel "Bildet Arbeitslosenräte!" zur Kenntnisnahme und Anregung der innergewerkschaftlichen Diskussion zuzuleiten.

Ich darf Ihr kollegiales Einverständnis voraussetzen, dass diese Wortmeldung eines Gewerkschafters im LabourNet Germany, dem virtuellen Treffpunkt der Gewerkschafts- und Betriebslinken, auch anderen Gewerkschaftern zugänglich gemacht wird.

Mit den besten Wünschen für Ihre verantwortungsvolle und engagierte Tätigkeit!

Dr. Antonín Dick

LabourNet Germany Top ^