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Michael Opielka

Grüne Freiheit

Anmerkungen zum grünen Sozialstaatskonzept

 

Es ist gut, dass die Grünen endlich wieder über den Sozialstaat diskutieren. Der Anlass ist die Programmdebatte. Zwei Papiere liegen unterdessen auf dem Tisch: Das Papier der Grundsatzprogrammkommission von "Bündnis 90/Die Grünen", das sich unserem Thema unter der Signatur "Emanzipative Sozialpolitik" widmet. Und ein Papier der Projektkommission "Arbeit und Soziales" der Heinrich-Böll-Stiftung.[1] Beide Papiere sind eine gute Grundlage zum Gespräch. Sie unterscheiden sich zum Teil nicht unerheblich. Zugleich haben sie auch Gemeinsamkeiten. Eine vor allem möchte ich im folgenden kritisch herausfordern. Nämlich das beiden Papieren – und damit dem derzeitigen grünen Mainstream – zugrundeliegende Staatsverständnis der Sozialpolitik, ihr Sozialstaatskonzept.

 

1. Der (wirtschafts-)liberale Mythos der Grünen

Gibt es nach Auffassung der Grünen einen systematischen Ort der Sozialpolitik? Das Papier der Programmkommission findet diesen (im Teil Wirtschafts- und Finanzpolitik) folgendermaßen: "Bündnis 90/Die Grünen bekennen sich zur sozialen Marktwirtschaft. Sozial ist eine Marktwirtschaft, die sicher stellt, dass Menschen aus eigenen Kräften, ohne von anderen abhängig zu sein für ihren Lebensunterhalt sorgen können. (...) Eine Gesellschaft, in der die Bedürftigen ein Anrecht auf Unterstützung haben und die Anreize für selbstbestimmtes Handeln setzt, ist weniger entwürdigend, als eine Gesellschaft, in der Arme von Almosen abhängig sind." (S. 10) Einmal abgesehen, ob man sich zu einer sozialen Marktwirtschaft "bekennen" kann (das ist üblicherweise Religionen vorbehalten), wird mit diesen Sätzen – die im Sozialpolitikteil des Papiers nicht infragegestellt werden – eine ökonomisch begründete Gesellschaftsdoktrin skizziert. Sie ist so etwas wie der Hauptsatz des Kapitalismus und damit durchaus Mainstream, durch alle Parteien hindurch. Prüfen wir einmal kritisch, empirisch und politisch:

Das mag theoretisch erscheinen, hat aber praktische Folgen: denn in einem solchen marktwirtschaftlichen Gesellschaftskonzept kann der Sozialstaat nur eine kompensative, zusätzliche und die "eigentlichen" Marktkräfte eben ausgleichende Funktion einnehmen. Er hat keinen Wert in sich selbst. Wie es dann im Text schön heißt: eine Gesellschaft mit einem "Anrecht auf Unterstützung" ist "weniger entwürdigend" – nun gut, als eine Almosengesellschaft, das ist klar, aber "entwürdigend" scheint "Unterstützung" noch immer. Wirkliche Würde und Freiheit hat man nur – so die politisch konsequente Interpretation - wenn man Vermögen hat, unternehmerisch (also mit Kapital ausgestattet) tätig ist oder als Arbeitnehmer im System Arbeitsmarkt funktioniert.

Anders ausgedrückt: diesem marktwirtschaftlichen Gesellschaftsverständnis liegt ein wirtschaftsliberales Freiheitskonzept zugrunde. Das ist folgenreich. Die später im Programmpapier unter "emanzipative" Sozialpolitik gefassten Forderungen stellen die Basisdoktrin nicht mehr infrage. Auch im Reader der Böll-Stiftungs-Kommission werden die marktgesellschaftlichen Prämissen nicht hinterfragt.

 

2. Freiheit im Sozialstaat

Wie könnten sie auch. Denn der Kapitalismus hat gesiegt. Sagen alle. Gegen den Sozialismus/Kommunismus. Der nämlich stellt die marktgesellschaftliche Prämisse infrage. Bei ihm gilt/galt eine andere Wahrheit: nicht der Markt (Vermögen, Erwerbsarbeit, Zins) ist ursprünglich, sondern die Politik, genauer: der Staat. Der Staat ist das Volk ("volkseigene Betriebe" usf.), der Kopf des Volkes ist die Partei. So etwas wollen wir heute nicht mehr. (Selbst die PDS baut ihr neues Programm marktgesellschaftlich um.) Zwischen Kapitalismus und Sozialismus gibt es allerdings seit langem "dritte Wege". Zuletzt machte sich der Blair-Berater Anthony Giddens stark dafür, ebenso der "Kommunitarismus" um Amitai Etzioni. Wie unterschiedlich diese Gesellschaftsideen eines "dritten Weges" auch sind: sie kommen am Sozialstaat nicht vorbei. Zum Teil setzen sie ganz ausdrücklich oder zentral auf ihn. Manche Gesellschaftstheoretiker (z.B. Richard Titmuss) sahen eine historische Reihe: Rechtsstaat (18. Jahrhundert), demokratischer Staat (19. Jahrhundert), Sozialstaat (20. Jahrhundert). Der (republikanische) Staat wird gezähmt, demokratisiert und schließlich zum positiven Garanten sozialer Grundrechte (und –pflichten).

Das taucht in den grünen Programmpapieren auf. Mit hoher Selbstverständlichkeit wird der Sozialstaat für allerlei in Dienst genommen: er soll den Arbeitsmarkt mit dem Ziel der Vollbeschäftigung regulieren (hier sind die Papiere allerdings zaghaft); er soll "kostenlose" Kindergärten/-tagesstätten bereitstellen; er soll ein Erziehungsgeld auf existenzsicherndem Niveau zahlen; er soll Patientenrechte stärken und Anbietermacht im Gesundheitswesen beschränken usf. Faktisch wird dem Sozialstaat viel zugetraut. Die Freiheit des einzelnen scheint für die grüne Programmatik ohne eine starke Sozialpolitik nicht zu sichern. Gerechtigkeit erfordert Politik.

Wie passen die sozialstaatlichen Forderungen und die wirtschaftsliberale Prämissen zusammen? Nicht so ohne weiteres. Man sieht das an der Forderung nach einer "sozialen Grundsicherung": "Dabei ist es für uns besonders wichtig, dass die bedürftigen Menschen nicht als Bittsteller, sondern als vollwertige Gesellschaftsmitglieder behandelt werden." (S. 19) Das klingt nett, ist aber ziemlich von oben herab. Weiter im Text wird das noch deutlicher: man möchte ein "Vertragsverhältnis zwischen Leistungsbeziehern und Leistungsträgern" mit klaren "Rechten und Pflichten". Also zunächst kein Grundrecht auf eine Grundsicherung, sondern ein bedingtes Recht: Wohlverhalten oder schöner gesagt: Eigeninitiative ist "Vertragspflicht". Wer aber bestimmt die Spielregeln? Nun: trotz der heroischen Überschrift vom "grünen Modell einer sozialen Grundsicherung" heißt es in einer Fußnote bescheidener: "Bisher haben die Grünen noch kein definitives Konzept der Grundsicherung verabschiedet". Darum lohnt sich also die Diskussion.

 

3. Bürgergesellschaft und grüne Sozialpolitik

Das Böll-Papier koppelt die Sozialpolitikdebatte an die neuere Diskussion um eine Zivil- bzw. Bürgergesellschaft und spricht von einer "sozialen Bürgergesellschaft" als grünem Projekt. Damit sind wir am Kern unserer kleinen Diskussion angelangt: dem Sozialstaatskonzept der Grünen, der Leitidee.

Man könnte "fundamentalistisch" fragen: welches Staatsverständnis ist mit der Rede von der Bürgergesellschaft vereinbar? Handelt es sich um ein "liberales" Modell im "amerikanischen" Sinn (wie viele Bürgergesellschafts-Protagonisten dies vertreten)? Oder handelt es sich um eine originär neue Idee, die auf der Existenz des Sozialstaats europäischer Prägung aufbaut? Die also auch kein Staatskonzept propagiert, in dem der Sozialstaat auch theoretisch nur kompensativ wirkt (und nur die "echte", "ursprüngliche" Markt- bzw. kapitalistische Warenordnung ausgleicht). Sondern ein positives - im Kern an Grundrechten und Grundpflichten ausgerichtetes - Konzept eines beschränkten, aber in der demokratischen Beschränkung durchaus "aktiven" (und nicht paternalistisch "aktivierenden") Staates meint.

Elemente eines solchen neuen und in das 21. Jahrhundert führenden Denkens finden sich in beiden grünen Papieren. So dort, wo sie eine Reform des deutschen Rentensystems in Richtung des Schweizer Modells einer Volksversicherung mit auskömmlicher Grundrente ansprechen. Allerdings scheint (anders als dem Böll-Papier) dem Programmkommissionspapier nicht ganz klar, worauf es sich einläßt. Es spricht nämlich auch in diesem Zusammenhang stur von "Grundsicherung" im Alter, also einer Leistung, die nur bei Bedürftigkeit gezahlt wird (wie auch das Riestersche Reformmodell, das im Windschatten der Privatrente nun in Kraft tritt). Das Schweizer (aber auch das holländische, dänische, schwedische etc.) Grundrentenmodell setzt freilich keine Bedürftigkeitsprüfung voraus. Abgesichert wird die/der Bürger/in als Bürger. Technisch kann das verschieden gelöst werden. Sei es durch eine lebenslange Beitragszahlung (wie in der Schweiz oder in Holland) oder durch eine Finanzierung aus allgemeinen Steuermitteln (wie in Dänemark; in den achtziger Jahren von den Grünen vorgeschlagen und seit langem von Biedenkopf und Miegel).

Zeitgemäß ist auch die in beiden Papieren enthaltene Forderung, "Leistungen" außerhalb der geldförmigen Marktwirtschaft sozialpolitisch wirksam anzuerkennen: Familienarbeit, Bildungszeiten und bürgergesellschaftliches Engagement vor allem. Der Markt und seine Selbstunterhaltsfiktion kann das nicht richten. Das ist ein originär politisches Projekt.

Zukunftsweisend ist schließlich der demokratische Zug, der beide Papiere durchweht. Die jeweils Betroffenen – Kinder, Frauen, Erwerbslose, Patienten, Migranten (- behinderte Bürger kommen leider nicht vor -) – sollen Instrumente der Selbstrepräsentation ihrer Interessen erhalten. Die Richtungsänderung stimmt und ist – nach fünfzig Jahren Sozialpartnerschaft zwischen Unternehmenskapital und männlichen Vollzeitarbeitnehmern – überfällig. Richtig konkret ist es aber noch nicht.

Wenn man jetzt diskutiert, könnte und sollte man noch einen Schritt weitergehen. Das läßt sich hier nur andeuten. Die Grünen haben die Chance, die Protagonisten eines zeitgemäßen, dem 21. Jahrhundert der "Wissensgesellschaft" angemessenen Reformprojektes zu werden. Indem sie weder wirtschaftsliberal und mit realitätsfernen Egoismustheorien die globale Arbeitsteilung und die Würde der sozialstaatlichen Freiheitsgarantien leugnen. Und indem sie ebensowenig mit den Gralshütern einer sozialdemokratischen Erwerbsarbeitsmystik fraternisieren. Ein solches Projekt "grüner Freiheit" geht davon aus und nimmt es positiv an, dass Wohlfahrt und Lebenschancen heute ein Mix sind. Einkommen ist ein Einkommens-Mix (Markteinkommen, Sozialeinkommen, familiärer Unterhalt). Gesundheit ist ein Gesundheits-Mix (Selbstverantwortung, Gesundheitspolitik, ideologiefreie professionelle Hilfe). Familie ist ein Familien-Mix (aktive Väter, Kinder als Rechtsträger, Vielfalt). In allen diesen (und weiteren) Fällen hat der Sozialstaat – als Rechtsstaat, als demokratischer Staat, als Grundrechtestaat – eine unverzichtbare Begründung aus sich selbst heraus. Er ist ein Wohlfahrtsproduzent neben anderen. Er soll das leisten, was er besonders gut und was zum Teil nur er leisten kann. Grundrechte sichern vor allem (Grundrente, Kindergeld, Erziehungseinkommen, bald: ein Grundeinkommen, zum Beispiel in Form einer negativen Einkommenssteuer). Aber auch bestimmte Grundpflichten organisieren (Steuerpflicht, Schulpflicht, aber warum nicht – trotz der grünen Programmtabus – einen allgemeinen Sozialdienst, einen sozialen Zivildienst für alle?).

Grüne Freiheit und grüne Gerechtigkeit würden dann zusammenfinden. Inwieweit das auch noch mit den grünen Perspektiven einer nachhaltigen Gesellschaft zusammenpasst, mit der globalen (Modell-)Funktion der Metropolen usf., kann hier nicht mehr diskutiert werden. Aber es passt.

 

Der Text erschien unter dem Titel "Weniger Almosen, mehr Lebenschancen" stark gekurzt in der Zeitschrift "Schragstrich. Zeitschrift fur bundnisgrune Politik", Heft 5-6/2001, S. 48-49

Dr. Michael Opielka ist Professor für Sozialpolitik an der Fachhochschule Jena und war 1983 bis 1987 Sprecher der Bundes-AG Soziales und Gesundheit der Grünen.

Anmerkung:

1) Bündnis 90/Die Grünen (Hrsg.), Diskussionspapiere für ein neues Grundsatzprogramm, Berlin (Stand: 28.4.2001); Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.), Reader der Projektkommission "Arbeit und Soziales", Berlin (April 2001). Beide Papiere sind über die Homepage der grünen Bundesgeschäftsstelle bzw. der Heinrich-Böll-Stiftung abrufbar


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