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Zwangsdienst statt Zwangsdienst?

Beschäftigungspolitische Szenarien zur Abschaffung des Zivildienstes

Von Christa Sonnenfeld

Es ist absehbar, dass die Wehrpflicht in naher Zukunft eingeschränkt bzw. ganz abgeschafft wird. So soll nach den Vorstellungen der mit der Erarbeitung von Richtlinien zur Umstrukturierung der Bundeswehr beauftragten "Weizsäcker-Kommission" die Zahl der Wehrpflichtigen von 130.000 auf 30.000 reduziert werden. Wenngleich der Vorschlag in dieser Form zunächst abgelehnt wurde, stehen solche Überlegungen doch für eine Vision, die breitere Zustimmung findet. Ziel scheint demnach auch in anderen Szenarien zur Zukunft der Bundeswehr eine schlagkräftige Berufsarmee zu sein, die mit materiell und personell hochgerüsteten ‘Krisenreaktionskräften’ in kriegerische Auseinandersetzungen weltweit intervenieren soll*; deren Zahl soll – nach den Vorstellungen der Weizsäcker-Kommission – von 60.000 auf 140.000 Mann und Frau erhöht werden. Dies steht im Kontext einer Neu-Interpretation der sicherheitspolitischen Lage, die sich nicht mehr der Ideologie der Verteidigung bedient, sondern ordnungspolitische Militärstrategien auch außerhalb des Nato-Bereichs beinhaltet.

Der Übergang zu einer Berufsarmee hätte erhebliche Folgen für die Zukunft des Zivildienstes. Sollte die Zahl der Zivildienstleistenden schrumpfen oder der Zivildienst ganz wegfallen, dann ist die Illusion, wonach der soziale Bereich mit seinen Aufgaben zu niedrigsten Löhnen bewältigbar sei, nicht mehr länger aufrechtzuerhalten. Was könnte die Folge sein, wenn diese überwiegend im stationären und pflegerischen Bereich angesiedelten Tätigkeiten zu den bisherigen Bedingungen künftig kaum noch oder gar nicht mehr besetzt werden können?

Um es deutlich zu sagen: Es soll im Folgenden nicht darum gehen, einer Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht das Wort zu reden. Vielmehr soll es um die mehr oder weniger repressiven Entwürfe und Zukunftsplanungen gehen, die sich mit der "Konversion" des Zivildienstes und der damit verbundenen Arbeitsverhältnisse auseinandersetzen.

Derzeit sind bei rückläufiger Tendenz ca. 132.000 Zivildienstleistende, vorrangig im sozialen Bereich, beschäftigt. Sie sind überwiegend in der Pflege von Schwerbehinderten und bei den mobilen Hilfsdiensten (Essen auf Rädern, Rettungsdienste) im Einsatz; über 50 Prozent sind im stationären Bereich tätig (vgl. Incesu 1995). Zwar dürfen sie keinen qualifizierten Arbeitsplatz besetzen, doch die Übergänge waren schon immer fließend; für die Wohlfahrtsverbände ist entscheidend, dass sie konkurrenzlos billig sind. Große Versorgungslücken im sozialen Bereich konnten damit geschlossen werden, da faktisch nicht existenzsichernde Löhne gezahlt werden und man sich nicht um qualifizierende Maßnahmen zu scheren brauchte. Dass es sich (wie bei der Wehrpflicht) um einen Zwangsdienst handelt, wird in der Öffentlichkeit bis heute weitgehend unwidersprochen hingenommen.

Bislang wurden mehrere Szenarien entworfen, von denen zwei herausgegriffen werden sollen:

1. Die allmähliche Abschaffung des Zivildienstes, so die Hoffnung, schafft zahlreiche neue Arbeitsplätze für Erwerbslose. Angesichts der Praxis des Arbeitszwangs für Erwerbslose und SozialhilfebezieherInnen, die wir seit Jahren kennen, und unter Berücksichtigung des vorhandenen gesetzlichen Instrumentariums ist wahrscheinlich, dass der Arbeitszwang für diese Zielgruppe massiv ausgeweitet werden würde.

2. Unter den Schlagworten ‘soziales Pflichtjahr’ und ‘soziale Dienstpflicht’ wird im Wesentlichen an die Verpflichtung junger Heranwachsender bzw. aller erwerbsfähigen BürgerInnen gedacht, die bisherigen Aufgabenfelder der Zivildienstleistenden, darüber hinaus aber auch Dienste bei der Feuerwehr oder in der Entwicklungshilfe zu übernehmen.

 

I. Die Ausweitung des Arbeitszwangs für LeistungsbezieherInnen

Konzepte, die für eine Abschaffung des Zivildienstes plädieren und – neben dem Ausbau des Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) – das frei werdende Geld für die Schaffung von Arbeitsplätzen fordern, wurden im Wesentlichen von den Grünen vorgelegt, aber auch von einigen Wohlfahrtsverbänden, der "Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung" und anderen. Man erhofft sich Arbeitsplätze, "die den Benachteiligten auf dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt werden können." Der Umbau wird dabei als "sanfter Gleitflug" (die Grünen) angestrebt. Letzteres ist notwendig, da eine radikale Abschaffung zum einen erhebliche Finanzierungsprobleme und Personallücken aufreißen würde; zum anderen könnte sie auch zu gesellschaftlichen Konflikten führen, wenn allzu spektakulär Erwerbslose in die Stellen gedrückt würden. Ein gleitender Übergang würde in der Öffentlichkeit eher auf Akzeptanz treffen.

Der Arbeitszwang für LeistungsbezieherInnen wird seit Jahren in wachsendem Umfang auf der Grundlage sowohl des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) als auch des Sozialgesetzbuches III (SGB III) umgesetzt (vgl. Sonnenfeld 1999). So gibt es im Rahmen der Hilfe zur Arbeit im BSHG, die den Berufsschutz nicht kennt, schon von Beginn an zwei Varianten: die Mehraufwandsvariante ("gemeinnützige Arbeit", vorwiegend im Grünflächenbereich), bei der zusätzlich zur Sozialhilfe eine Mehraufwandsentschädigung zwischen zwei und vier DM pro Stunde gezahlt wird, und die Entgeltvariante (befristete Beschäftigungsverhältnisse) mit Arbeitsvertrag, die sich durchweg im Niedriglohnsektor und teilweise unter Tarif bewegen (vgl. Rein 2000). Die LeistungsbezieherInnen werden in kommunale Beschäftigungsgesellschaften vermittelt, an private Firmen (z.B. Deutsche Bahn AG, Tankstellen) verliehen oder direkt an private Leihfirmen weitergeleitet. Für die Kommunen ergibt sich ein Einsparungseffekt allein schon dadurch, dass die Betreffenden nach Vertragsende Anspruch auf Arbeitslosengeld haben und so über den Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit und nicht mehr über die Kommune unterstützt werden müssen. Nach einer Hochrechnung des Deutschen Städtetages wurden im Rahmen der Hilfe zur Arbeit 1999 rund 300.000 Personen eingesetzt, je zur Hälfte in den beiden skizzierten Varianten. Damit ist die Zahl der Arbeitsverpflichtungen seit 1996 um ca. 50 Prozent gestiegen.

Für Erwerbslose, die Leistungen nach dem SGB III beziehen, ist seit 1997 durch verschärfte Zumutbarkeitsregelungen der Berufsschutz abgeschafft. Bereits nach sechs Monaten Erwerbslosigkeit muss jede Beschäftigung akzeptiert werden, die in der Höhe des Arbeitslosengeldes (60 Prozent des letzten Nettolohns) liegt. Der Gesetzgeber hat so die Möglichkeit geschaffen, Erwerbslose auf einen sich verändernden Arbeitsmarkt zu zwingen, der mehr prekäre Beschäftigungen bereithält und auf Qualifikationen weniger Wert legt. Über die Zunahme dieser Form der erzwungenen Beschäftigung liegen bislang keine aktuellen Daten vor; der Zwang zu Beschäftigung, ohne Qualifikationsschutz und zu Niedriglöhnen, geschieht alltäglich und unspektakulär.

Die Grünen heben hervor, dass sie "gegen jeden Zwangsdienst" sind, wie Angelika Beer noch im Mai 2000 beteuerte, dass also sowohl das FSJ als auch die Arbeitsplatzangebote im sozialen Bereich nicht mit Sanktionen verbunden werden sollten. Zwei zentrale Erfahrungen lassen allerdings Skepsis aufkommen. Erstens: Die von den Grünen seit Monaten geforderte "Zivildienstkommission" soll nach ihren Vorstellungen u.a. mit VertreterInnen der Wohlfahrtsverbände, der Vereinigung der Kriegsdienstgegner, des Arbeitsministeriums und der Bundesanstalt für Arbeit besetzt sein. Die beiden Letzteren haben in der Vergangenheit ein gesetzliches Regelwerk erarbeitet, das den Arbeitszwang für LeistungsbezieherInnen festschreibt. An der einvernehmlichen Abschaffung dieses mit dem SGB III eingeführten Arbeitszwanges hat die rot-grüne Bundesregierung zu keinem Zeitpunkt gerüttelt. Auch wenn eine derartige Kommission nach den Vorstellungen der Grünen also ‘Hilfen’ und ‘Angebote’ entwickeln sollte, bliebe das für die Durchsetzung durch die Ämter relativ bedeutungslos, da diese nach Gesetzeslage und nicht nach politischen Stellungnahmen handeln müssen. Zweitens: Im Sommer 1998 – noch vor der Bundestagswahl – sprachen sich die Grünen ausdrücklich gegen den "Kombi-Lohn" aus. Dabei handelt es sich um verschiedene Formen der Lohnsubventionierung von ‚neuen’ Niedriglohntätigkeiten für Erwerbslose, die nach den Vorstellungen der Arbeitgeberverbände 20 bis 30 Prozent unter den bisherigen Niedriglöhnen liegen sollen. Die Annahme solcher Tätigkeiten kann erzwungen werden, gleichgültig, um welche Jobs es sich dabei handelt. Bereits acht Monate später – die Wahl war gewonnen – sprach die Bundespartei von "Drückebergern", die sich im Leistungsbezug einrichteten und auf die man deshalb Druck zur Arbeitsaufnahme ausüben müsse, so z.B. durch eine Kombi-Lohn-Maßnahme. Angesichts dieses windschnittigen Meinungswandels wiegen Beteuerungen hinsichtlich der Ablehnung von Zwangsdiensten nicht sonderlich schwer. Es gilt das gebrochene Wort.

Konkrete Aussagen dazu, wie die erhofften Arbeitsplätze im sozialen Bereich besetzt werden sollten, gibt es bislang nicht. Wird unterstellt, dass jede/r Erwerbslose an sozialer Arbeit interessiert und dazu auch befähigt ist? Wahrscheinlicher ist, dass die Propaganda längst Früchte trägt, wonach jede Arbeit besser sei als keine, und die Qualifikationen und Interessen nicht länger von Bedeutung sind. In den Köpfen ist der Berufsschutz schon lange abgeschafft.

Man will ‚reguläre’ Arbeitsplätze schaffen, ohne dass zusätzliche Kosten entstehen – wie ist das möglich? "Fährt ein Langzeitarbeitsloser Essen auf Rädern aus, kostet er den Staat jährlich 11.000 DM weniger; zudem nehmen Bund, Länder und Kommunen 7.500 DM zusätzlich an Steuern ein", so die Erläuterung der tageszeitung zum Konzept der Grünen. Wieder wird offenbar unterstellt, Langzeitarbeitslose hätten keine beruflichen Qualifikationen, und man könne sie daher in jede Arbeit drücken. Nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit trifft der Mangel an beruflichen Qualifikationen für 39 Prozent der Erwerbslosen zu – und nicht, wie immer behauptet, für die Mehrzahl. Doch weniger die fehlende Qualifikation ist in der Praxis ein Hindernis bei der Arbeitsvermittlung, wie eine Untersuchung des "Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung" (IAB) ergab, sondern vielmehr das fortgeschrittene Alter der Langzeitarbeitslosen und ihre gesundheitlichen Einschränkungen. Berechnungen wie die in der taz zeigen nicht nur, dass offenbar Niedriglöhne hingenommen werden, die sich an der Armutsgrenze bewegen; die Spekulationen belegen auch, dass sich bis in die hintersten Winkel das Bewusstsein breit gemacht hat, dass es um Arbeit um jeden Preis geht – und nicht mehr um Interessen, Qualifikationen und Fähigkeiten.

 

II. Das Modell des sozialen Pflichtjahres

Die zu Beginn der neunziger Jahre aufgekommene öffentliche Debatte um ein soziales Pflichtjahr konzentrierte sich zunächst vorwiegend auf die Zielgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Man brauche diesen Dienst für den Sozialstaat, "als Beitrag, die soziale und humanitäre ‘Produktivität‘ der Gesellschaft zu steigern"; jeder junge Mann könne dabei wählen, ob er den Dienst in der Bundeswehr oder einen sozialen, ökologischen oder Entwicklungsdienst ableisten wolle. Die soziale Dienstpflicht beträfe sowohl diejenigen, die als untauglich eingestuft wurden, als auch junge Frauen, so Warnfried Dettling (früherer CDU-Berater) bereits 1993. Sibylle Tönnies, Juristin an der Universität Bremen, sprach sich in verschiedenen Stellungnahmen immer wieder für einen "Arbeitsdienst" aus; sie sieht das Pflichtjahr als humanitär-pädagogischen Akt: Man müsse Jugendlichen zeigen, dass sie gebraucht würden, gerade im Hinblick auf eine mögliche Abschaffung der Wehrpflicht. Dass dies eine Grundgesetzänderung erforderlich machen würde, ist ihr früh klar: "denn es handelt sich – like it or not – um Zwangsarbeit", so Tönnies 1996. Wenig später allerdings gelangt sie zu der Überzeugung, die vorhandene Gesetzgebung (nämlich das Sozialhilferecht) reiche aus.

Die großen Wohlfahrtsverbände argumentieren in den letzten Monaten überwiegend gegen einen neuen Zwangsdienst; insbesondere Caritas-Verband und Diakonisches Werk lehnen ihn durchweg ab und legten ein Konzept für einen "Freiwilligen Zivildienst" vor. Der Malteser Hilfsdienst und der Sozialverband VDK geben dagegen ein klares Bekenntnis zum sozialen Pflichtjahr ab und haben hier vor allem die absehbare Personallücke bei den Sozialen Diensten im Auge. Hinzu komme, dass man Verlässlichkeit bei der Dienstplanung brauche, und die ist offenbar bei der gegenwärtigen Bezahlung nur mittels Zwang zu haben.

Ein soziales Pflichtjahr "ohne Tabus" (Renate Schmidt, SPD) soll das Projekt der Zukunft werden. Dies erfordert auch eine Umbewertung historischer Erfahrungen. Positive Bezüge auf den Arbeitsdienst des Nationalsozialismus sollen endlich wieder erlaubt sein. In der Zeit nennt die Journalistin Susanne Gaschke die soziale Dienstpflicht "Gemeinwohleinsatz" und klagt: "Es finden sich viele Argumente für die Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht; es gibt beachtliche Einwände dagegen. Nur der unfaire Vergleich mit dem Reichsarbeitsdienst im nationalsozialistischen Terrorregime sollte die Gutwilligen in der Bundesrepublik heute nicht mehr am Nachdenken hindern" (Hervorhebung C.S.). Die Kategorie der ‘Fairness’ erhellt: Man spürt die gefährliche ideologische Nähe zum Reichsarbeitsdienst (RAD; s.u.) und versucht eine Abgrenzung über die eigenen Motive. Diesem Muster folgt auch die Begründung für die in jüngster Zeit angedachte Erweiterung der Zielgruppe für ein Pflichtjahr, nach der alle BürgerInnen verpflichtet werden sollen, "sich im Laufe ihres Lebens 9 bis 12 Monate für öffentliche Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen". Denn: "Sollen die Bürgerinnen und Bürger nicht in einem Meer aus lauter Privatheit versinken, sondern auch am öffentlichen Leben teilnehmen, müssen sie sich an dieser Produktion des Gemeinwesens beteiligen" – so der grüne Senator für Stadtentwicklung in Hamburg, Wilfried Maier. In dieselbe Richtung zielt auch ein taz-Kommentar zur Abschaffung der Wehrpflicht: Das soziale Pflichtjahr "wäre eine zeitgemäße Form der Wehrgerechtigkeit und gäbe jedem die Chance, Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen." Gerechtigkeit wird offenbar dadurch hergestellt, dass ein Zwangsdienst durch den anderen ersetzt wird; was da gerecht verteilt wird, spielt keine Rolle.

Die erforderliche Grundgesetzänderung wird von den Befürwortern entweder ignoriert oder als unvermeidlich gerechtfertigt; man hat zwar Bauchschmerzen, aber das Verantwortungsgefühl treibt dazu. Für die Kritiker stellt gerade sie eine erhebliche Hemmschwelle dar. So weist bspw. Tobiassen von der "Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer" 1998 darauf hin, dass zu derartigen Zwangsmaßnahmen "in der Vergangenheit nur totalitäre und faschistische Staaten gegriffen hatten."

 

Arbeit mit Kampfbegriffen

Bourdieu/Wacquant (2000) sprechen zu Recht von einer "mentalen Kolonisierung mittels bestimmter Begriffe", die eine andere Realität herbeiführen soll. Solche Transformationsversuche sind derzeit massenhaft zu beobachten, so wenn z.B. im Rahmen der ‘Grundwerte-Diskussion’ der SPD Wolfgang Clement im April dieses Jahres "eine begrenzte Ungleichheit im Ergebnis" befürwortet, die "ein realistisches Mehr an Gerechtigkeit schaffen" könne. Ungleichheit schafft mehr Gerechtigkeit – ein intellektueller Salto, hinter dem die Vorstellung der Teilhabe aller am Wettbewerb als Gerechtigkeitsmaßstab steht (vgl. Petrella 1999), und da gibt es eben Gewinner und Verlierer. Die Plädoyers für eine Ausweitung des Arbeitszwangs und des sozialen Pflichtjahres verweisen vor allem auf die folgenden drei Ebenen der Meinungsmanipulation.

1.) Appelle an das Verantwortungsgefühl

Angesichts von Korruption und Selbstbedienung zum Zweck der Machtsicherung ist es relativ unwahrscheinlich, dass die herrschenden Eliten die Appelle und Beschwörungen zu mehr Verantwortungsgefühl an sich selbst richten. Schon bei der Durchsetzung des Arbeitszwangs für LeistungsbezieherInnen ist klar geworden, dass diese Appelle vorwiegend dazu dienen, die Einschränkung von Freiheitsrechten für die Bevölkerung akzeptabel zu machen. Nie war davon die Rede, den BürgerInnen die volle soziale Teilhabe und politische Teilnahme zu ermöglichen. Die Übernahme von Verantwortung für das Ganze durch Einzelne soll hier in keiner Weise diffamiert werden; vielmehr geht es mir darum, den Blick darauf zu lenken, dass die Appelle offenbar nicht für alle gelten und dass die Verantwortungsbereiche selektiv bestimmt werden. Während mit der Verantwortungsrhetorik einerseits das Versprechen der Partizipation und Einflussnahme transportiert wird, wird zugleich von der Verantwortung für bestimmte gesellschaftliche Bereiche und von echter Partizipation an politischen Entscheidungen abgelenkt.

2.) Rechte nur bei Pflichterfüllung

Die Debatte darüber, wie eine Verweigerung ("Verantwortungslosigkeit") sanktioniert werden sollte, bleibt für das soziale Pflichtjahr bislang eigentümlich ausgespart, denn es ist davon auszugehen, dass die Koppelung der Begriffe "Verantwortung" und "Pflicht" mehr bedeutet als einen bloßen Appell. Clement klärt uns auf: "Aber der Sozialstaat der Zukunft wird sehr viel mehr darauf achten müssen, die Einzelnen in die Pflicht zu nehmen und, wenn nötig, auch zu drängen, ihrer eigenen Verantwortung nachzukommen. Das ist die Pflicht der Individuen gegenüber der Gesellschaft. Wer Rechte hat, hat auch Pflichten." Der Begriff der Pflicht wird sowohl im moralisch-appellativen als auch im strafenden Sinne gebraucht. Noch wird das moralische Schwert geschwungen; die gewünschte Durchsetzung soll zunächst nicht konkretisiert werden. Lediglich Tobiassen wirft die Frage auf, ob denn geplant sei, dieselben Sanktionen wie im Fall der Zivildienstverweigerung anzuwenden, also bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Zunächst ist es mitnichten so, dass BürgerInnen zu viele Rechte und keine Pflichten hätten, wie uns immer wieder suggeriert wird. Die im Grundgesetz formulierten Rechte finden nämlich immer dort ihre Grenze, wo es um die Rechte jeweils anderer geht. Die Rechte des Einzelnen werden also immer durch die Rechte aller anderen beschränkt. Der Handel von Rechten und Pflichten ist auch in einer anderen Hinsicht ideologisch. Volkmar Deile (1997) von amnesty international hat ebenso wie von ganz anderer politischer Seite Ralf Dahrendorf (1994) darauf hingewiesen: Menschenrechte sind keine Belohnung für Wohlverhalten. Alle Menschenrechte sind allgemein gültig, unteilbar und bedingen einander. Sie gelten für jedes Individuum von Geburt an und sind unveräußerlich. Sie sind nicht Ergebnis eines Tauschvertrags, und deshalb kann nicht mit ihnen gehandelt werden.

Doch diese Logik des Tauschhandels wird inzwischen auf alle BürgerInnen ausgedehnt und verallgemeinert. Hieß es im SPD-Wahlprogramm noch zielgruppenorientiert: "Niemand soll sich auf Kosten der Allgemeinheit vor zumutbarer Arbeit drücken", so wird allmählich auch die erwerbsfähige Bevölkerung ins Visier genommen. Allerdings haben sich ihr gegenüber die ideologischen Durchsetzungsstrategien verändert, da hier existenzielle Sanktionsmittel fehlen. In der unter anderem von Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt mitformulierten Charta der "Menschenpflichten" wird daher nicht von ungefähr das Grundgesetz ins Visier genommen, das so manchen als zu freiheitlich gilt. Pflichterfüllung wird nicht nur in der Diskussion um die Zukunft des verbliebenen Sozialstaats zunehmend zur handlungsleitenden Kategorie, sondern soll, ideologisch gewendet, als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie gelten. Warnfried Dettling bringt es in der Debatte um das Pflichtjahr auf den Punkt, wenn er mahnt: "Eine freiheitliche und soziale Demokratie hat ihren Preis, der mit Zumutungen verbunden ist", wobei auch er die herrschenden Eliten ausspart.

3.) Der pädagogische Impetus: Sorge und Strafe

Insbesondere wenn Jugendliche die Zielgruppe ausmachen, geraten pädagogische Zielsetzungen in den Mittelpunkt; man will Sinnstiftendes vermitteln, und zwar unter jeder Bedingung. Man will den Zwang, pädagogisch eingekleidet. So meint Dettling, ein soziales Pflichtjahr könne der "sozialen Alphabetisierung" dienen, und für Cohn-Bendit tritt es einer "Entsolidarisierung der Gesellschaft" entgegen. Auch der niedersächsische Innenminister Bartling (SPD) will, dass etwas gelernt wird, nämlich Wünsche zu bezwingen: "Ich will den Zwang, ganz bewusst. Jeder sollte einmal im Leben etwas getan haben, was er sich nicht unbedingt selbst ausgesucht hat." Es ist müßig, über die Motive zu spekulieren, die hinter diesen Worthülsen stehen könnten. Deutlich wird aber, dass der pädagogische Impetus, der sich bereits im Rahmen des Jugendprogramms JUMP 2000 entfaltete, eine neue Dimension bei der Durchsetzung staatlichen Zwangs eröffnet. Es geht nämlich um mehr als um Arbeit.

 

Überhöhung der Arbeit als Dienst an der Gemeinschaft

In der vereinzelten Diskussion darüber, wie die Ausweitung des Arbeitszwangs zu interpretieren sei, geht es auch darum, inwieweit der ‘Arbeitsdienst’ nationalsozialistischer Prägung vom ‘Arbeitszwang’ der Gegenwart abzugrenzen ist. Kahrs (1997) sieht hier folgende Unterscheidung: Der Arbeitsdienst war in erster Linie vormilitärische Ausbildung und Sozialdisziplinierung, "er war eingebettet in eine nationale Mobilisierung der Jugend und diente eindeutig der Wehrertüchtigung". Gleichzeitig diente er aber auch einer Überhöhung der Arbeit zum "Dienst an der Gemeinschaft". Der Arbeitsdienst stellt für Kahrs deshalb eine historische Ausnahme dar. Der Arbeitszwang gehört für ihn dagegen zum "wohlfahrtsstaatlichen Alltagsgeschäft". Die Reduzierung staatlicher Fürsorge und die Instrumentalisierung einer größeren Reserve von Arbeitskräften dienen der Zuarbeit zum Niedriglohnsektor, also der Arbeitsbeschaffung. Diese Unterscheidung ist m.E. nicht (mehr) so klar zu treffen.

Selbst einflussreiche Kreise in der NSDAP waren vor 1935 noch der Auffassung, dass der Arbeitsdienst eine vorübergehende Hilfsmaßnahme zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei. Das dann in Kraft getretene "Gesetz der Allgemeinen Dienstpflicht für männliche und weibliche Jugendliche" machte schnell klar, dass es auch darum ging, die Jugend "zur Volksgemeinschaft und zur wahren Arbeitsauffassung" zu erziehen: Konstantin Hierl, der ‘Schöpfer’ des Reichsarbeitsdienstes, sah diesen als "soziale Schule der Nation". Von den damaligen Befürwortern des Reichsarbeitsdienstes wird dessen vormilitärischer Charakter für die Anfangsphase vehement bestritten. Bis 1939 jedenfalls durften keine Waffen oder Uniformen getragen werden ("50.000 Spaten blitzen in der Sonne"); die ideologischen Pfeiler waren Zucht, Ordnung und sportliche Betätigung. Die "Armee der Arbeit" sollte nach dem Willen Hierls ausschließlich gemeinnützigen Zwecken dienen. Die neu organisierten "Arbeitsmaiden" und andere Frauenorganisationen kamen hinzu. Sie taten im Wesentlichen bei Ernteeinsätzen ihren Dienst, mussten nach 1939 aber auch im Lazarett- oder Funkdienst, also im militärischen Bereich arbeiten (vgl. Mallerbrein 1991; Klees 1984).

Der RAD machte demnach eine Entwicklung durch, an deren Anfang Arbeit und Gemeinschaft standen und die in die Bewaffnung und schließlich in den Kriegseinsatz mündete.

Ein Unterschied zum Konzept des sozialen Pflichtjahres liegt darin, dass es heute weder um "soldatische" Tugenden noch um militärische Vorbereitung geht, sondern darum, sozialstaatliche Versorgungsaufgaben möglichst billig auf alle BürgerInnen zwangsweise umzuverteilen oder ganz abzubauen. Doch der Ausbau des Arbeitszwangs setzt Ideologisierungen voraus, damit er akzeptiert wird, und in den Durchsetzungsstrategien und ideologischen Überhöhungen zeigen sich die fließenden Übergänge, so im Hinblick auf Begriffe wie "Gemeinwohl" oder "Pflichten für die Gemeinschaft". Trotz des nichtmilitärischen Charakters des sozialen Pflichtjahres (Feuerwehr, Soziale Arbeit, Entwicklungshilfe) legen die zitierten Äußerungen der Wegbereiter des Pflichtjahres nahe, dass es um mehr als um Arbeitsbeschaffung geht, wenn mit pädagogischen Floskeln und der ‘Gemeinschaft’ operiert und damit das soziale Pflichtjahr ideologisch aufgeladen wird. Ein fundierter Vergleich, der in der Forschung bislang aussteht, müsste entsprechende Grenzlinien und Übereinstimmungen herausarbeiten.

Verpflichtungen zur Arbeit haben jedoch auch in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik immer wieder eine Rolle gespielt. Bevor 1968 das "Arbeitssicherstellungsgesetz" im Rahmen der Notstandsgesetze rechtskräftig wurde, gab es in der Bundesrepublik heftige Diskussionen, da man einen neuen militärischen Arbeitseinsatz fürchtete. So blickte der Vorstand der IG Metall 1967 auf die Folgen eines solchen Gesetzes: "Mit dem Gesetz kann die gesamte Arbeitswelt durch Zwangsarbeit geregelt werden. Das bedeutet eine an ganz unbestimmte und dehnbare Voraussetzungen geknüpfte Vollmacht für die Bundesregierung, über die Arbeitskraft und die Freizeit der gesamten arbeitsfähigen Bevölkerung zu verfügen, wie sie es bisher nur in totalitären Staaten gibt."

Derartige Argumente könnten durchaus auch heute gegen das soziale Pflichtjahr ins Feld geführt werden, da ja die Heranziehung der Erwerbstätigen irgendwie geregelt werden müsste und dies nur über Eingriffe in bestehende Arbeitsverhältnisse realisierbar wäre. Die Anwendung des "Arbeitssicherstellungsgesetzes" ist sicherlich nicht erforderlich, um das Pflichtjahr durchzusetzen. Die Einschränkung des Grundgesetzes wie schon im Falle des Asyl- und Ausländerrechts oder des Lauschangriffs bietet sich da eher an. Der Verzicht auf bestimmte Freiheitsrechte wird, und hier liegen Parallelen zur Einführung des RAD, mit dem Rekurs auf die "Gemeinschaft" als Metapher für die Opfer, die zu erbringen sind, legitimiert. Der Sozialstaat, der in seiner Praxis Freiheitsrechte und bürgerliche Teilhabe ohnehin völlig unzulänglich gewährt (vgl. Narr 1999), wird in seinem Kern weiter reduziert. Die BürgerInnen erleben einen schleichenden Entdemokratisierungsprozess.

 

Das Freiwillige Soziale Jahr als Alternative?

Einige Wohlfahrtsverbände, die Bundesgrünen und verschiedene Einzelpersönlichkeiten verweisen darauf, dass immer mehr Jugendliche und junge Erwachsene ein Freiwilliges Soziales Jahr oder gleichbedeutende internationale workcamps absolvieren. Dabei handelt es sich vorwiegend um Naturschutz- und Restaurierungsarbeiten, aber auch um Dienste in Krankenhäusern und Behinderteneinrichtungen, in der Obdachlosen- oder Suchthilfe. Viele der BewerberInnen wollen die Wartezeit zwischen Schule und Ausbildung sinnvoll überbrücken. Ihnen könnten, so wird argumentiert, die frei werdenden Stellen des Zivildienstes angeboten werden, da es offenbar genügend Bereitschaft für soziales Engagement gebe. Die vorliegenden Entwürfe sehen eine rechtliche Besserstellung und die Bevorzugung bei der späteren Stellensuche als Belohnung vor. Derartige Dienste beheben zwar nicht das Problem der Dequalifizierung Sozialer Arbeit, sie sind nicht einmal entlohnt, aber immerhin wäre eine Kontinuität der Zwangsdienste in der Bundesrepublik endlich durchbrochen.

Die Debatte, inwieweit das FSJ den Zivildienst ersetzen könnte, ist noch im Gange. Skeptiker führen das Argument fehlender Berechenbarkeit bei den Einsätzen ins Feld, Befürworter verweisen auf das steigende Engagement. Bei der Umsetzung bliebe m.E. das Problem, dass ungeliebte, psychisch und physisch stark belastende Arbeiten nicht kontinuierlich besetzt werden könnten – ähnlich wie heute bei den internationalen workcamps, die für bestimmte Länder kaum TeilnehmerInnen finden. Solange daher für wichtige soziale Arbeiten nur ein Taschengeld gezahlt wird, ist damit auch für die Alternative "Freiwilliges Soziales Jahr" unklar, wie die notwendigen Aufgaben im sozialen Bereich ohne Arbeitszwang erfüllt werden sollen.

 

Dequalifizierung Sozialer Arbeit

Beide Szenarien – sowohl die Ausweitung des Arbeitszwangs als auch die Einführung eines Pflichtjahres – beinhalten die Fortsetzung der partiellen Dequalifizierung Sozialer bzw. pflegerischer Arbeit. Damit wird die Illusion aufrechterhalten, dass derartige Tätigkeiten von jedem/jeder zu bewältigen seien. Sicherlich erfordern nicht alle Arbeiten eine besondere berufliche Qualifikation, aber der Eindruck wird immer klarer, dass Qualitätskriterien als völlig unerheblich angesehen werden.

Um im sozialen Bereich ‘reguläre’ Arbeitsplätze mit entsprechender Bezahlung und Ausbildung zu schaffen, wird von manchen Interessengruppen gefordert, diejenigen Mittel bereitzustellen, die bisher für den Zivildienst und die Transferzahlungen bei Arbeitslosigkeit aufgewendet wurden, doch die Reaktion der Bundesregierung ist bislang eindeutig: Niehuis (SPD) informierte kürzlich, dass mit der Abschaffung des Zivildienstes auch die Zahlungsgrundlage entfalle. Statt sich also um eine Re-Professionalisierung zu bemühen, unterstellt man lieber einfach, jeder Mensch verfüge per se über soziale und pflegerische Interessen und Fähigkeiten. Diese doppelte Abwertung sowohl der verpflichteten Personen als auch derjenigen, die versorgt bzw. gepflegt werden müssen, war schon für den Zivildienst kennzeichnend. Doch entscheidend ist jetzt, ob es in der nahen Zukunft eine bewusste Entscheidung dafür geben wird, den damit verbundenen Zynismus nicht nur fortzusetzen, sondern auszuweiten.

 

Schlussbemerkung

Man ist im sozialen und pflegerischen Bereich mit dem Zivildienst billig gefahren, und offensichtlich will die Bundesregierung diese kostengünstige Strategie mittels Zwang beibehalten. Offen bleibt, ob ausschließlich LeistungsbezieherInnen herangezogen werden, was eine Verfassungsänderung vermeiden würde, weil das rechtliche Instrumentarium längst vorhanden und erprobt ist, oder ob die Einführung eines sozialen Pflichtjahres für alle jungen Erwachsenen oder sogar für alle Erwerbsfähigen präferiert wird. Bislang existiert in keinem Staat Europas ein derartiger Pflichtdienst. Die Politik der europäischen Regierungen muss unter diesem Aspekt genau beobachtet werden.

Derartigen arbeitsmarktpolitischen Entwicklungen entgegenzutreten, wäre eine der originären Aufgaben der Gewerkschaften. Es ist allerdings zu befürchten, dass sich kaum noch eine nennenswerte gesellschaftliche Gruppierung finden lassen wird, die sich bedingungslos für Freiwilligkeit und existenzsichernde Bezahlung einsetzt. Aber nur so kann der Zivildienst menschenwürdig ersetzt werden.

 

Erschienen in: express - Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit Nr. 9/2000
http://www.labournet.de/express/

* Eine Übersicht über Modelle zur "‘Konversion’ der Bundeswehr bietet die vom Komitee für Grundrechte und Demokratie" herausgegebene Broschüre: "Die neue Bundeswehr: Umrüstung zur Angriffsfähigkeit", Bezug: Aquinostraße 7-11, 50670 Köln

Der Artikel erscheint – in einer ausführlicheren Fassung – auch in den Widersprüchen, September 2000. Wegen des Quellen- und Literaturumfangs wurde nicht in der üblichen Weise zitiert. Quellenangaben zu Zeitungsmeldungen können bei der Autorin, Literatur über die Redaktion nachgefragt werden.

Dr. Christa Sonnenfeld ist Mitglied im Arbeitsausschuss des Komitees für Grundrechte und Demokratie; Kontakt: Martin-Luther-Straße 54, 60389 Frankfurt


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