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Gruppe Blauer Montag

Überlegungen zur Umstrukturierung  des 2. Arbeitsmarktes und zur Zwangsarbeit

Gegen die 1994 wieder aufflackernde Diskussion um gemeinnützige Arbeit für SozialhilfeempfängerInnen und damit verbundene kommunale "Modelle" (Leipzig, Lübeck) versuchten die Bundesarbeitsgruppen gegen Erwerbslosigkeit und Armut, eine bundesweite "Kampagne gegen Zwangsarbeit" zu entwickeln. Der folgende Text, der u.a. auch mit GenossInnen aus Oldenburg diskutiert wurde, war als kritische Anmerkung zu dieser Kampagne gedacht. Die kritische Umgangsweise mit dem Begriff der "Zwangsarbeit" (vgl. Fußnote 1) war dabei nur ein Punkt. Uns ging es insbesondere darum, den Bezug zur allgemeinen Deregulierung von Arbeitsverhältnissen herzustellen und dabei eine schlichte gewerkschaftliche Orientierung auf tarifliche Regulierungen zu hinterfragen. Daneben haben wir den ideologischen und repressiven Gehalt des (neuen) Arbeitszwangs gegenüber seiner im engeren Sinne ökonomischen Funktionalität betont. Auch wenn im Abstand von sechs Jahren einige Formulieren vielleicht relativiert werden müssten: Im Kern sind die damaligen Thesen auch heute unvermindert aktuell.

Der folgende Text hat eher den Charakter eines Thesenpapiers. Er soll ein – durchaus kritischer – Beitrag zur Zwangsarbeitskampagne sein, wie sie z.Z. bei Erwerbslosen- und JobberInnengruppen diskutiert wird (1).

1) Wir vertreten die Auffassung, daß mit dem Begriff "Zwangsarbeit" äußerst sorgfältig umgegangen werden sollte, um nicht fahrlässig falsche Analogien herzustellen oder an der gesellschaftlichen Entwicklung vorbei zu agitieren. Insbesondere muß zwischen Zwangsarbeit und dem ökonomischen Zwang, zur Sicherung der Existenz arbeiten gehen zu müssen, klar unterschieden werden. Auch wenn es innerhalb der Gruppe Blauer Montag unterschiedliche Positionen gibt, wird im folgenden Text durchaus von "Zwangsarbeit" gesprochen. "Zwangsarbeit" wird hier ausdrücklich weiter als im Sinne der strafrechtlichen Erzwingung von Arbeit und ihrer militärischen, knast- , lager- oder anstaltsmäßigen Organisierung gefaßt. Eine solche Beschränkung des Begriffs auf frühkapitalistische, faschistische oder stalinistische Bedingungen verdeckt, daß die zur Not auch staatlich organisierte Erzwingung von Arbeit aus ökonomischen und/oder disziplinierenden Kalkülen auch unter den Bedingungen des "normalen" Kapitalismus gang und gebe ist und die Kehrseite des stummen Zwangs der ökonomischen Verhältnisse ist. In diesem Sinne liegen Formen von Zwangsarbeit immer dann vor, wenn mit außerökonomischen Mitteln Arbeit zu welchen Zwecken auch immer erzwungen wird. Die Drohung, gesellschaftlich durchgesetzte Formen staatlicher Transferleistungen zu kürzen oder zu streichen, ist eine solche außerökonomische Erzwingung. "Entweder du gehst arbeiten/schreibst Bewerbungen oder ich streiche dir die Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe" ist als direkte Sanktionierung Zwangsarbeit, während die "bloße" Ausübung ökonomischen Zwangs über beispielweise eine Deckelung der Regelsätze keine Zwangsarbeit ist.

Wir versuchen hier, die neuen Zwangsarbeitselemente in den Novellen von BSHG und AFG in eine allgemeine Umstrukturierung sowohl des 1. als auch des 2. Arbeitsmarktes einzuordnen und dabei in ihrer Bedeutung genauer zu bestimmen. Auf einen für uns durchaus wesentlichen Aspekt bei der gegenwärtigen Umgestaltung des 2. Arbeitsmarktes gehen wir in diesem Zusammenhang nicht näher ein, nämlich auf die in steigendem Maße sozialtherapeutische und medizinische Herangehensweise an das gesellschaftliche Phänomen Erwerbslosigkeit. Dabei wird Erwerbslosigkeit und Armut zu einer individuellen Krankheit bzw. zu einem Ergebnis individuellen Fehlverhaltens oder "Sozialisationsmängel". Diese Tendenz, die mit der sog. "Zielgruppenorientierung" sowohl von "aufgeschlossenen" Sozialverwaltungen als auch von Sozialpädagogen und Beschäftigungsprojekten transportiert wird, wird am Beispiel Hamburgs ganz gut in der "quer", vom Mai 1994 beschrieben und soll hier nicht zum Thema gemacht werden.

  1. Die Umstrukturierung des sog. 2. Arbeitsmarktes zu einem verstärkt autoritär-repressiven Disziplinierungsinstrument zur Erzwingung von Arbeit geht einher mit einer Verschärfung des allgemeinen ökonomischen Zwangs zur Arbeit im Zuge eines auf alle gesellschaftlichen Bereiche ausgeweiteten Marktradikalismus. Eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität und die allgemeine ideologisch und auch materiell durchgesetzte Arbeitspflicht auch für "Unproduktive" sind zwei Seiten einer Deregulierungsmedaille.

  2. In allen OECD-Ländern wird die ökonomische Krise als Krise der Produktivität diskutiert, die über eine Verbilligung der Ware Arbeitskraft und eine Verschärfung des ökonomischen Zwangs zur Arbeit gelöst werden soll. Auf dem "Arbeitsmarktgipfel" der G 7 – Staaten waren sich bei allen unterschiedlichen Ausgangsbedingungen die westlichen Industriestaaten in der groben Linie einig:

    Der Angriff auf die Klasse findet auf drei Ebenen statt

    1. Reduktion der Löhne;
    2. Flexibilisierung des Arbeitseinsatzes
    3. Abbau der Sozialeinkommen und der Soziallöhne

  3. Während Vollbeschäftigung im Sinne von unbefristeter Arbeit mit Erwerbseinkommen, die sowohl für die einzelnen ArbeiterInnen als auch ihre Familien eine menschenwürdige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben garantieren und zu Bedingungen, die den Verschleiß der Ware Arbeitskraft zumindest einigermaßen begrenzen, ad acta gelegt wird, werden gleichzeitig verstärkt niedrig entlohnte, befristete und anderweitig ungesicherte Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. Dieser Gesellschaft geht also keineswegs die Arbeit aus, sondern es sind vielmehr diese ungesicherten und niedrigentlohnten Beschäftigungsverhältnisse, in denen die Ware Arbeitskraft verstärkt verwertet wird.

  4. Die Aufspaltung des ersten Arbeitsmarktes in verschiedene und hierarchisierte (vielfach auch ethnisch hierarchisierte) Segmente schreitet voran. Sowohl innerhalb von Sektoren als auch innerhalb von Branchen oder gar Betrieben gibt es Inseln höchster Produktivität und relativ hoher Einkommen und immer größere Bereiche unsicherer, befristeter, niedrig entlohnter Arbeit. In Verbindung mit gekappten Soziallöhnen, steigenden Steuern, Abgaben, Preissteigerungen etc. sichern die Erwerbseinkommen im ersten Arbeitsmarkt immer weniger die Existenz der ArbeiterInnen und ihrer Familien. Der ökonomische Zwang zur Arbeit nimmt zu, Erwerbslosigkeit kann sich kaum noch jemand leisten, Zweit- und Drittjobs werden immer notwendiger (2).
2) Dabei soll nicht unterschlagen werden, dass von Deregulierung tendenziell alle Arbeitsverhältnisse betroffen sind und Entgarantierung/Flexibilisierung nicht automatisch gleichbedeutend mit Verarmung/niedrig entlohnten Beschäftigungsverhältnissen ist. Gerade im Dienstleistungsbereich finden sich durchaus ungesicherte und entgarantierte, aber gleichzeitig sehr hoch entlohnte Beschäftigungsverhältnisse.
  1. Zumindest in der Bundesrepublik findet diese Deregulierung im Rahmen tariflicher Regelungen statt. Die Aushöhlung und Flexibilisierung der Standards, unter denen gesellschaftlich notwendige Arbeit geleistet wird, ist tariflich geregelt. Die Gegenüberstellung tarifliche Arbeitsbedingungen – unter-/außertarifliche Arbeitsbedingungen ist somit bereits für den sog. ersten Arbeitsmarkt schnell irreführend. "Tarif" ist kein Wert an sich.

  2. Staat und Kapital propagieren die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen und die Entwertung der Ware Arbeitskraft ganz offen. "Kollektiver Freizeitpark", "Anspruchsmentalität", "unsolidarisches Verhalten der Arbeitsplatzbesitzer" sind gängige Figuren bis in die SPD und Gewerkschaften oder die GRÜNEN hinein. Diese ideologische Offensive hat zwei Funktionen:

    1. Arbeit an sich wird zum Wert an sich; Diskussionen über Qualität, Normen und Entlohnung gesellschaftlich notwendiger Arbeit werden genauso tabuisiert wie die Frage, was denn gesellschaftlich notwendige Arbeit sein soll.. Die Arbeitsgesellschaft wird zur offenen Norm erhoben.
    2. Es wird ein repressiver Grundton gelegt: Wer die Arbeitsgesellschaft in Frage stellt oder sich weigert, jede Arbeit um jeden Preis anzunehmen und statt dessen auf bestimmten Normen von Arbeitsbedingungen, Entlohnung und Sozialeinkommen beharrt, läuft schnell Gefahr, als "Sozialschmarotzer" stigmatisiert zu werden. Mit der Ächtung und Tabuisierung sozialer Ansprüche wird eine Linie vorgegeben, auf der diejenigen, die auf sozialen Standards und ihrer Ausweitung oder gar auf einer menschenwürdigen Existenzabsicherung unabhängig von Leistungs- und Verwertbarkeitskriterien beharren, schnell zu neuen "Gemeinschaftsfremden" gemacht werden können.

  3. Die Verschärfung des ökonomischen Zwangs zur Arbeit geht einher mit einer – zunächst ideologischen – Verfestigung der Arbeitspflicht. Entscheidend dabei ist, daß die Verpflichtung zur Arbeit unabhängig vom ökonomischen Nutzen, von der Produktion von Mehrwert fest geschrieben wird.

  4. Der sogenannte 2. Arbeitsmarkt als unter- oder sondertariflich organisierter staatlicher Beschäftigungssektor hat mit seinem Entstehen Anfang der 80er Jahre immer mehrere Funktionen gehabt. Ausdifferenzierung, Hierarchisierung und Auslese der Erwerbslosen, Entlastung kommunaler Haushalte und verbilligte Abwicklung kommunaler Dienstleistungen, Verschleierung der Erwerbslosenstatistik sowie das "Zwischenparken" von Erwerbslosen, in der Hoffnung, sie zumindest in die ungesicherten Segmente des 1. Arbeitsmarktes integrieren zu können. Ebenso ist die Verknüpfung staatlicher Transferzahlungen und Lohnersatzleistungen mit der Drohung von Kürzungen und Streichungen in Fällen von "Arbeitsverweigerung" nichts Neues sondern von Anfang an in BSHG und AFG angelegt. Was sich zur Zeit im Rahmen der staatlichen Arbeitsmarktpolitik ändert, ist von daher vor allem eine Akzent- und Gewichtsverschiebung hin zu einer vor allem disziplinierenden Funktion unter Verschärfung alter und Hinzufügung neuer Formen der staatlichen Erzwingung von Arbeit.

  5. Während auf der einen Seite der Einsatz und die Vernutzung der Arbeitskraft als Ware über Lohnsenkungen, verschärfte Arbeitsbedingungen und Prekarisierung ökonomisiert wird, etabliert der sog. 2. Arbeitsmarkt zunehmend die staatlich vermittelte repressive Arbeitspflicht insbesondere auch für diejenigen, die den Produktivitätsanforderungen des Produktions- und Arbeitsprozesses nicht (mehr) genügen können (oder wollen) und auf Dauer von regulärer Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind. In diesem Sinne sind die Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit und bei den Sozialeinkommen im allgemeinen auch das Vehikel, mit dem der 2. Arbeitsmarkt zu einem immer offeneren Disziplinierungs- und Kontrollinstrument gegen Erwerbslose ausgebaut wird.

  6. Zumindest für die westlichen Bundesländer hat der 2. Arbeitsmarkt seine ökonomische Funktion verloren. Ursache hierfür ist der nunmehr überwiegende Anteil von Erwerbslosen, die auch mit den größten Qualifizierungsanstrengungen nicht mehr für die Effizienzerfordernisse sowohl der "schlanken Produktion" als auch der "schlanken Verwaltung" zugerichtet werden können. Sicherlich wird nach wie vor durch das differenzierte Instrumentarium ein Teil von Erwerbslosen ausgesiebt, deren Arbeitskraft wenigstens in prekären Beschäftigungsverhältnissen verwertet werden kann, aber dieser Teil stellt mittlerweile die Minderheit der Langzeiterwerbslosen. Im Gegensatz zum Anfang der 80er Jahre gibt es ein umfangreiches, ökonomisch motiviertes Programm, kommunale oder sonstige gesellschaftlich notwendige Arbeiten über den Einsatz billiger Arbeit über den 2. Arbeitsmarkt abzuwickeln, zumindest in den westlichen Bundesländern nicht mehr.

  7. Verlust der ökonomischen Funktion des 2. Arbeitsmarktes bedeutet, daß diese Formen staatlich organisierter Beschäftigung nicht in erster Linie den Zweck haben, massenhaft billige Arbeitskraft ökonomisch zu verwerten. Dieser Beschäftigungssektor bleibt jedoch unter zwei Aspekten unter ökonomischen Verwertungsinteressen wichtig. Zum einen dient er über ein sehr differenziertes und abgestuftes Instrumentarium von Beschäftigungsformen, Anreiz- und Sanktionsmitteln der permanenten Auslese der Erwerbslosen und bildet so ein Scharnier zu den prekären Segmenten des 1. Arbeitsmarktes. Zum zweiten führt die Absenkung der Löhne in den Maßnahmen und die permanenten Kürzungen bei den staatlichen Transfereinkommen dazu, daß auch hier der ökonomische Druck erhöht wird, die Ware Arbeitskraft entweder im 2. Arbeitsmarkt oder aber verstärkt in den prekären Segmenten des 1. Arbeitsmarktes zu verkaufen (Lohnabstandsgebot im BSHG, explizit ausformuliertes Lohnabstandsgebot zum 1. Arbeitsmarkt, 80%-Löhne etc.). Von daher ist der 2. Arbeitsmarkt das Pendant zu den Deregulierungsprozessen am 1. Arbeitsmarkt.

  8. Dabei gilt wie für den 1. Arbeitsmarkt auch, daß diese Deregulierungsmaßnahmen i.d.R. nicht außertariflich ablaufen. Vielmehr werden mit Zustimmung der Gewerkschaften Sondertarife abgeschlossen, die die Substandardisierung der Arbeit tariflich sanktionieren. Die Gewerkschaften beteiligen sich mit ihrer blinden Fixierung auf Tarife unabhängig von deren Inhalt somit aktiv an den Angriffen auf die Arbeitsbedingungen auch im 1. Arbeitsmarkt, die von diesem deregulierten Beschäftigungssektor ausgehen. Der gewerkschaftliche und sozialdemokratische Slogan "Tariflohn statt Sozialhilfe" stellt somit keine brauchbare Rückzugslinie bei den Ausgestaltungen der staatlich organisierten Beschäftigungsformen mehr dar.

  9. Die momentane Umstrukturierung des 2. Arbeitsmarktes geschieht aber nicht nur vor dem Hintergrund einer Verschärfung des ökonomischen Drucks, selbst die miesesten Jobs annehmen zu müssen, sondern vor allem unter dem Aspekt, daß eine allgemeine Verpflichtung, für seine/ihre Existenz arbeiten gehen zu müssen, durchgesetzt bzw. festgeschrieben wird. Es geht eben nicht nur darum, Lohnersatzleistungen und Transfereinkommen zu kürzen, sondern jegliche staatliche Leistung mit der Verpflichtung, zu jedem Preis zu arbeiten, zu verknüpfen. Jeglicher Gedanke an eine bedarfsorientierte Existenzsicherung, die jeder und jedem erstmal zugestanden wird, wird getilgt und durch die allgemeine Parole "keine wie auch immer geartete staatliche Leistung ohne Verpflichtung zu Arbeit" ersetzt (3).
3) Trotz kontinuierlicher Leistungskürzungen, trotz permanenter Einschränkung des Bedarfsdeckungsprinzips und trotz der Verpflichtung, seine/ihre Arbeitskraft einzusetzen, haben Sozialhilfe und Lohnersatzleistungen faktisch und im Bewußtsein der Öffentlichkeit bis Ende der 80er Jahre immer die Rolle einer staatlich garantierten minimalsten Existenzsicherung gespielt.

 Eckpunkte dieser Orientierung sind

    1. der seit Beginn der 90er Jahre verschärfte Bewerbungszwang der Sozialämter gegenüber Sozialhilfeberechtigten und die Verschärfungen der Zumutbarkeits- und Sperrzeitenregelungen gegenüber Arbeitslosengeld- und -hilfeberechtigten;
    2. die gerade von Sozialdemokraten geplante umfassende Erfassung und Verplanung von Erwerbslosen in Form individueller Maßnahmepläne von 2 bis 5 Jahren Dauer (Projekt effiziente Sozialhilfe in Hamburg, Gesetzentwurf der SPD für ein ASFG).
    3. Die Neuformulierung bzw. Neuaufnahme der gemeinnützigen Arbeit für SozialhilfeempfängerInnen und der Gemeinschaftsarbeiten für ArbeitslosenhilfebezieherInnen in den aktuellen und geplanten Neufassungen von BSHG und AFG.

  1. Im Vordergrund steht hier die systematische und nötigenfalls erzwungene permanente Rotation von Erwerbslosen zwischen Erwerbslosigkeit und prekären staatlichen oder nicht-staatlichen Beschäftigungsverhältnissen. Die SPD in Hamburg spricht von der niedrigentlohnten und befristeten Arbeit in staatlichen Maßnahmen als Form der "Grundsicherung"! Die staatliche Sicherung der Existenz muß verdient werden und zwar unabhängig, ob die Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen ökonomisch oder integrativ Sinn machen: Niemand behauptet ernsthaft, diese Form der aktiven staatlichen Arbeitsmarktpolitik könne Erwerbslosigkeit bekämpfen und vernünftig abgesicherte Erwerbsarbeit schaffen. Priorität hat die Disziplinierung von Erwerbslosen: Dauererwerbslosigkeit ohne wenigstens befristete Maßnahmen ab und zu bringe die Menschen auf dumme Gedanken oder führe zu unerwünschter sozialer Desintegration. Und eine "soziale Hängematte" wie ein 2.Arbeitsmarkt nach alten ABM-Bedingungen, aus der niemand mehr in die Knochenmühle des 1.Arbeitsmarktes gehen will, müsse beseitigt werden.

  2. Auch wenn die autoritär-repressive Durchsetzung der Verpflichtung zur Arbeit den Inhalt des 2. Arbeitsmarktes zunehmend prägt, gibt es momentan keinerlei Tendenzen zur Entwicklung eines Arbeitsdienstes oder zur umfassenden Durchsetzung von Zwangsarbeitsformen wie gemeinnützige Arbeit nach Mehraufwandmethode oder Gemeinschaftsarbeiten für ArbeitslosenhilfebezierInnen. Diese Elemente sind zwar vorhanden und werden auch reaktiviert, aber sie bilden nicht den eigentlichen Kern des Umstrukturierungsprozesses:

    1. Ein verallgemeinertes Zwangsarbeitssystem ist für Staat und Kapital ineffizient, zumindest solange es keinerlei Handhabe gibt, Arbeitsmotivation und Arbeitsproduktivität zu erzwingen und solange für die in Frage kommenden Arbeiten auf die – teilweise illegalisierte und somit doppelt abhängige – Reservearmee von Flüchtlingen, MigrantInnen und WerkvertragsarbeiterInnen zurückgegriffen werden kann. Gerade bei den geplanten Ernteeinsätzen dürften die Landwirte die stärksten Bündnispartnerinnen der Erwerbslosen sein.
    2. Ein verallgemeinertes Zwangsarbeitssystem setzt strafrechliche Maßnahmen oder paramilitätrische Institutionen zur Erzwingung der Produktivität voraus, die weder geplant sind noch für Staat und Kapital zum gegebenen Zeitpunkt sinnvoll sind.
    3. Arbeitshäuser für "arbeitsunwillige" Erwerbslose oder kasernierte Arbeitsdienste als Repressionsinstrumente werden ersetzt durch die Androhung, Transferleistungen zu kürzen oder ganz zu streichen. Im Sinne marktradikaler Tendenzen wird eher die Strafe der absoluten Einkommenslosigkeit eingesetzt. Der unmittelbare oder staatlich vermittelte ökonomische Zwang, auch die schlechtest bezahlten Jobs anzunehmen wird verallgemeinert.

Gruppe Blauer Montag/Arbeitsgruppe Staatlicher Arbeitsmarkt, Hamburg, Juni 1994


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