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Hans Boot:

Ausgrenzung streng nach Tarif

Bündnis für Arbeit in den Niederlanden

Poldermodell und Bündnis für Arbeit. Sozialdemokratischer Neoliberalismus in den Niederlanden und der BRD", so lautete der Titel einer Veranstaltung der Hamburger Gruppe Blauer Montag vom 21. Oktober 1999. Der folgende Text basiert auf dem Referat, das Hans Boot dort gehalten hat.

Ich beginne mit einem Zitat von Lodewijk de Waal, Vorsitzender der größten niederländischen Gewerkschaftsföderation, dem sozialdemokratisch orientierten FNV: "Die Bemerkung, dass ein Organisationsgrad von 60% vielleicht nicht gut ist, mag für einen Gewerkschaftsvorsitzenden sonderbar sein. Aber wir brauchen ein gewisses Maß an Ohnmacht. Das heißt nicht, dass ich mir nicht einen etwas höheren Organisationsgrad wünschen würde (z.Z. 27%, davon 17% beim FNV; HB). Aber mehr als maximal 35% würde ich nicht wollen, damit ein neues Gleichgewicht in den Beziehungen mit den Arbeitgebern und dem Staat entstehen kann. Eine stärkere Machtstellung, die etwa so groß wäre, dass eine Gewerkschaft alle Veränderungen aufhalten könnte, ist nicht gut. Wesentlich für das Poldermodell ist es, dass es bei jeder der drei Parteien ein Bewusstsein der Ohnmacht gibt."

 

Traditioneller Korporatismus

Nach Meinung der postmodernen Gewerkschaftsführung ist die Zeit der Macht "gegen" also vorbei, die Ära der Macht "mit" hat angefangen. Die Folge ist eine tief greifende Entpolitisierung der Gewerkschaftsbewegung und damit der Gesellschaft. Wenn es noch so etwas wie Opposition gibt, dann ist sie innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften marginal. Die ideologische Zustimmung zum Co-Management des Poldermodells hingegen ist hochorganisiert.

Beim Poldermodell handelt es sich um die aktuelle Variante des traditionellen niederländischen Korporatismus. Die Niederlande gehören zu den Ländern in Westeuropa, in denen am wenigsten gestreikt wird und in denen die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder am niedrigsten ist. Die Gewerkschaftsbewegung ist in hohem Maße gesellschaftlich integriert, die Gewerkschaftsführung ist auf allen gesellschaftlichen Ebenen an der sozialen und wirtschaftlichen Steuerung beteiligt. Dabei zeigt sie ein großes Verständnis für die Defizite der kapitalistischen Produktionsweise, was sich nicht zuletzt in einer "verantwortlichen Lohnpolitik", d.h. Lohnbescheidenheit und Lohnzurückhaltung äußert. Diese kapitalfreundliche Ausrichtung und staatliche Orientierung haben den Einfluss der Gewerkschaftsführung überproportional gestärkt und den Einfluss der Mitglieder entsprechend geschwächt.

Diese Skizze trifft generell die Geschichte der modernen Gewerkschaften in den Niederlanden. Sehr kurz zusammengefasst kann die spezifische niederländische Entwicklung durch die lange Dominanz des Handelskapitals und des Kolonialismus und der damit verbundenen langsamen und späten Industrialisierung erklärt werden. Eine Industrialisierung, die zudem sehr zerstreut und kleinbetrieblich geprägt war und kaum auf eine Tradition handwerklicher Werkstattorganisation traf. Die Gewerkschaften entwickelten sich folglich außerhalb der Betriebe. Sie waren damit von Beginn an zentralistisch strukturiert und auf die Kooperation mit Staat und Unternehmern orientiert. Vor diesem Hintergrund findet nach dem Zweiten Weltkrieg eine definitive korporatistische Reorganisierung der Gesellschaft statt. Die anerkannten Gewerkschaften treten in eine Vielzahl von Beratungs- und Beherrschungsinstitutionen ein, in denen sie paritätisch mit Unternehmern und Staat zusammensitzen.

Erst ab 1964, vor dem Hintergrund einer niedrigen Arbeitslosigkeit und einer leichten Radikalisierung der ArbeiterInnenklasse, begann die Metallgewerkschaft mit der sog. Betriebsarbeit. Es war das erste Mal, dass die Gewerkschaft in den Betrieben selbst auftauchte. Und von Beginn an war dies eine zweischneidige Angelegenheit. Zum einen entstanden Mitglieder-Basisorganisationen mit teilweise streitbarem, auch anti-kapitalistischem Kurs. Andererseits war die Betriebsarbeit auch der Versuch der Bürokratie, auf die damalige "Krise der Gewerkschaft" eine Antwort zu finden, sowohl auf die Auflösungserscheinungen wie auch auf die sich radikalisierenden Strömungen.

Für niederländische Begriffe waren das Ende der 70er Jahre und der Beginn der 80er eine heiße Zeit. 1979 kam es bei den Hafenbetrieben zu einem wilden Streik gegen den gerade abgeschlossenen Tarifvertrag. Der Rotterdamer Hafen wurde wochenlang lahm gelegt. Im Herbst 1983 demonstrierten eine halbe Million Menschen gegen die Stationierung der NATO-Mittelstreckenraketen. Auch der FNV beteiligte sich mit dem Motto "Jobs statt Bomben". Kurz danach streikten die Beamten sieben Wochen lang gegen eine 3%ige Gehaltskürzung.

Gleichzeitig erreichte die internationale Wirtschaftskrise, die während der ersten Hälfte der 70er Jahre ausbrach, auch die Niederlande. Waren 1980 noch 7,4% der Erwerbsbevölkerung arbeitslos, betrug die Arbeitslosenquote 1982 bereits 14,2%, zwei Jahre später sogar 17,3%. Als Reaktion auf diese dramatische Entwicklung unterschrieben die VertreterInnen von Gewerkschaften und Unternehmern unter staatlicher Aufsicht im November 1982 das Abkommen von Wassenaar.

Formell war das ein Plan zur sozialwirtschaftlichen Wiederbelebung. Materiell handelte es sich um ein neoliberales Aufräumprogramm. Profitmaximierung wird zur allgemein anerkannten Leitlinie, die von Gewerkschaftsseite durch eine Strategie der mehrjährigen moderaten Lohnanpassung begleitet wird. Im Gegenzug wird den Gewerkschaften eine geringfügige Arbeitszeitverkürzung zugestanden, die aber nur sehr langsam umgesetzt werden soll. Die Unternehmer können damit zum einen Überkapazitäten und die sog. "stillen Stunden", die informellen Verschnaufpausen im Betriebsalltag, abbauen. Und nicht zuletzt wird von ihnen die Arbeitszeitverkürzung auch als Flexibilisierungshebel gegen die ArbeiterInnen benutzt.

 

Flexibel bis zum Umfallen

In der konkreten Praxis hat das Poldermodell zu einer Umorganisation des Arbeits- und Produktionsprozesses geführt, der die Niederlande zum Europameister der Flexibilisierung gemacht hat. Die Gesamtzahl der geleisteten Arbeitsstunden ist seit 1982 ungefähr gleich geblieben, die Zahl der Arbeitsstellen ist jedoch gestiegen. Darin drückt sich aus, dass inzwischen 40% aller Arbeitsplätze Teilzeitjobs sind, bezahlt mit Teilzeitlöhnen. Der EU-Durchschnitt liegt dagegen nur bei 18% Teilzeitstellen. Drei Viertel dieser Teilzeitjobs werden von Frauen eingenommen.

Die Zahl der befristeten Jobs hat ebenfalls stark zugenommen, nämlich um mehr als 10%, auch hier sind zu zwei Drittel Frauen betroffen. Ca. 40% aller neu geschaffenen Jobs sind heute zeitlich befristet und flexibel. Es sind hauptsächlich die Jobs von Frauen, MigrantInnen und Jugendlichen. 1990 war 1,8% der Arbeit Zeitarbeit. Inzwischen ist dieser Prozentsatz auf 4,6% gestiegen. Zwischen 15% und 20% aller geleisteten Arbeitsstunden sind heute Überstunden. Ca. 50% aller Arbeitsplätze sind hochgradig flexibilisiert, d.h. der Einsatz der Arbeitskraft orientiert sich flexibel an den Vorgaben der Maschinenlaufzeiten. Auch die Lohnflexibilität hat stark zugenommen und beträgt heute 25%.

Verglichen mit dem Jahr 1982 ist die Arbeitsproduktivität bis 1990 um 20% gestiegen, die Löhne hingegen stagnieren nahezu. Die Gewinne haben sich in diesem Zeitraum verdreifacht. Beamte müssen in diesem Zeitraum einen Realeinkommensverlust von 17% hinnehmen, SozialhilfeempfängerInnen gar um 20%. Während die Lohnquote in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken ist, ist die Profitquote permanent gestiegen. Gleichzeitig wird an den sozialen Errungenschaften genagt, etwa im Bildungssektor, bei der Gesundheitsversorgung oder bei den Sozialleistungen. Und der Staat macht den Weg frei für eine durchgreifende Ökonomisierung der Gesellschaft über weit reichende Privatisierungsmaßnahmen und die Durchsetzung betriebswirtschaftlicher Kosten-Nutzen-Rechnungen. Auch hier geht es im Prinzip um eine Umverteilung des gesellschaftlichen Einkommens.

Die Daten über die zunehmende Flexibilisierung deuten auf allgemeine Hochdruck-Arbeit hin. Seit 1982 sind die Klagen über zu schwere Arbeit von 35% auf über 60% gestiegen. Arbeitsstress, arbeitsbedingte Krankheiten und Unfälle sind kein zufälliges Nebenprodukt mehr, sondern strukturelles Kennzeichen der Arbeit. Das Management ist permanent bestrebt, die psychischen und physischen Grenzen der ArbeiterInnen zu überschreiten. Das Poldermodell produziert ein Produktionssystem, das auf Management-by-Stress beruht.

Selbstverständlich sieht die soziale Wirklichkeit anders aus als der "soziale Dialog", als die korporatistischen Beratungsinstitutionen oder als die Ideologie vom "gegenseitigen Nutzen". Trotz einer neuen und erheblich strengeren Gesetzgebung steigt die Zahl der Arbeitsunfähigen, nach neuesten Zahlen auf inzwischen über 17% der Erwerbsbevölkerung. Ein Drittel – vor allem Jugendliche – sind dabei auf Grund psychischer Beschwerden arbeitsunfähig.

Dies ist ein Phänomen der Aussonderung, man könnte auch sagen der gesellschaftlichen Abschreibung, und begründet den hohen Umfang der versteckten Erwerbslosigkeit. Die offiziellen Erwerbslosenzahlen sind niedrig: 1998 3,6% Männer und 7,2% Frauen, insgesamt 4% (aber: 18% MigrantInnen). Aber wenn die mehr als 900.000 Erwerbsunfähigen vollständig oder auch nur teilweise mitgezählt werden, wenn auch die Frühverrenteten oder die Menschen in subventionierten (öffentlichen) Beschäftigungsmaßnahmen mitgezählt werden (insgesamt 180.000), so liegt die Erwerbslosenquote immerhin bei 22%. Wenn diese Zahlen berücksichtigt werden, hat sich die Situation gegenüber 1982 kaum verändert. Das Poldermodell hat also eine Armee von Abgeschriebenen, von "Überflüssigen" geschaffen.

Management-by-Stress und die Aussonderung "unproduktiver" und "überflüssiger" Bevölkerungsteile, das ist der Grundmechanismus der Sanierung à la Poldermodell. Das Modell beruht auf einer Mischung von Neoliberalismus und Korporatismus. Es beruht auf der Einbindung und Beteiligung der Gewerkschaften an einer tragenden und stützenden Rolle des gesellschaftlichen Umbaus.

 

Bündnisgerecht aussortiert

Die Haltung der Gewerkschaft als Schirmherrin des Poldermodells bedeutet gleichzeitig, dass die radikaleren Strömungen ausgeschaltet werden. Diese Entwicklung darf nicht unterschätzt werden. Die Gewerkschaften selbst organisieren sich zunehmend wie ein Konzern: Die einzelnen Mitglieder werden auf Kunden von "Gewerkschaftsprodukten" reduziert; die hauptamtlichen SekretärInnen werden zu diplomierten professionellen SachbearbeiterInnen umgewandelt; der/die Vorsitzende funktioniert wie ein Manager; die innergewerkschaftliche Demokratie wird durch Marketing-Techniken ersetzt, und die Gewerkschaften bieten Service und Beratungsdienstleistungen an, von der Karriereplanung über Hypothekendarlehen bis hin zu Anlageberatung bei Wertpapieren.

Das Poldermodell wird in ganz Europa gelobt. Besonders die internationale Sozialdemokratie ist begeistert. "New Labour", "Third Way" oder "Neue Mitte" sind verwandte Konzepte. Aber zu kopieren ist das Poldermodell nicht. Es ist ein typisches Produkt einer bestimmten Geschichte und bestimmter Kräfteverhältnisse. Dahinter versteckt sich eine Ideologie, die durchaus verallgemeinert wird. Eine Moral, in der das Subjekt, das Individuum selbst verantwortlich und schuldig erklärt wird für soziale Problemlagen. Im nächsten Schritt werden Erwerbslosigkeit und Armut von einem gesellschaftlichen zu einem individuellen Problem. Und noch einen Schritt weiter brauchen die so individuell Schuldigen ein Resozialisierungsprogramm. Mit dem Poldermodell werden alle diese Schritte praktisch schon gegangen.

Hans Boot ist Dozent für Arbeitspsychologie in Amsterdam und Redakteur von Solidariteit, einer "Zeitschrift für eine streitbare Gewerkschaftsbewegung"

Aus: ak – analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 437 / 13.04.2000


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