letzte Änderung am 20. November 2003

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Erheblicher »Reformschaden«

Frank Jäger* zur Reform des Sozialhilferechts

Im Windschatten der großen Arbeitsmarktreformen, die unter dem Namen »Hartz« bekannt wurden, macht sich die Bundesregierung an ein Projekt, das schon lange geplant ist. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit wurde im August ein mit heißer Nadel gestrickter Entwurf für die Novellierung des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) im Bundestag eingebracht. Im Zuge dieser Reform der Sozialhilfe soll das alte BSHG als SGB XII in das Sozialgesetzbuch (SGB) eingegliedert werden. Der folgende Beitrag beleuchtet, wo bestehende soziale Mindeststandards unterschritten und verfassungsrechtliche Vorgaben berührt, wenn nicht verletzt werden.

Im Gegensatz zum Entwurf für das vierte »Hartz-Gesetz« (SGB II-E), in dem die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe für erwerbsfähige Leistungsberechtigte geregelt werden soll (s. express, Nr. 9/93), deutet alles darauf hin, dass die Opposition bei der Sozialhilfereform keine großen Schwierigkeiten machen wird, und das Gesetz, ohne Aufsehen zu erregen, durch beide Kammern gewunken werden kann. Während bei der neuen Fürsorgeleistung Arbeitslosengeld II für Erwerbslose und »working poor« zwischen Bund, Ländern und Kommunen/Landkreisen um die Verteilung von sehr viel Geld und Kompetenzen gestritten wird, geht es bei der Novellierung des untersten Netzes der sozialen Sicherung schließlich »nur« um Prinzipien. Doch über diese Prinzipien manifestiert sich nichts Geringeres als unsere Sozialstaatlichkeit und die Qualität sozialer Grundrechte.

Im Kontext des gesamten Reformprojektes 2010 betrachtet, das von der Arbeitsmarkt-, Sozial-, Gesundheits- über die Steuerpolitik fast alle wichtigen gesellschaftlichen Bereiche tangiert und unter dem Verdikt ökonomischer Sachzwänge eine groß angelegte Umverteilung von unten nach oben forciert, war auch bei der Reform der Sozialhilfe nichts Gutes zu erwarten. Dabei gäbe es im Sozialhilferecht durchaus Verbesserungsbedarf. Das trifft sowohl auf die Ausgestaltung der Leistungen als auch die unwürdige, oft willkürliche Gewährungspraxis der Behörden zu, die von den Betroffenen vielerorts beklagt wird. Es klafft eine große Lücke zwischen dem gesetzlichen Anspruch und der Realität in unserem Fürsorgesystem, die vom Gesetzgeber mit Hilfe von klaren und verbindlichen Regelungen geschlossen werden könnte – wenn er nur wollte. In seiner Substanz, bestehend aus den Strukturprinzipien der Sozialhilfe und der gesetzlichen Ausgestaltung der Fürsorgeleistung, ist das BSHG von 1962 durchaus erhaltenswert.

Theorie und Praxis der bisherigen Sozialhilfe

Die Sozialhilfe ist als unterstes Netz sozialer Sicherung angelegt, das als nachrangige Leistung individuelle Notlagen absichern soll, wenn kein Einkommen vorhanden ist, das den Bedarf zum Leben deckt. Das ist auch der Fall, wenn keine ausreichenden Ansprüche auf Leistungen der Sozialversicherung oder z.B. Unterhaltsansprüche gegenüber Dritten bestehen. In ihrer Funktion der nachrangigen Existenzsicherung setzt die Sozialhilfe demnach soziale Mindeststandards, die nicht nur in die anderen Sozialleistungen hineinwirken, sondern auch zunehmend zur Existenzsicherung von Erwerbstätigen mit Niedrigeinkommen in Form von ergänzender Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) herhalten muss. Hier übernimmt die Sozialhilfe faktisch die Funktion eines Mindestlohns.

Das Gesetz definiert die Aufgabe der Sozialhilfe, den BezieherInnen der Hilfe ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht (§ 1 Abs. 2 Satz 1 BSHG). Hierzu gehört zum einen die Sicherung der wirtschaftlichen Voraussetzungen durch den Sozialhilfeträger und zum anderen die persönliche Hilfe in Form sozialer Dienstleistungen, »wenn eine menschenwürdige Lebensführung durch das Verhalten oder die Person der/des Leistungsberechtigten gefährdet ist«[1]. Dieser Leitgedanke des BSHG, der durch Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz verfassungsrechtlich abgesichert ist, umfasst mehr als nur die Absicherung der physischen Existenz. Vielmehr begründet er einen Anspruch auf ein soziokulturelles Existenzminimum, das gewährleisten soll, dass Sozialhilfebeziehende in der Umgebung von nicht leistungsbeziehenden Mitmenschen ähnlich wie diese leben können.[2] Neben der Unantastbarkeit der Würde des Menschen enthält das Grundgesetz noch einen weiteren Artikel, der bei der Ausgestaltung der sozialen Sicherung nicht außer Acht gelassen werden kann: Gemäß Art. 20 Abs. 1 GG ist die Bundesrepublik ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat. Der Grundsatz der Sozialstaatlichkeit als tragendes Verfassungsprinzip ist jedoch nicht näher konkretisiert worden, z.B. in Form sozialer Grundrechte. Er unterliegt damit der Auslegung des Gesetzgebers.[3]

Die im heutigen BSHG verankerten Strukturprinzipien der Sozialhilfe bilden den gesetzlichen Rahmen, wie die Hilfeleistung unter Erhalt der Menschenwürde zu erfolgen hat. Danach wird die Hilfeberechtigung durch eine gegenwärtige Notlage ausgelöst (Gegenwärtigkeitsprinzip), sie wird gewährt unter Berücksichtigung der individuellen Situation des/der Hilfesuchenden (Individualisierungsprinzip), in Folge der Beurteilung der Hilfebedürftigkeit nach der »tatsächlichen Lage« (Faktizitätsprinzip) und sie orientiert sich am Bedarfsdeckungsprinzip.[4] Was am Ende einer durch Verwaltungsverfahren, Kostenerwägungen und Machtausübung bestimmten Gewährungspraxis von diesen hehren Zielen übrig bleibt, das ist die eine Seite der Medaille. Aber immerhin besteht noch die Möglichkeit, die o.a. Rechtsansprüche vor Gericht einzuklagen. Die andere Seite der Medaille ist die Frage, ob sich nach den so genannten »Reformen« aus den Grundsätzen der Bedarfsdeckung, der Einzelfallorientierung, der gegenwärtigen Gewährung von Leistungen in einer Notlage oder dem Recht auf umfassende Beratung, die zwar noch irgendwo in den Gesetzbüchern auftauchen, noch Rechtsansprüche für Leistungsberechtigte ableiten lassen. Die im schleichenden Verfahren durch Verordnungen und die laufende Rechtsprechung immer weiter ausgehöhlten und durch die Praxis längst konterkarierten »positiven Errungenschaften« des BSHG werden marginalisiert, das Gesetz wird sozusagen an die Realität angepasst.

Das heutige Sozialhilferecht billigt dem Sozialhilfeträger in einer Vielzahl von Leistungsfragen einen großen Ermessensspielraum zu. Im ersten Sozialgesetzbuch (SGB I) wird ausgeführt, wie dieser auszufüllen ist: »Die nachfolgenden sozialen Rechte sind bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuchs und bei der Ausübung von Ermessen zu beachten; dabei ist sicherzustellen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden.« (§ 2 Abs. 2 SGB I) Dieser Ermessensspielraum, der eigentlich im Sinne der sozialen Rechte von Hilfeberechtigten angewendet werden soll, wird in der Ämterpraxis fast nur noch im Sinne der Sozialhilfeträger ausgelegt, die in Zeiten klammer Kassen vorrangig an der Senkung der Kosten interessiert sind. Die seit Jahren öffentlich geschürten Vorurteile über die Bedienungsmentalität der Leistungsbeziehenden (Faulenzerdebatte, soziale Hängematte u.s.w.) sind für die Behörden Rückenwind, ihr Ermessen immer restriktiver einzusetzen und Hilfebedürftigen gesetzlich garantierte Leistungen vorzuent-halten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass viele Ansprüche erst nach dem Widerspruch der Betroffenen gegen einen ablehnenden Bescheid oder vor den Verwaltungsgerichten durchgesetzt werden.

Auch in Bezug auf die Leistungen zur Sicherung der Existenz, nämlich der Höhe der Regelsätze und der Ausgestaltung der einmaligen Beihilfen[5], klafft eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Bei den Regelsätzen ist das Bedarfsdeckungsprinzip schon lange ausgehebelt. Sozialhilfe schützt demnach schon lange nicht mehr vor Armut. Seit dem Wechsel vom »Warenkorbmodell« zum »Statistikmodell« als Bemessungsgrundlage für die Regelsätze Ende der 80er Jahre ist es nicht gelungen, diese mit Hilfe einer sauber aufbereiteten, d.h. den Haushaltstypen und Verbrauchsanteilen entsprechenden, Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) an das veränderte soziokulturelle Existenzminimum anzupassen. Seit 1993 wurden die Regelsätze dann völlig unabhängig vom Bedarf gedeckelt, um dann ab 1997 an die Entwicklung der Rentenanpassung gekoppelt zu werden. Im Sinne des § 22 Abs. 3 BSHG muss bei der Weiterentwicklung der Regelsätze jedoch neben der allgemeinen Einkommensentwicklung die Entwicklung des Verbraucherverhaltens und der Lebenshaltungskosten verbindlich berücksichtigt werden. Durch die gegenwärtige Anbindung an die Rentenentwicklung wird die Steigerung der Lebenshaltungskosten aber nur unzureichend abgebildet.[6] Die defizitäre Entwicklung der letzten 15 Jahre wird so munter fortgeschrieben und verstärkt. Nach Meinung von Fachleuten von Wohlfahrtsverbänden, Betroffenenorganisationen und aus der Sozialarbeit hinken die Regelsätze inzwischen 10 bis 20 Prozent hoffnungslos hinter den steigenden Kosten für die Existenzsicherung hinterher.

In Folge der Massenarbeitslosigkeit ist die Zahl der Sozialhilfeberechtigten um ein Vielfaches angewachsen und mit ihnen sowohl die Probleme der Betroffenen mit den Sozialämtern als auch die der Kommunen mit der Finanzierung der Leistung. Hier ist ein sozialpolitisches Spannungsfeld entstanden, in dem Hilfebedürftige immer mehr zu rechtlosen Bürgern zweiter Klasse degradiert werden. 2,75 Mio. Menschen bezogen Ende 2002 HLU, darunter über 1 Mio. Kinder und Jugendliche[7]. Hinzu kommen viele »verschämte Arme«, die gar nicht wissen, dass ihnen nach dem Gesetz Leistungen zustehen oder die sich vor einem Gang zum Sozialamt scheuen. Die wachsende Armut in der Bundesrepublik, ein expandierender Niedriglohnsektor und die Unzulänglichkeit der vorgelagerten Sicherungssysteme haben dazu geführt, dass die Sozialhilfe, die ursprünglich für einen stark eingegrenzten Personenkreis konzipiert war, ihre originäre Aufgabe, die individuelle Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums und hierüber eine Gewährleistung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht mehr erfüllen kann.

Wer angesichts der beschriebenen Unzulänglichkeiten auf baldige Korrekturen hofft, sei jedoch vor davor gewarnt, seine Erwartungen zu hoch anzusetzen. Mit den vorliegenden Gesetzesentwürfen für eine Reform des Fürsorgesystems strebt die Bundesregierung nämlich in eine ganz andere Richtung.

Sozialhilfe »light« – Unterschreitung bestehender Mindeststandards

Bereits ab Januar 2003 wurden alle erwerbsunfähigen Sozialhilfeberechtigten, vor allem RentnerInnen, chronisch Kranke und erwerbsunfähige behinderte Menschen, der neuen Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung zugeordnet. Nach den Plänen der Bundesregierung sollen ab Juli 2004 auch die Erwerbsfähigen allmählich aus der Sozialhilfe herausfallen. Das Gros der erwerbsfähigen Sozialhilfeberechtigten, die heute Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) erhalten, soll künftig nämlich gemeinsam mit den heutigen ArbeitslosenhilfebezieherInnen die neue Leistung ALG II erhalten und unter die Zuständigkeit des SGB II fallen. Damit würde die Sozialhilfe, gemessen an der Zahl der Anspruchsberechtigten, zwar stark an Bedeutung verlieren, andererseits werden die Regelsätze der Sozialhilfe wie bisher das staatlich anerkannte Existenzminimum definieren und somit als wichtige Referenzgröße für die anderen beiden staatlichen Fürsorgeleistungen dienen. Die im nun vorliegenden SGB XII-E enthaltenen Verschlechterungen wirken sich somit auch auf ALG II und Grundsicherung aus.

Regelsätze unter der Armutsgrenze

Um so gravierender ist der Mangel, dass im Zuge der Novellierung der Sozialhilfe nicht die längst fällige Neufestsetzung der Regelsätze auf der Grundlage eines Statistikmodells und einer aktuellen, methodisch sauber aufbereiteten Einkommens-Verbrauchsstichprobe (EVS) vorgenommen wurde. Damit werden die sozialstaatlichen Anforderungen verfehlt, mit der Bemessung der Regelsätze eine Basis für die Festlegung eines soziokulturellen Existenzminimums zu schaffen, die sich am Bedarfsdeckungsprinzip orientiert, und die veränderte Einkommen, Lebenshaltungskosten und Verbrauchsgewohnheiten adäquat abbildet. Die bislang von der Regierung veröffentlichten neuen Regelsätze schreiben die unzulässige Deckelung der vergangenen Jahre fort. Die Fürsorgeleistungen für alle Hilfeberechtigten werden demnach auch in Zukunft nicht das geforderte Existenzminimum abdecken und die Betroffenen vor Armut schützen können.

Zusätzlich verschlechtert sich nach dem vorliegenden Gesetzentwurf die Lage von Familien, denn die Bemessung der Regelsätze für Kinder und Jugendliche soll grundlegend geändert werden. So sollen zukünftig, statt wie bisher in vier Altersgruppen, die Leistungen für Kinder und Jugendliche nur noch in zwei Altergruppen unterteilt sein. Gerade für die Gruppe der Jugendlichen unter 18 Jahren bedeutet dies eine deutliche Verschlechterung gegenüber dem Status quo. In dieser Altersgruppe kann dann nicht mehr der »wachstumsbedingte Mehraufwand« berücksichtigt werden. Zahlreiche empirische Studien weisen darauf hin, dass die Herabsetzung der Leistung negative Auswirkungen auf die Lebenslagen der Minderjährigen, ihre Bildungsmöglichkeiten und ihre Gesundheit haben wird[8]. Zudem wird das Existenzminimum für Haushalte mit Kindern dadurch weiter absinken, weil im SGB II-E die bisher praktizierte Nichtanrechnung eines Anteils des Kindergeldes von monatlich 10,25 Euro bei einem Kind und 20,50 Euro bei zwei und mehr Kindern nicht mehr vorgesehen ist.

Pauschalen nicht bedarfsdeckend

Ein grundsätzlicher Verstoß gegen die eingangs beschriebenen Strukturprinzipien der Sozialhilfe ist die weitergehende Pauschalierung von Leistungen, die bisher im Bedarfsfall nach individueller Prüfung gewährt wurden. Die Pauschalierung von einmaligen Bedarfen war zumindest Ende der 1990er Jahre noch insofern stark umstritten, als für diese Form der Leistungsgewährung eine Experimentierklausel in das BSHG aufgenommen wurde. In zahlreichen Modellversuchen, die bis Mitte 2005 abgeschlossen sein sollen, galt es, die Zweckmäßigkeit der Leistungspauschalen zu erproben und Erkenntnisse über die Folgen der neuen Leistungsgewährung für die Betroffenen zu gewinnen. Im Vorgriff auf den Abschluss der Experimentierphase und ohne die Ergebnisse der wissenschaftlichen Auswertung der Modellversuche abzuwarten, plant die Bundesregierung nun ab Juli nächsten Jahres eine Pauschalierung von einmaligen Beihilfen für alle drei Fürsorgeleistungen. Die äußerst knapp bemessene monatliche Pauschale für weitgehend alle Bedarfe soll nun auf die Regelätze aufgestockt werden. Ausnahmen für Einzelgewährung sind auf drei Bedarfstypen beschränkt, weder Öffnungsklauseln noch Härtefallregelungen sind in den beiden Gesetzesentwürfen SGB II und XII vorgesehen.[9] Eine Verordnungsermächtigung ermöglicht den regionalen Trägern der Fürsorgeleistung sogar die Pauschalierung der Kosten für die Unterkunft, ohne näher darauf einzugehen, welche Kosten für Unterkunft und Heizung als »angemessen« anzusehen sind.

Die Leistungsform der Pauschalisierung wiegt eine Reihe von schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Bedenken auf, die sich auf das Sozialstaatsgebot (Art. 20 GG) beziehen und auf Art. 80 Abs. 1 GG der für wesentliche Gestaltungsparameter einer Leistung eine hinreichende Bestimmung durch den Gesetzgeber erfordert.[10] Bei den Leistungsberechtigten kann Pauschalierung dazu führen, dass sie sich im Fall eines unvorhergesehen auftretenden akuten Bedarfs gezwungen sehen, Mittel aufzubrauchen, die zur Sicherung der physischen Existenz notwendig sind. Dieses Absinken in die absolute Armut ist eine Situation, deren Duldung mit dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit nur schwer zu vereinbaren ist.

Einmalige Leistungen zur Beschaffung von Gebrauchsgütern von längerer Gebrauchsdauer und von höherem Anschaffungswert sowie Leistungen für besondere Anlässe, wie Taufen, kirchliche Weihen, Hochzeiten, Beerdigung etc., können unter Beachtung des Gegenwärtigkeitsprinzips und des Grundsatzes der Bedarfsdeckung mit Blick auf die bestehenden Erfahrungen aus der Gewährungspraxis und der viel zu niedrig angesetzten Beträge nicht pauschal abgegolten werden.

Die Pauschalierung der Unterkunftskosten birgt zudem noch weitreichendere Gefahren: Bei einem Modellversuch in Kassel zeigte sich, dass die Einführung von Pauschalen für Miete und Heizkosten zu erheblichen Leistungseinschnitten führte – mit schweren Folgen für Betroffene bis hin zu Räumungsklagen und drohender Obdachlosigkeit.[11] Zusammenfassend muss hervorgehoben werden, dass mit der weitgehenden Pauschalierung eine De-Facto-Senkung des ohnehin zu niedrigen Leistungsniveaus einhergeht, die im BSHG verankerten Strukturprinzipen verletzt und soziale Mindeststandards weiter unterschritten werden.

Das unterste Netz fällt weg

Neben einer Vielzahl von Verschlechterungen im SGB XII-E, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann[12], steht im Zuge der »Reform« ein weiteres wichtiges Prinzip der Sozialhilfe zur Disposition. Bislang stand die Sozialhilfe als unterstes Netz der sozialen Sicherung allen Hilfebedürftigen offen, wenn Leistungen aus den vorrangigen Sozialsystemen oder andere Einkommen (auch Erwerbseinkommen) nicht ausreichten, um das soziokulturelle Existenzminimum abzusichern. Dieser Grundsatz wird im SGB II-E erstmals ausgehebelt. Allen BezieherInnen von ALG II wird der Anspruch auf nachrangige Leistungen der Sozialhilfe ausdrücklich erschwert. Das ist eine gravierende Verletzung sozialstaatlicher Prinzipien, weil für das Gros der erwerbsfähigen Leitungsberechtigten im Prinzip kein Anspruch mehr auf wichtige Hilfe in besonderen Lebenslagen besteht, die im bisherigen Sozialhilferecht zur Absicherung individueller Notlagen vorgesehen sind, im SGB II-E jedoch gänzlich fehlen.

Wenn dieser Systembruch Schule macht, und nachrangige Ansprüche auch für die dritte Fürsorgeleistung, die Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung, wegfallen, wird die universelle Auffangfunktion der Sozialhilfe eliminiert und mit ihr der Anspruch an ein Gesetzbuch, das ein Recht auf definierte soziale Mindeststandards für alle gewährleisten soll. Übrig bleibt dann eine Fürsorgeleistung für einen relativ kleinen Teil von Hilfebedürftigen mit Referenzcharakter auf niedrigstem Niveau.

»Fordern und Fördern«[13]

Bei den »aktivierenden« Elementen des SGB II-E ist besonders der Eingliederungsvertrag hervorzuheben, den alle Leistungsberechtigte abschließen müssen, und in dem z.B. konkrete Leistungen zur Eingliederung, Eigenbemühungen, Leistungen für die Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft, aber auch Schadensersatzpflichten der/des ALG II-Beziehenden festgehalten werden. Bei Nichtzustandekommen des Vertrages oder bei Vertragsbrüchen seitens der Leistungsberechtigten drohen Sanktionen. Vertragsbrüche der Behörde bleiben dagegen ungestraft. Diese »Vereinbarungen »im Schatten der Macht« sind nach Ansicht von Uwe Berlit, Richter am BVerwG, weder mit dem Grundgesetz noch mit dem BGB zu vereinbaren.[14]

Den hohen Anforderungen an die Eigenbemühungen wird ein umfangreicher Sanktionsapparat beiseite gestellt. Neu daran ist, dass Leistungskürzungen bei wiederholtem Fehlverhalten, etwa dem Ablehnen angebotener Beschäftigung, automatisch bis weit unter das physische Existenzminimum vorgenommen werden sollen. Erwerbsfähigen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren soll im Fall von Pflichtverletzungen die Leistung – mit Ausnahme der Kosten für die Unterkunft – sogar vollständig gestrichen werden. Die Dauer der vorgesehenen Leistungskürzungen ist jeweils strikt auf drei Monate ausgelegt. Die Sanktion soll auch bei umgehender Verhaltensänderung der/des Betroffenen nicht aufgehoben werden. Diese drakonischen Strafen schlagen unmittelbar auf die Lebenslagen durch, weil im SGB II nicht mehr wie bisher im Fall einer Sperrzeit nach dem Arbeitsförderungsgesetz (SGB III) das nachrangige Auffangnetz der Sozialhilfe zur Verfügung steht, mit dem zumindest am Einzelfall orientiert der für die Existenz unerlässliche Bedarf abgesichert ist.[15] Im SGB II ist bei einer absoluten Bedarfsunterdeckung in Folge von Sanktionen dagegen eine Versorgung mit Sachmitteln oder Lebensmittelgutscheinen vorgesehen, vor allem dann, wenn minderjährige Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft unmittelbar von der Sanktion betroffen sind, oder es sich bei den Betroffenen um 15 bis 25-Jährige handelt.

Besonders bedenklich erscheint angesichts dieser verschärften Sanktionsregelungen mit festgelegten differenzierten Tatbeständen, die den MitarbeiterInnen der Behörde die Verhängung einer Strafe erleichtern sollen, die Umkehr der Beweislast zuungunsten der Leistungsberechtigten. In Verkehrung bestehender Rechtsgrundsätze sollen diese im Fall eines behördlichen Verdachts auf Pflichtverletzung künftig ihre Unschuld selbst beweisen. Einer disziplinierenden, zunehmend repressiven Verhängung von Sanktionen ist damit Tür und Tor geöffnet.

Während der fordernde Charakter des SGB II-E sehr stark betont wird, fällt das Fördern relativ bescheiden aus. Der nach der Zusammenlegung der beiden Leistungen ermöglichte Zugang von Eingliederungsleistungen aktiver Arbeitsmarktförderung auch für ehemalige Sozialhilfebezieher/innen, ist zwar grundsätzlich positiv zu bewerten, jedoch handelt es sich hier fast ausschließlich um Ermessensleistungen. Die Entscheidungen über die Gewährung einer Leistung kommt unmittelbar den jeweiligen Fallmanager(inne)n zu. Die Vergabe richtet sich aber auch nach den bei der Behörde gerade verfügbaren Mitteln, die bereits jetzt nur noch selten Langzeitarbeitslosen zugute kommen. Unglaubwürdig wirkt der Fördergedanke auch deshalb, weil die durch die Leistungsumstellung eingeplanten Einsparungen von 2,5 Mrd. Euro nicht umgehend den Eingliederungsleistungen zugeschlagen, sondern zur Haushaltskonsolidierung verwendet werden sollen.

Sozialdumping statt Sozialpolitik

In dem vorliegenden Entwurf für ein novelliertes Sozialhilferecht wird die unzulässige Deckelung der Regelleistung fortgeschrieben. Zudem werden soziale Mindeststandards durch die Einführung der weitgehenden Pauschalierung unterlaufen. Die Bundesregierung gibt hiermit das Ziel auf, ein System der sozialen Sicherung zu gewährleisten, das in der Lage ist, allen Hilfeberechtigten ein Leben in Würde auf dem Niveau eines am tatsächlichen Bedarf orientierten soziokulturellen Existenzminimums zu sichern.

Im SGB II-E erhält das Prinzip »Fordern und Fördern« und damit die bedingungslose »Aktivierung« der Selbsthilfe oberste Priorität. In diesem Leistungsrecht fehlt der unabhängig einklagbare Rechtsanspruch für nicht erwerbsfähige Bezieher/innen von Sozialgeld in der Bedarfsgemeinschaft völlig. Existenzsichernde Leistungen werden einzig an die Bereitschaft der Hilfeberechtigten geknüpft, den Hilfebezug durch die Aufnahme jeglicher Beschäftigung zu beenden, oder sie verpflichten dazu, gemäß dem Motto »keine Leistung ohne Gegenleistung«, eine »gemeinnützige«, unentgeltliche Beschäftigung aufzunehmen. Unverhältnismäßige Sanktionen bei einer Ausweitung der Zumutbarkeit und auferlegter Pflichten schaffen einen dem Fürsorgesystem immanenten Kontroll- und Zwangscharakter, der dazu führt, dass Betroffene in unterwürfige, unwürdige Lebenslagen gedrängt werden – ein Status, der nur schwerlich mit unseren rechts- und sozialstaatlichen Prinzipien zu vereinbaren ist.

Die Neuordnung des Fürsorgesystems muss im Kontext des umfassenden Reformprojektes der Regierung betrachtet werden, bei dem vor allem ein Trend ganz deutlich wird: Die Risiken von Arbeitslosigkeit, Krankheit und anderer individueller Notlagen werden privatisiert, das Prinzip gegenseitiger Verantwortung und der Solidargedanke werden verdängt. In einem gesellschaftlichen Klima, das sowohl von Egoismus als auch von einer verbreiteten Unsicherheit geprägt ist, werden Menschen, die auf soziale Sicherungsleistungen angewiesen sind, diszipliniert und diskriminiert und bekommen die alleinige Schuld für ihre prekäre Lebenssituation zugewiesen. Anstatt dieser polarisierenden Entwicklung entgegen zu wirken, um zu verhindern, dass die Gesellschaft aus den Fugen gerät, schleicht sich der Staat immer weiter aus seiner sozialen Verantwortung. Doch zum Schutz einer menschenwürdigen Existenz sind soziale Mindeststandards unerlässlich.

 

* Frank Jäger arbeitet für die BAG-SHI – Bundesarbeitsgemeinschaft Sozialhilfe-Initiativen (bagshi-frankfurt@web.de)

Überblick: Die neuen Leistungen zur Existenzsicherung (ALG II und Sozialhilfe)

Regelleistung für einen Alleinstehenden 345 Euro (West) / 331 Euro (Ost) inkl. Pauschalbetrag 45 Euro (West) für einmalige Leistungen

Regelsätze für minderjährige Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft/Sozialgeld (60 bzw. 80 Prozent von 345 Euro)

Mehrbedarf (z.B. f. Schwangere, Alleinerziehende, Behinderte, Diät aus med. Gründen...)

Unterkunft und Heizung (in angemessener Höhe oder pauschalierter Betrag),

Zuschlag nach ALG I Bezug, 2/3 der Differenz von ALG I und ALG II; max. 160 Euro (320 Euro/Paare, + 60 Euro pro Kind); Zuschlag wird nach 12 Monaten halbiert und nach 2 Jahren ALG II Bezugsdauer gestrichen.

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/03

Anmerkungen:

1) Schoch u.a., Sozialhilfe, Köln 2001, S. 23

2) BVerwG Urteil vom 11.11.1970 (V C 32/70), vgl. ebenda, S. 31

3) Vgl. ebenda, S. 26f. Inwiefern das GG konkreten Einfluss auf die Sozialgesetzgebung hat, ist sicherlich umstritten u. kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.

4) Vgl. Rothkegel ZfSH/SGB 2000, S. 259

5) S. hierzu der Bericht der BAG-SHI Umfrage »Die Praxis der Gewährung einmaliger Leistungen in der Sozialhilfe«, Frankfurt 2003, Bezug BAG-SHI

6) Vgl. Schneider, Expertise zur Frage der bedarfsgerechten Fortschreibung des Regelsatzes für Haushaltsvorstände gem. § 22 BSHG, Frankfurt 2001, S. 4ff.

7) Statistik der Sozialhilfe für das Jahr 2002, Statistisches Bundesamt, September 2003.

8) Zu diesem Sachverhalt sind u.a. die Armutsberichte von Bund, Ländern und einigen Kommunen sehr aufschlussreich.

9) Nach der vorläufigen Regelsatzverordnung 2004 sind für den Haushaltsvorstand 48 Euro inkl. Weihnachtsbeihilfen vorgesehen. Lediglich Bedarfe an Erstausstattungen für Bekleidung bei Schwangerschaft und Geburt sowie Wohnungserstbezug und Bedarfe für mehrtägige Klassenfahrten können auf Einzelantrag übernommen werden.

10) Hierzu eine umfassende Einschätzung in: Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Uwe Berlit (Richter des BVerwG), Vorabdruck des Aufsatzes der in »info also«, Heft 5/2003 erscheinen wird. Quelle: http://www.tacheles-sozialhilfe.de/aktuelles/2003/StellungnahmeGesetzentwuerfeAlhiBSHGFassung030814_z.pdf

11) Die Größenordnung der zu erwartenden Kürzungen lässt sich daraus ersehen, dass z.B. in Kassel die Unterkunftspauschale für Alleinstehende auf monatlich 460 DM (235 Euro) festgesetzt wurde, während vorher Unterkunftskosten (Kaltmiete und Nebenkosten ohne Heizung) von bis zu 600 DM als angemessen akzeptiert wurden. Aus eigenen Zahlenangaben der Stadt Kassel ist zu entnehmen, dass bei ca. 3000 von ca. 4800 Einpersonenhaushalten die Unterkunftspauschale nicht ausreicht, um die tatsächlichen, bisher vom Sozialamt als angemessen anerkannten Unterkunftskosten zu decken. Zu den Problemen mit der Pauschalierung von Unterkunfts- und Heizkosten im Modellstandort Kassel siehe Prof. Friedrich Putz, Arbeitslosengeld II – bisheriges Sozialhilfeniveau oder noch tiefer? in: SPW 131 Mai/Juni 2003 S. 44ff, Vorabdruck im BAG-SHI Rundbrief 02/2003 S. 15f.

12) S. hierzu: Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen e. V. zum Entwurf eines Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch, Quelle: www.bag.shi.de

13) Allein die Umkehrung der Reihenfolge in der Begründung des SGB II-E setzt Akzente.

14) Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, Uwe Berlit Vorabdruck des Aufsatzes, der in ›info also‹ Heft 5/2003 erscheinen wird, Quelle: s.o.

15) Hier werden max. 25-30 % des Regelsatzes gekürzt.

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