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Holger Heide

Arbeitssucht – individuelle und sozialökonomische Dimensionen

Vortrag gehalten auf der Fachtagung "SUCHT 2000" der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren in Karlsruhe, 13. – 15. November 2000.

 

A. Vorbemerkung:

Arbeitssucht ist dabei, ein Massenphänomen zu werden. Sie ist nicht mehr bloß die Krankheit der Manager. Ich will einige Hypothesen und Erfahrungen darstellen, die etwas zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen beitragen können, nach den Ursachen der Arbeitssucht und nach den Ursachen ihrer Ausbreitung.

Die Hypothesen und Erfahrungen sind in kurzer Form das Zwischenprodukt einer Forschungsarbeit über Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Arbeitssucht zwischen Ostasien (speziell Japan und Südkorea) und Europa am Institut für sozialökonomische Handlungsforschung, an der Universität Bremen (SEARI). Wir versuchen in einem sozialökonomischen Ansatz die Enge herkömmlicher Wirtschaftswissenschaft zu überwinden und Aspekte, die normalerweise Gegenstand der Soziologie, Psychologie oder der Kulturanthropologie sind, in unsere Untersuchung aufzunehmen, ohne deshalb Fachleute auf all diesen Gebieten sein zu wollen oder gar zu können. Der Gegenstand erfordert jedoch dringend eine Integration der verschiedenen Gesichtspunkte und Methoden, nicht nur die eklektische Addition von Ergebnissen unterschiedlicher Disziplinen.

Der Vergleich zwischen Ostasien und Europa ist in vielerlei Hinsicht interessant. Es scheint so, als herrsche in Japan und Korea weniger eine Abhängigkeit von der Arbeit oder dem Arbeiten oder der Leistung, als von dem Arbeitszusammenhang, der Firma, der Arbeitsgruppe. In den letzten Jahren scheint es zwar eine Konvergenz beider Arten von Arbeitssucht zu geben, die Unterschiede bleiben aber weiterhin bedeutend.

Ich spreche bewusst von Arbeits-Sucht und nicht von Workaholism. In dem Ausspruch: "Ich bin ein Workaholic" fehlt in der Regel die Einsicht in die Krankheit, eher scheint Stolz auf die eigene Leistung, das Durchhaltevermögen oder schlicht Abwehr mitzuschwingen.

 

B. Arbeitssucht in der Arbeitsgesellschaft

Obgleich die Menschen in vormoderner Zeit ganz gewiss nicht untätig gewesen sind, ist das was wir heute unter Arbeit verstehen, erst ein Produkt der kapitalistischen Industriegesellschaft oder der Moderne. Die Arbeitsethik wird – spätestens seit Max Weber – im Allgemeinen mit dem Protestantismus, insbesondere in seiner calvinistischen Ausprägung verknüpft. Sie ist aber weder eines Tages vom Himmel gefallen, noch hat sie sich einfach "irgendwie" entwickelt. Die im Kampf gegen die verschwenderisch und ‚unkontrolliert‘ lebende feudale Aristokratie entwickelte Selbstdisziplinierung (die ‚weltliche Askese‘) war die Grundlage für Fremddisziplinierung, aus ihr erwuchs die ‚Pflicht zur Ausrottung der Faulheit‘. Dahinter steht, dass die ‚ihre Gelüste befriedigenden und faulenzenden‘ Unterschichten die aufstrebende Bourgeoisie am ungestörten Ausleben ihrer Zwangsneurose hinderten. Tatsächlich ist so das Paradigma der Arbeit der großen Masse der Menschen der Unterklassen in dem beispiellosen geschichtlichen Prozess der Industrialisierung mit blutiger Gewalt aufgezwungen worden.

Voraus gegangen war dem geistig der Prozess der Entspiritualisierung als Folge der Befreiung des Menschen aus einer spezifischen Form der an den Boden gebundenen äußeren Abhängigkeit im Feudalismus. Unabhängigkeit vom Boden – das schien gleichbedeutend mit Unabhängigkeit von Natur überhaupt zu sein – insbesondere von der eigenen inneren Natur. Natur wurde in dieser Vorstellung aus der Quelle des Lebens zum Objekt menschlichen Willens. Aus der wiedererwachten Erkenntnis des Göttlichen in sich zogen die Menschen im Zeitalter der Aufklärung nicht den Schluss, integraler Teil eines Größeren Ganzen zu sein, sondern sie setzten sich selbst an die Stelle des abgesetzten Schöpfers.

Diese Trennung vom Selbst, die Vorstellung vom Menschen schließlich als Objekt seiner selbst, der Machbarkeitswahn, die Verallgemeinerung der Konkurrenz sind über das gesellschaftliche Trauma, das mit dem eingangs erwähnten historischen Prozess der kapitalistischen Industrialisierung verbunden war, verallgemeinert worden. Das Paradigma der Machbarkeit kennzeichnet den Menschen der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Der skizzierte historische Prozess ist derjenige, in dem uno actu die moderne Gesellschaft als Suchtgesellschaft ihre Wurzeln hat.[1] Sucht ist in dieser Gesellschaft fast unverzichtbar, weil sie uns hilft, den Schmerz über die Welt der Isolation, der Unehrlichkeit, der Illusion und der Selbstbezogenheit zu dämpfen, die wir geschaffen haben und die wir in unserem täglichen Leben beständig reproduzieren.[2]

Heute sprechen wir von Arbeitsgesellschaft, weil die Arbeit, speziell als Erwerbsarbeit, einen zentralen Stellenwert im Selbstverständnis der ganzen Gesellschaft einnimmt. Sie ist uns tradiert worden, wir haben ihre Prinzipien verinnerlicht. Diese Prinzipien sind uns zur "zweiten Natur" geworden. Arbeit erweist sich gerade wegen ihrer hohen ethischen Bewertung als besonders gefährliches Suchtmittel. Aber wie kann Arbeit individuell überhaupt zum Suchtmittel werden? Sehen wir uns zunächst die wichtigsten Merkmale der Arbeitssucht an:

 

C. Kennzeichen und Ablauf der Arbeitssucht

Charakteristika

Ganz ähnlich wie bei anderen, sowohl stofflichen als auch nicht-stofflichen Süchten stoßen wir auch bei Arbeitssucht auf die typischen Suchtkennzeichen:

Typen

Es gibt eine ganze Reihe begründeter Einteilungen von Typen von Arbeitssucht (z.B. Fassel 1994, Richter et al. 1984), viele davon wieder in verblüffender Analogie zum Alkoholismus. Ich will an dieser Stelle nur zwei Grundtypen unterscheiden, zum Einen, weil ich glaube, dass gerade diese Unterscheidung von großer Bedeutung ist und zum Anderen, weil ihre Interpretation schon oft zu Missverständnissen Anlass gegeben hat.

Auf der einen Seite gibt es den – jedenfalls nach außen – erfolgreichen Vielarbeiter, ob in ständiger zwanghafter Form oder in Anfällen, ob offen oder heimlich, auf der anderen Seite den Erfolglosen, den der sich als ‚Versager‘ erlebt.

Zu der ersten Kategorie gehören diejenigen, die ihre Arbeit mehr zu lieben scheinen als ihre Familie und Freunde, diejenigen die immer wieder betonen, dass sie ihre Arbeit ‚gern‘ tun, die ungeduldig werden mit jenen Anderen, für die außer Arbeit auch noch andere Dinge wichtig sind, die auch noch beim Einschlafen an die Arbeit denken und das auch gut und richtig finden.

Diejenigen, die ich zur zweiten Kategorie zählen würde, spüren vor allem ihre Angst vor der Arbeit, sie haben es schon schwer, überhaupt anzufangen, sie unterbrechen ihre Arbeit unter allerlei Vorwänden, spüren oft andere Bedürfnisse, die sie bei der Arbeit ‚stören‘ und sind deshalb selten richtig konzentriert. Gleichzeitig haben sie an sich Ansprüche, an denen sie fast zwangsläufig scheitern, so dass sie sich ihre Verliererhaltung oder Opferhaltung immer wieder selbst bestätigen. Das sind oft diejenigen, die sich ihrer Arbeitsschwierigkeiten schämen und die deshalb zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit auch noch damit beschäftigt sind, diese Arbeitsschwierigkeiten zu verbergen.

In beiden Fällen liefert die Beschäftigung mit der Arbeit den "Kick". Oft entwickelt sich die zweite Form aus der ersten in einem späteren Stadium.

Stadien

Arbeitssucht erweist sich – wie jede andere Sucht – als dynamisch:

Im Anfangsstadium herrscht meist noch das Gefühl der Leistungsfähigkeit, des Tatendrangs, des Sich-beweisen-Wollens. Die tatsächliche Bestätigung durch die soziale Umwelt spornt weiter an. Das Arbeiten – und noch mehr die Resultate erfolgreichen Arbeitens – werden oft als "Hochgefühl" erlebt. Auf Grund des hohen Stellenwerts der Arbeit tritt im Laufe der Zeit eine Verengung des Interesses auf das Suchtmittel ein. Ein "Kater", begleitet von Konzentrationsstörungen und Kreislaufschwäche und immer öfter auch die Erkenntnis: "Ich muss mal was für mich tun".

Das Hochgefühl stellt sich schließlich immer seltener ein, jedenfalls immer nur sehr kurz, und dahinter lauert für den Betroffenen die Erkenntnis, dass er aufhören muss, wenn er sich nicht ruinieren will. Er erlebt jedoch regelmäßig, dass er nicht aufhören kann, er erlebt sich als getrieben. Die Diskrepanz zwischen dem zu erledigenden Berg an Arbeit und den immer knapper werdenden physischen und psychischen Reserven; die Diskrepanz zwischen Willen und Handlungsfähigkeit, die Lage zu ändern; führen zu immer größeren Anstrengungen zu verdrängen, schönzureden, zu vertuschen und zu manipulieren. Spätestens in diesem Stadium treten wegen ihrer entlastenden Wirkung meist andere Süchte hinzu, sehr oft Rauchen und Alkohol und – nicht zuletzt, weil Familie und Partnerschaft nicht mehr funktionieren – Sex- und Liebessucht.

Wenn dann die ersten Ausfälle durch Krankheit auftreten, ist das oft der Punkt, an dem viele Arbeitssüchtige ernsthaft einen Weg aus der Sucht suchen, sich in Therapien begeben usw. Sehr oft werden aber auch dann nur die Symptome behandelt (also Hypertonie, Magengeschwüre, Koronarerkrankungen usw.), zumal es eine Diagnose als Arbeitssucht (anders als bei Alkoholismus) bisher nicht gibt. Allerdings tragen oft auch die Arbeitssüchtigen selbst dazu bei, indem sie – gewissermaßen in "Rückfällen" – sich selbst und die Therapeuten immer wieder auf die Symptome festzulegen suchen (vgl. Mentzel 1979, 125).

Wenn der Arbeitssüchtige im kritischen Stadium nicht aufhören kann, entgleitet die Sucht vollends. Der Versuch, die Opferrolle zu durchbrechen, indem man zum Täter wird, führt zu immer wachsender Rücksichtslosigkeit gegenüber Anderen wie gegen sich selbst. Die in der Regel ohnehin schon schwierige Zusammenarbeit mit Kollegen, Vorgesetzten oder Untergebenen wird vollends vergiftet. Ein Schein von Normalität ist häufig nur noch mit abwechselnd genommenen Aufputsch- und Beruhigungsmitteln aufrechtzuerhalten. Neben schweren körperlichen Krankheiten tritt ein moralischer Verfall ein. Am Ende steht oft der Tod durch Herzinfarkt o.ä.

Für diejenigen, die von vornherein eher zur Kategorie der Verlierer gehören, geht diese Dynamik oft schneller. Andererseits scheint die Bereitschaft, im kritischen Stadium den Absprung zu schaffen, bei ihnen häufiger zu sein.

 

D. Hintergründe und Ursachen der Arbeitssucht:

Bei näherer Analyse von Suchtverhalten stoßen wir in der Tiefe auf einen "Suchtprozess". Das Treibende dieses Prozesses scheint Angst zu sein, mal offen, mal eben unter der Oberfläche des Bewussten -–oder auch massiv geschützt im Unbewussten. Angst ist letztlich Ausdruck einer Trennung vom Selbst. Wie es zu einer solchen Trennung kommen kann, dem hat uns die Erforschung psychischer Traumata nähergebracht.

Frühkindliche Traumata gehen in der Regel viel tiefer als solche, denen der Mensch als Heranwachsender oder Erwachsener ausgesetzt wird. Ein entscheidender Grund dafür ist die grundlegende Hilflosigkeit des kleinen Kindes, das auf die vorbehaltlose Liebe von erwachsenen Bezugspersonen angewiesen ist. Menschen, deren Leben selbst von Angst und Verdrängung gekennzeichnet sind, haben oft nicht die Fähigkeit, auf die Hemmungslosigkeit angemessen zu reagieren, mit der das Kind seine unmittelbaren Bedürfnisse äußert, insbesondere diejenigen nach Liebe und Nähe. Oft lässt die Angst der Erwachsenen, mit sorgsam verdrängten eigenen Gefühlen konfrontiert zu werden, nur noch Abwehr zu. So erfährt das Kind nicht die Geborgenheit, die es braucht, um sich als Teil eines Großen Ganzen dieser Welt fühlen zu können, um über Empathie Spiritualität zu erfahren, kurz: um leben zu lernen. Auf diese Weise wird die Angst tradiert. "Die Eltern werden zum Trauma für ihre Kinder" (Schmidbauer 1998).

Die Kinder entwickeln "Überlebensstrategien", sie lernen "Rollen", die ihnen das Überleben ermöglichen. Dass es Rollen sind, heißt, dass sie aufhören, sich an den eigenen Bedürfnissen zu orientieren; sie lernen, sich an den Erwartungen derer, auf die sie angewiesen sind, zu orientieren. Durch ständige Wiederholung und die zugrundeliegende Angst, "aus der Rolle zu fallen", werden die Rollen zu Mustern. Da die eigenen Bedürfnisse nicht mehr erkannt werden, geht es dabei letztlich immer um Leistung. Zentral sind Aspekte wie "Beziehungsarbeit", gar "Liebesarbeit", also Aspekte der Anpassungsleistung, des "den Eltern Freude machen".

Welche Bedeutung diese Muster oft ein ganzes Leben lang haben können, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass im Sozialisationsprozess ja eine Kumulation der nacheinander auftretenden Eindrücke erfolgt. Der Umgang mit Situationen und Konstellationen, in die sich der Mensch im Laufe seines Lebens begibt oder in die er "gerät", ist immer auch von den früher gemachten Erfahrungen vorgeprägt. Erwachsene sind umso eher psychisch verwundbar, je weniger entwickelt ihre Persönlichkeit ist, je weniger innere Autonomie sie haben. Darum ist die Betrachtung der individuellen Sozialisation so entscheidend für die Erklärung der Sucht.

Das Leistungsmuster spielt im Suchtprozess also eine zentrale Rolle und es ist das Leistungsmuster, das vielen Suchtformen zu Grunde liegt, jedenfalls allen Beziehungssüchten im weiteren Sinn.[3] Ob ein solches Muster speziell zur Arbeitssucht führt, hängt vor allem davon ab, wie "erfolgreich" das Muster in der Kindheit und Jugend, besonders dann in der Schule, gelebt worden ist, ob also das Muster immer wieder bestätigt worden ist.

Ein frühes Scheitern derselben Leistungsversuche kann zu der eben schon erwähnten "Verliererhaltung"/"Opferhaltung" führen. Aus dem Scheitern beim Versuch, Leistungen zu erbringen, oder wenn der eigene Maßstab für Zufriedenheit ins Unermessliche wächst, erklärt sich der Zustand des Gelähmtseins angesichts der vor einem liegenden Arbeit, also das Nicht-anfangen-Können oder Überhaupt-nicht-mehr-arbeiten-Können.

Die beiden scheinbar entgegengesetzten Erscheinungsformen: "Vielarbeiter" versus "Arbeitsgehemmte", können sich so einerseits aus einem unterschiedlichen Stadium, in dem sich die Betreffenden bezüglich ihrer Sucht befinden erklären; aber es gibt den zweiten "Typ" auch schon unter den "Anfängern" und das hat oft mit frühen Erfahrungen von Erfolglosigkeit zu tun bei dem Versuch, die Leistungsanforderungen, seien es nun fremde oder eigene, zu erfüllen. Es gibt m.E. keine eigene "Arbeitsvermeidungssucht", es scheinen immer die – mal erfolgreichen, mal eher erfolglosen – Erfahrungen mit demselben Suchtmittel Arbeit zu sein, um die es geht.

 

E. Wer sind die Arbeitssüchtigen?

Sehen wir uns einmal genauer an, von wem hier die Rede ist. Wer kann seine/ihre Arbeitssucht auf die eine oder andere Weise ausleben? Wer kann möglicherweise die verschiedenen Stadien der Arbeitssucht durchmachen? Wenn wir uns die Arbeitssüchtigen anschauen, von denen da gewöhnlich gesprochen wird, dann sind es offenbar solche, denen jedenfalls Arbeit als Suchtmittel zur Verfügung steht. Unter diesen unterscheide ich erst einmal zwei Kategorien:

Da ist zum Einen die Gruppe derjenigen, die das Modell für die meisten bisherigen Betrachtungen über Arbeitssucht abgegeben haben; es sind zum Beispiel:

Auffällig ist bei dieser Gruppe – neben einer gewissen Selbständigkeit bei der Arbeit, die ihnen "Arbeit" als Suchtmittel ja überhaupt erst zugänglich macht – , dass die Menschen primär an dem was sie leisten, orientiert sind (das kann dann als "Mission", als "Passion" oder schlicht als der Drang, anderen zu helfen verkleidet sein). Die eigentliche Arbeitsorientierung ist dann oft erst der sekundäre Effekt, verselbständigt sich aber auch; das sieht man dann unter anderem an den oben genannten Suchtstadien.

Arbeitssucht als "Droge" hat für die genannte Gruppe offensichtlich eine tendenziell stimulierende Wirkung.

Es gibt allerdings noch einen anderen Typ von Arbeitssucht, der – im allgemeinen jedenfalls – weniger Beachtung findet, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil diejenigen, die sich professionell mit Sucht auseinandersetzen, oft selbst zu der eben zuerst genannten Gruppe gehören: Durch viel und intensive abhängige Arbeit mit geringen Entscheidungsspielräumen kann es eine Gewöhnung mit der Folge einer Reduzierung der Lebendigkeit geben. Abhängig Beschäftigte, die ihr Leben lang auf Anweisung von Anderen arbeiten, die der Arbeit zwar am liebsten entfliehen würden, das aber nicht fertigbringen (objektiv oder subjektiv), versuchen oft, die Frustration über dieses reduzierte Leben ausgerechnet in Arbeit zu ertränken, das heißt, die Arbeit als Mittel zu verwenden, um nicht zu fühlen. Diese Gruppe erscheint als weniger an der Leistung und an dem damit verbundenen Ansporn orientiert zu sein, als am Arbeiten als solchem. Außer den erwähnten Erwerbstätigen können auch nicht Erwerbstätige, z.B. Hausfrauen, Rentner, am ehesten zu dieser Gruppe gerechnet werden.

Die Gewöhnung vermittelt dann eine eher sedative, also dämpfende Wirkung für die unerträglichen Gefühle.

Der Betreffende "lernt", dass es bequem sein kann, sich hinter der Arbeit zu verstecken, insbesondere dann, wenn die Realisierung von Alternativen als zu schwierig erscheint. Daraus resultiert beispielsweise häufig die Bereitschaft zu Zweitjob, "Schwarzarbeit", Nachbarschaftshilfe usw.

Das erlernte Muster kann man dann eher als Anpassung, als passive Unterwerfung unter die Anforderungen der Arbeitsgesellschaft charakterisieren. Anpassung und Unterwerfung können ebenso wie die Orientierung auf Arbeitsleistung als Traumafolgen aufgefasst werden. Auch sie können ein posttraumatisches Syndrom sein.

 

F. Zur Arbeitswelt in Ostasien

Das ist genau die Stelle, an der es angebracht ist, ein Wort zur Arbeitswelt Japans zu sagen. Arbeitssucht steht in Ostasien viel deutlicher als im Westen im Zusammenhang mit der Erbringung einer Anpassungsleistung. Die Arbeitsleistung wird als Folge der Anpassungsleistung erwartet. Schon während des gesamten Sozialisationsprozesses steht die Ausrichtung auf Anpassung im Mittelpunkt.

In der Schulzeit werden von den Kindern zwar zusätzlich Lernleistungen verlangt, vor allem während der Vorbereitung aufs Examen, wo schon die Nachtarbeit auf dem Stundenplan steht, jedoch ist die Bildung deutlich stärker als im Westen auf das Lernen von abfragbarem Wissen ausgerichtet. Nach dem Schul- oder Universitätsabschluss steht dann der Eintritt in die Firma. Dort kann die Personalabteilung bzw. der Vorgesetzte an das Erreichte anknüpfen. Entscheidend sind dann auch am Arbeitsplatz die Anpassung, das Sich-Einfügen in die Gruppe. Paradoxerweise ist das, was als Gruppenorientierung erscheint, letztlich Ausdruck eines über die Gruppe geleiteten extrem individualisierten Konkurrenzdrucks. Denn die Arbeitsgesellschaft ist in Japan ebenso wie im Westen ein Produkt der kapitalistischen Moderne und nicht etwa eine "Tradition". Ihre Durchsetzung lässt sich als ein physischer, psychischer und sozialer Zerstörungsprozess identifizieren. Das kann ich an dieser Stelle nicht näher ausführen.[4] Die Konsequenzen sind jedenfalls nicht grundsätzlich verschieden von denen im Westen.

Es lassen sich grob zwei Typen von Arbeitssüchtigen unterscheiden: Als ersten Typ möchte ich diejenigen bezeichnen – ähnlich wie im Westen – , die in Jobs tätig sind, die ihnen eine gewisse Selbständigkeit bei der Einteilung und Ausführung ihrer Arbeit gewähren. Die formal abhängig Beschäftigten aus dieser Gruppe stehen gegenüber dem Vorgesetzten und/oder der Gruppe – oft nachdem sie offene oder versteckte "Selbstverpflichtungen" eingegangen sind, unter einem starken psychischen Druck. Nach außen hin arbeiten sie "freiwillig" mehr für die Firma, können sich "im eigenen Interesse" nicht leisten, Freizeit und Urlaub zu nehmen. Kumazawa spricht hier in Anlehnung an Fucini von "enforced voluntarism" (Kumazawa 1999, Fucini 1990).

Der zweite Typ von Arbeitssüchtigen entsteht in der Folge von erzwungen langen, dazu oft sogar unbezahlten Arbeitszeiten, die in Japan deutlich weiter verbreitet sind, als im Westen (es gibt dafür im Japanischen den Begriff der "service overtime"). Der Durchsetzungsprozess ist grausam. Diejenigen, deren Sozialisation sie schon hinreichend vorbereitet hat, ordnen sich einfach passiv ein. Bei noch mangelnder Anpassung wird von Vorgesetzten und Kollegen oft mit bewusster Erniedrigung und Demütigung gearbeitet, die als Mobbing bezeichnet werden können.

Es geht um die Zerstörung der Identität, die die Betroffenen in der Regel zum wiederholten Mal in ihrem Leben zum Opfer macht, und um die perspektivische Ersetzung der Identität durch eine Identifizierung mit der Firma, die die Menschen schließlich mit Hilfe des immer wiederholten Appells an die Opferhaltung von sich "abhängig" macht.[5] Hier wird die Arbeitssituation selbst zum Trauma.

Überaus lange Arbeitszeiten werden als Normalität empfunden, insbesondere in Angestelltenjobs in Großraumbüros. Zu den Folgen gehören auch Sekundärsüchte (insbesondere Alkoholismus, Spielsucht, Sexsucht) und psychosomatisch sich äußernde Zerstörungen auf Grund der erlittenen Erniedrigungen und dann auf Grund der Schuldgefühle gegenüber der vernachlässigten Familie. Gerade die langen Arbeitszeiten scheinen wiederum dazu beizutragen, dass eine Durchbrechung der Trennung vom Selbst verhindert wird, indem die Menschen ständig gewissermaßen "außer Atem" gehalten werden.

Die Wirkung der Arbeitssucht scheint hiernach für beide Gruppen eher stimulierend bzw. aufputschend zu sein.

In Japan enden jährlich 10.000 Karrieren durch Karoshi (den Tod durch Überarbeitung) und Karojisatsu (den Freitod auf Grund von Arbeitsstress), und die Zahl der akut Gefährdeten wird von Fachleuten auf das Zehnfache geschätzt (Kumazawa 1999). Abschiedsbriefe, die viele der Menschen hinterlassen, die durch Karojisatsu sterben, geben oft Aufschlüsse über die zu Grunde liegende Problematik. Es wird deutlich, dass diese Menschen meist entweder die gesamte Schuld – gegenüber der Firma wie gegenüber ihrer Familie – auf sich nehmen oder aber Andere (den Chef, die Gruppe – übrigens selten die Firma selbst) verantwortlich machen.[6] Es scheint also, dass diese Menschen nicht mehr selbst die Verantwortung für ihr Leben übernehmen, und genau das könnte ein Hinweis auf eine tiefe Suchtkrankheit sein.

 

G. Veränderungen in der westlichen Arbeitsgesellschaft

Trotz der nicht geringen Zahl der Jobs, die in die oben aufgeführten erste Kategorie fallen, besteht die große Mehrheit der Arbeitsplätze bislang aus abhängigen Beschäftigungen ohne große Gestaltungsräume bezüglich Arbeitsinhalt oder auch nur Arbeitszeit. Typisch hierfür ist im herkömmlichen, sogenannten fordistischen System das Arbeiten auf konkrete Anweisung ("Kommando"). Die Arbeit ist im Idealfall tarifvertraglich geregelt. Der Tarifvertrag betrifft die Arbeitsbedingungen einschließlich der Arbeitszeit und er betrifft die Entlohnung.

Die Verantwortung ist in der Hierarchie "da oben" angesiedelt, dem Ausführenden wird keine Eigenverantwortung zugestanden. Dass der Arbeitende selbst nicht die Verantwortung trägt, ist dann für ihn "bequem" im schon oben erwähnten Sinne.

Daher gehört zum Kommando die Kontrolle von seiten des "Arbeitgebers", und beim "Kampf zwischen Arbeit und Kapital" geht es neben Lohn und Arbeitsbedingungen folglich auch um die Effizienz der Kontrolle.

Die Nicht-Verantwortung der unselbständig Arbeitenden bezieht sich auch auf den Arbeitsplatz als solchen, den nur der "Arbeitgeber" zur Verfügung stellen und ggf. "sichern" kann. Forderungen nach "Sicherung der Arbeitsplätze" richten sich konsequenterweise an die Unternehmensleitung. Das Unternehmen ist der Marktkonkurrenz ausgesetzt. Die Unternehmensleitung hat die Funktion, die Marktkonkurrenz in Kommando zu transformieren.

Im Zusammenhang mit der oft beschworenen "Globalisierung" und der damit im verbundenen neo-liberalen Restauration gibt es seit Jahren die Tendenz, dass sich auch in der Arbeitsorganisation ein neues System herausschält. Es begann mit dem Drang der Unternehmen zu mehr Flexibilisierung, unter anderem einer Flexibilisierung der Arbeitszeit. Zunächst einmal beinhaltet mehr Flexibilisierung die Notwendigkeit zu noch mehr und verfeinerter Kontrolle. Beispiele sind die durch Anwendung der Mikroelektronik immer mehr verfeinerte Zeiterfassungssysteme. Obgleich sich das also lösen lässt, wird dieses Mehr an Kontrolle schließlich disfunktional: Von den unselbständig Arbeitenden wird das immer mehr als hemmende Bevormundung empfunden und erzeugt Frustrationen, die aus der Sicht des Unternehmens die Produktivität beeinträchtigen, darüber hinaus verursacht es ständig steigende Kosten. Die Konsequenz ist eine Tendenz zur "Delegation der Verantwortung" und daraus folgend ein Abbau der Hierarchien und der Kontrolle im Zuge einer "Verschlankung" des Managements. Insbesondere werden die jahrzehntelang von den abhängig Beschäftigten und ihren Gewerkschaften bekämpften Stechuhren und andere Zeiterfassungssysteme zunehmend abgeschafft – und zwar von den Unternehmensleitungen.

Das heißt, dass die Arbeiter und Angestellten weniger dem konkreten Kommando einer vorgesetzten Stelle unterworfen und stattdessen direkt mit dem Marktzwang konfrontiert werden, und der wird härter. Das ist gleichbedeutend mit einer Tendenz zur "Präkarisierung" der Arbeitsverhältnisse in dem Sinne, dass die Unternehmensleitung die Verantwortung für die Arbeitsplätze an die Arbeiter/Angestellten abgibt: "Macht, was ihr wollt, aber seid profitabel!"(Glißmann 2000).

Die Erfüllung des Arbeitsvertrages wird dann nicht mehr an das Kriterium des Arbeitens über eine bestimmte Zeit gebunden – das ist es, was als Mehr an Freiheit erscheint –, sondern zunehmend direkt an den Erfolg des Arbeitens. Erfahrungen aus verschiedenen Arbeitsbereichen zeigen, dass die abhängig Beschäftigten jetzt nicht weniger, sondern mehr arbeiten: sie arbeiten länger und sie arbeiten intensiver und unter mehr Stress, und sie arbeiten isolierter voneinander.

Zwar gelten formal noch die tariflich ausgehandelten Arbeitszeitregelungen, die Unternehmer verlangen aber nicht mehr die Einhaltung der Arbeitszeit und die Arbeiter/Angestellten arbeiten offensichtlich freiwillig mehr. Die Freiwilligkeit kann soweit gehen, dass sich die Angestellten vom Betriebsrat oder der Gewerkschaft bevormundet fühlen, wenn sie abends um halb neun auf die späte Stunde aufmerksam gemacht werden. Eine Nebenwirkung (jedenfalls in unserem Zusammenhang hier) ist, dass die Gewerkschaften vor großen Herausforderungen stehen, weil ihnen potentielle Mitglieder weglaufen.

Das neue Arbeitszeitmanagement knüpft an das Interesse der unselbständig Beschäftigten nach mehr Selbstbestimung an und erlaubt gerade darüber eine Steigerung der Identifikation mit der Arbeit, in der Erwartung, dass das ein Stück ersehnter Selbstbestätigung liefert. Auf diese Weise wird die Arbeit von Vielen als Suchtmittel einsetzbar. Erfahrungen haben gezeigt, dass sich die ersten Symptome von "Besinnungslosigkeit" bei der Arbeit, von Getriebensein, von Angst sehr schnell entwickeln können. Die Betroffenen fühlen sich unter deutlich gesteigertem Stress (Glißmann 2000b).

Weil für immer weitere Gruppen von unselbständig Beschäftigten der Grad der Selbständigkeit erhöht, die "Droge" Arbeit damit immer weiteren Kategorien von Menschen zugänglich gemacht, ja ihnen geradezu aufgedrängt wird, ist das Umsichgreifen der Arbeitssucht erklärlich.

Für immer mehr Menschen wandelt sich "Arbeit" darüber hinaus von einem sedativen zu einem stimulierenden Suchtmittel.

Allerdings macht sich die Erklärung so nur an äußerlichen Kriterien fest: Eine "Droge" wird in neuer Form angeboten. Entscheidend zu erklären bleibt immer, wieso die unselbständig Beschäftigten zu dieser Identifikation mit ihrer Arbeit "bereit" sind. Für die Erklärung der allgemeinen Suchtprädisposition können wir auf die in der eingangs gegebenen Skizze angeführten Ursachen zurückgreifen. Die Verschiebung der Arbeitssucht in Richtung Stimulans müssen wir vielleicht im Zusammenhang mit der allgemeinen Zunahme stimulierender Beschäftigungen auch in der sogenannten "Freizeit" sehen. Darüber hinaus bedeutet ja die Ausbreitung der Arbeitssucht selbst wieder einen Beitrag zu einer allgemeinen Steigerung des Stress in der Gesellschaft mit der Folge der massenhaften Verstärkung der damit verbundenen Suchtkennzeichen. Sedative Wirkungen werden dagegen möglicherweise zunehmend von chemischen Mitteln erwartet.

Zwischenfazit

Arbeitssucht breitet sich aus. Das System braucht die Arbeitssucht. Sie wird von den Unternehmen als den Dealern der Droge Arbeit (Richter 1984, 7) gezielt eingesetzt und dann von den dafür Prädisponierten bereitwillig aufgegriffen. Der tiefere Grund ist eine nicht bearbeitete Angst, und als Folge zeigt sich oft eine Verstärkung der Angst.

Für das Unternehmen gerät die Sucht erst da ins Blickfeld, wo sie für den Unternehmenszweck disfunktional zu werden droht. Das Problem ist hier also die Gewährleistung einer kontrollierten Arbeitssucht – Letzteres vermutlich selbst eine Sucht-Illusion. Für die betroffenen Menschen fängt das Problem jedenfalls viel früher an und ist von grundsätzlicher Bedeutung.

 

H. Umgang mit der Arbeitssucht

Wie bei anderen Suchtformen auch scheinen mir zunächst einmal drei Erkenntnisse wichtig:

• Da es sich um eine gesellschaftliche Krankheit handelt, kann es nicht darum gehen, eine "Schuld" bei den Betroffenen zu suchen. Andererseits nützt der Verweis auf die Notwendigkeit einer Änderung der Gesellschaft überhaupt nichts. Wie soll eine Suchtgesellschaft von Süchtigen geändert werden können?

• Ansatzpunkt kann auch nicht primär die "Droge" sein; es geht immer um die innere "Bereitschaft", das Suchtmittel zu verwenden.

• Wenn auch die primäre Sozialisation wichtigste Ursache ist, dann heißt das nicht, dass die Vergangenheit verändert werden müsste oder könnte, es geht immer um die Gegenwart.

Hieraus folgt als Konsequenz:

Die Betroffenen müssen ihr Leben als inzwischen Erwachsene neu ordnen und die Verantwortung für ihr Leben nicht länger abwälzen, sondern selbst übernehmen. Und die Genesung geht nicht allein, sondern ist gleichbedeutend mit einem kollektiven Lernprozess der Wiederaneignung der Kommunikationsfähigkeit. Für die unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen der Arbeitssüchtigen und den daher unterschiedlichen Ausprägungen der Sucht werden die konkreten Ansatzpunkte unterschiedlich sein.

Neben Psychotherapien, über die ich hier nichts sagen kann, können für die oben zuerst genannte Gruppe der Arbeitssüchtigen in mehr oder weniger selbständiger Stellung oder mit relativ großer Gestaltungsmöglichkeit bezüglich ihrer konkreten Arbeit und damit einer recht großzügigen Verfügbarkeit über die "Droge" Arbeit die schon etablierten Selbsthilfegruppen, z.B. die nach dem sogenannten 12-Schritte-Programm arbeitenden Anonymen Arbeitssüchtigen, ein ganz wesentliches Instrument der Genesung sein.

Für die sich rasch ausweitende Gruppe derjenigen, die – obwohl abhängig beschäftigt – mit immer mehr Verantwortung für ihren Arbeitsplatz belastet werden, wird der Ort der Arbeit, d.h. der Betrieb immer wichtiger als Ort auch der Genesung. Das kann konkret heißen, dass die Menschen in einem Betrieb – wenn sie den destruktiven Sog der Arbeitssucht für sich erkennen – versuchen, die Besinnungslosigkeit zu durchbrechen, zur "Selbstbesinnung", das heißt zu sich selbst und damit auch zu den anderen Betroffenen zu kommen und die Isolation überwinden.[7]

Das wäre ein konkreter Begriff von Solidarität Wir müssen zwar damit rechnen, dass das von der Unternehmensleitung nicht erwünscht ist, dass sie es sogar zu unterbinden sucht[8], die spürbare Folge solidarischen Handeln ist jedoch, dass sich die Angst vor Ausgrenzung, aber auch vor Einkommensverlust usw. real und begründet verringert (vgl. Heide 1999a, 36). Gegenüber der bisherigen angstgetriebenen Besinnungslosigkeit ergibt sich aus der erst einmal partiellen Durchbrechung der Angst die Chance, zur Besinnung zu kommen. Allerdings ist das nur der erste Schritt, denn Besinnung ist nicht eine primär kognitive oder intellektuelle Frage. Da der zu Grunde liegende Suchtprozess ein ganz tiefes Muster ist, müssen die Betroffenen bereit werden, ihre bisherige Lebensweise in Frage zu stellen. Das weist weit über den Betrieb hinaus und hier werden auch die genannten Selbsthilfegruppen wichtig.

Schließlich wird das "Virus" wie gezeigt auch in die Gesellschaft als Ganzes eingeschleppt, die Besinnungslosigkeit am Arbeitsplatz trägt bei zur Verstärkung des Stress in der Gesellschaft. Auch die anderen vielfältigen Suchtformen müssen einbezogen werden. Und auch da geht Genesung nicht allein. Das Prinzip ist das der "ansteckenden Gesundheit".

Ob dagegen die Ausweitung der betrieblichen Suchtprävention und -intervention von Alkoholismus und anderen stofflichen Suchtformen auf Arbeitssucht bei ihrer engen Bindung an den Unternehmenszweck im Sinne der Genesung wirken könnte, scheint mir zweifelhaft. Das gilt noch mehr für viele "Therapien", die von Unternehmens- und Organisationsberatern angeboten werden. Sie sind letztlich immer "funktional" in dem Sinne, dass sie am Funktionieren des Betroffenen für das Unternehmen orientiert sind. Das dürfte auch bei allem "guten Willen" der Beteiligten schwer zu durchbrechen sein, da eine wirkliche Genesung vom Suchtprozess die "Gefahr" impliziert, dass zentrale Begriffe der Suchtgesellschaft wie Profit, Macht und Konkurrenz in Frage gestellt werden.

 

Anmerkungen

1) An anderer Stelle habe ich Thesen zum Zusammenhang der Begriffe Sucht und Kapital diskutiert (Heide 2000a).

2) frei nach Anne Wilson Schaef 1998, 183.

3) Vgl. dazu auch die Arbeiten von Voigtel, der für die Drogenabhängigkeit die Begriffe Berechenbarkeit, Verlässlichkeit, Verfügbarkeit der jeweiligen Droge ins Zentrum stellt (Voigtel 1996 - nach einem Hinweis von Subkowski 2000, 261). Das sind Aspekte der Machbarkeit und der Kontrolle, die letztlich auf etwas zu Leistendes hinauslaufen.

4) Ein paar Anmerkungen finden sich in Heide 2000b; sehr detaillierte Analysen der sozialen Umwälzungen finden sich beispielsweise bei Kumazawa 1996 und Halliday 1975.

5) Dass dieser Zusammenhang so spezifisch japanisch nun doch wieder nicht ist, kann man bei Schaef/Fassel nachlesen (Schaef/Fassel 1994, 109 ff).

6) Diesen Hinweis verdanke ich Professor Keita Takeda, Aichi Universität, Toyohashi.

7) Vgl. das Interview mit dem Betriebsratsvorsitzenden Glißmann über das Beispiel von IBM, Düsseldorf (Glißmann 2000b).

8) Ebenda.

Literaturhinweise

Fassel, Diane (1994):

Wir arbeiten uns noch zu Tode. Die vielen Gesichter der Arbeitssucht. München.

Ferenczi, Sándor (1933):

Sprachverwirrung zwischen dem Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft. In: Schriften zur Psychoanalyse. Bd. 2.

Fucini, Joseph, and Fucini, Suzy (1993):

Arbeiten für die Japaner : ein Blick hinter die Kulissen der Mazda US-Autofabrik. Landsberg/Lech.

Glißmann, Wilfried (2000):

Ökonomisierung der "Ressource Ich" – Die Instrumentalisierung des Denkens in der neuen Arbeitsorganisation. In: Denkanstösse. IG Metaller in der IBM. Mai 2000.

Halliday, Jon (1975):

A Political History of Japanese Capitalism. New York and London.

Heide, Holger (2000 a):

Zur Bedeutung der Subjektivität für die südkoreanische Produktionsweise. In: Derselbe (Hg): Südkorea – Bewegung in der Krise. Bremen. (Atlantik).

Heide, Holger (2000b):

Some observations on the so-called "creative destruction in the development of Japanese capitalism. In:East Asia and the Illusion of Inexhaustability – Two notes. Arbeitspapiere zur sozialökonomischen Ost-Asien-Forschung. No 8. SEARI. Universität Bremen.

Heide, Holger (1999a):

Gedanken über Solidarität. In: Gedanken über Menschenrechte und Solidarität. Arbeitspapiere zur sozialökonomischen Ost-Asien-Forschung. No .7. SEARI. Universität Bremen.

Heide, Holger (1999b):

Arbeitssucht – Skizze der theoretischen Grundlagen für eine vergleichende empirische Untersuchung. Beiträge zur sozialökonomischen Handlungsforschung. Nr. 2. SEARI. Universität Bremen. Text auch herunterladbar von der website des SEARI:

http://www.seari.uni-bremen.de.

Heide, Holger (1997):

The Creation of Individual and Collective Strategies of Survival as a Precondition for Capitalist Development. The Example of South Korea. In: Proceedings of the 5th Int’l Conference on Korean Studies. Osaka. Text auch herunterladbar von der website des SEARI: http://www.seari.uni-bremen.de.

Herman, Judith Lewis (1993):

Die Narben der Gewalt. München.

Kumazawa, Makoto (1996):

Portraits of the Japanese Workplace. Labor Movements, Workers, and Managers. Boulder, CO.

Mentzel, Gerhard (1979):

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