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Call Center und Traumabewältigung

 

Bereits kurz nach den Anschlägen auf das WTC und das Pentagon schalteten Fluggesellschaften und Administrationen Hotlines für Angehörige.

Ob der 11. September 2001 alles geändert hat, wie unaufhörlich kolportiert wird (und man damit allen möglichen in Krisenzeiten aufblühenden Entscheidern die Mittel in die Hand gibt, ihrerseits ohne größere öffentliche Debatte alles zu ändern) sei dahingestellt – er hat mit Sicherheit viele in der Call Center-Telefonie beschäftigte Agents unvorhergesehen vor schwer zu bewältigende Aufgaben gestellt.

Traumabehandlung am Telefon ist kein neues Thema. Bei Katastrophen wie etwa dem Zugunglück in Eschede, bei Flugzeugabstürzen, beim Erdbeben in der Türkei vor 2 Jahren und bei vielen anderen Ereignissen, die wenig oder keine Zeit zur Vorbereitung auf den akuten Bedarf an professioneller Telefonie ließen, wurden Hotlines geschaltet.

Doch während medienwirksam der physische Einsatz von Personal vor Ort bei Krisen und Katastrophen zugleich als "heroisch" hervorgehoben und die psychologische Betreuung von Feuerwehrleuten, Sanitätern, Ärzten, Polizisten und Soldaten eingehend thematisiert wurde, wurde bislang der spezifischen Situation und den Belastungen von in der Telekommunikation tätigen Organisationen und den in ihr Tätigen keinerlei Aufmerksamkeit gewidmet. Das Thema "Umgang mit emotion labour" führte lange schon im Zusammenhang der "gewöhnlichen" Call Center-Telefonie ein Schattendasein. Die Unterschätzung der psychischen Belastungen, die aus der standardisierten Call Center-Telefonie für die Agents entstehen, war lange notorisch und wird immer noch unterschätzt, weil sich alle sogenannten Sachkundigen – vom Call Center-Management bis zu Arbeitsschützern – auf die Auffassung eingelassen haben, Dialoge in der Telekommunikation seien so etwas wie ein industrielles Produkt. Jeder Kommunikationswissenschaftler weiß, dass zum einen jeder Dialog ein "Produkt" zweier Akteure ist, die zur Gestaltung des Dialogs beitragen und das insofern die Auffassung, die Kommunikation werde im Call Center `hergestellt´ schon deshalb irrig ist, weil es ja zumeist der Anrufer ist, von dem die Initiative für den Dialog ausgeht. Er weiß zudem, daß sich jeder Dialog auf der Sach- und der Beziehungsebene abspielt.

Daher resultiert ja die besondere Belastung der Telefonie für die Agenten, die pro Tag auf hunderte verschiedene Bedürfnisse hunderter verschiedener Personen in unterschiedlichen sozialen und psychologischen Situationen adäquat reagieren sollen – ohne die Möglichkeit, sich ein klares Bild vom für sie gesichtslosen Gegenüber in der Finsternis des Ferngesprächs zu machen; dies obendrein noch unter Akkordbedingungen und in einem Arbeitsumfeld, das gerne deswegen als behindertenfreundlich deklariert wird, weil die Call Center-Arbeit ohnehin schon die Agents behindert: unterhalb der Hüfte sind sie sozusagen nicht existent, der Dialog mit Kollegen ist unterbunden, weil die Schnittstellen zur Technik Augen, Ohren, Mund und Hände ergo den gesamten kognitiven und manuellen Apparat für sich beanspruchen und weil die strikt militärisch-hierarchische Arbeitsorganisation den Agents jeden Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum nimmt, was im krassen Kontrast zu den hohen psychologischen und strategischen Anforderungen steht, die jeder Dialog an sie stellt.

Sind also schon Arbeitsorganisation und Arbeitsumfeld in Call Centern `im Normalzustand´ nicht nur völlig ungeeignet für die Entfaltung vielfältiger sozialer, kultureller, psychologischer und thematischer Kompetenzen, die der Dialog mit einem ebenso vielfältigen Spektrum an Partnern des Dialogs fordert, sondern der Entfaltung und Einübung derartiger Kompetenzen sogar hinderlich, weil sie jede innerbetriebliche Möglichkeit des Dialogs und Austausches, ergo jede Betriebskultur völlig unterbinden, so müssen sie im Falle der Call Center-Telefonie mit traumatisierten und schockierten Partnern des Dialogs geradezu sträflich gesundheitsgefährdend sein. Den Agents, die beispielsweise kurz nach den Ereignissen in den USA zur Telefonie abkommandiert wurden, wird wohl kaum besondere Betreuung zu teil geworden sein. Ist schon die logistische Bewältigung eines sprunghaften Anstiegs von Anrufen eine schwer lösbare Aufgabe, so wird man wohl kaum das eingesetzte Personal in Unternehmen und Verwaltungen präventiv auf derartige Belastungen und Aufgaben vorbereitet haben – schließlich muß es ja `nur´ telefonieren.

In der Presse wurde vor kurzem darauf hingewiesen, daß im Anschluß an die New Yorker Terroranschläge Telefonseelsorger schon rein quantitativ die Flut der eingehenden Telefonate nicht bewältigen konnten. Es ist fraglich, ob sie dies psychisch, emotional und kommunikationsstrategisch vermochten. Nun handelt es sich bei der Telefonseelsorge – meines Wissens – um eine ehrenamtliche Tätigkeit, die ausgeübt wird zumindest in dem Bewusstsein und Wissen, sich freiwillig genau für diese Art der Kommunikation zur Verfügung gestellt zu haben. Die Frage sei hier offen gelassen, ob Schulungen, Trainings und stützende Betreuung in der "ehrenamtlichen Telefonie" hinreichend sind, um einerseits den Anrufern zu helfen (und ihre psychische Situation durch inadäquate Reaktionen nicht noch zu verschlimmern) und um andererseits einer Übertragung der Traumata auf die TelefonistInnen vorzubeugen.

Im Falle der umgehend geschalteten Hot-Lines bei Fluggesellschaften, Reiseveranstaltern und Administrationen ist kaum davon auszugehen, daß hier rechtzeitig adäquate, kostenspielige und zeitraubende Präventionsmaßnahmen gegen den psychischen Verschleiß der Helfer am Telefon ergriffen wurden oder überhaupt jemals in Erwägung gezogen wurden. Wären präventive Maßnahmen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes mit Fokus auf die psychischen Belastungen (die im Umgang mit dem psychologisch gehaltvollen `Werkstoff Dialog´ unvermeidlich sind) ohnehin gefordert, so müssten sie in Hinsicht auf den erhöhten Bedarf an Dialogen auf Distanz im Krisen – und Katastrophenfall absolut verpflichtend durchgeführt werden.

Dies ist jetzt umso dringlicher, denn es ist ja nicht getan mit dem "Abfackeln" der Telefonate in der akuten Krisen- und Katastrophen-Situation, sondern auch im Nachfeld kommen auf involvierte Unternehmen und Organisationen und deren Agenten Dialoge zu, die weit mehr auf der Beziehungs- als auf der Sachebene geführt werden müssen. Die Anschläge in New York haben viele Horrorszenarien auf den Plan gerufen, die weit über den Kreis der direkt betroffenen Angehörigen hinaus einen erhöhten Bedarf an telefonischer Kommunikation im Sinne von Traumabewältigung erzeugen; unsere Gesellschaft ist aufgrund der erhöhten Mobilität und Dynamik der sozialen Kontexte zugleich eine Gesellschaft der Dialoge auf Distanz und eine Gesellschaft der Erosion geographischer und personaler Verbindlichkeit geworden. Umso wichtiger wird die Beziehungsebene der Telekommunikation. Hier kommt nicht nur auf Call Center bestimmter Branchen und Profession einiges zu, sondern auf den gesamten Bereich der erwerbsmäßigen und professionellen Dialoge am Telefon. Kriegsängste, existenzielle Verunsicherung, ökonomische Ängste werden mit jeder weiteren Eskalation der Ereignisse und obendrein bei dem hohen Maß an Desinformation in Zeiten der Propaganda sich nicht aus den Call Center-Dialogen ausklammern lassen. Agents sind davon doppelt betroffen: einerseits sind sie wie jeder andere ohnehin schon diesen Ängsten ausgesetzt, andererseits sollen sie die Ängste der Anrufer kompensieren können.

Die zweite, lautlose Explosion nach der Detonation der Boeings in den USA fand- als medialer Fallout der Massenübertragung in den diversen Programmen der magischen Kanäle – in den Köpfen der Menschen statt. Dies wird Auswirkungen auf die Anforderungen an die Telekommunikation und die in ihnen agierenden Erwerbstätigen haben. Es sind ja nicht nur die Ängste vor Terroranschlägen, sondern zu vergegenwärtigen sind wirtschaftliche und politische Friktionen mit kontrovers diskutierten Folgen. Bleibt noch Raum für Bürgerrechtsbewegungen oder kommen nur noch Bürger-Rechts!-Bewegungen? Feiert Schill ein erfolgreiches Schill in auch in anderen Bundesländern oder überholt Schily con carne ihn rechts? Was passiert wenn das Tony-Blair-Witch-Projekt Anschläge auf atomare Wiederaufbearbeitungsanlagen in unseren Breiten provoziert? Wieviele Arbeitsplätze wird eine "lange Auseinandersetzung" kosten, auf die wir uns einrichten sollen und die damit auch auf unabsehbare Zeit alle möglichen `Sondermaßnahmen´ zur Stabilisierung der `inneren Sicherheit´ legitimiert? Dies alles sind Fragen, mit denen Call Center-Agents konfrontiert werden und da ist Empathie und nicht Distanz gefordert, sowie die Authentizität des Dialogs und nicht der eine Oktave zu hohe Call Center-Singsang als Ausdruck einer corporate identity, die Individualität unter Strafe stellt, angemessen ist das Sprechen der Agents mit ihrer eigenen Stimme, in ihrer eigenen Sprache statt das unsäglich formelhafte "Was kann ich für sie tun?" von erzwungenen U-Bahn-Haltestellen-Ansage-Stimmen.

Abgesehen von derartigen Themen stellen akute Krisen- und Katastrophenszenarien obendrein hohe Anforderungen an fachliche Kompetenzen, Reaktionsschnelligkeit, Präzision bei situativ bedingter kurzer Schulungszeit. Der alte Slogan: " Ein Telefon kann Leben retten" wird von der Kann- gegebenenfalls zur Sollbestimmung der arbeitsvertraglichen Pflichten der Agents. Dies alles weiterhin in Arbeitsorganisationen, in denen die Agents das Letzte vom Letzten sind und alles zu verantworten haben sollen gegen das geringste Maß an Löhnen und sogenannter "recognition"?

Wenn der 11. 09. 2001 alles geändert haben sollte, dann ist es auch an der Zeit, an den Arbeitsbedingungen in der Call Center-Telefonie vieles zu ändern. Präventiver Atem- und Gesundheitsschutz mit besonderem Fokus auf die psychische Prävention und Betreuung ist gefordert mehr denn je. Damit die Agents die gleichwohl nicht zu eliminierenden Belastungen kompensieren und verarbeiten können, muß der interne Dialog gefördert, statt behindert werden. Ohne Kultur in den Call Centern keine Call Center-Kultur als Milieu des Dialogs und Austauschs der Experten des Dialogs – der Agents – über die eindringlichen Erfahrungen aus den Dialogen. Völlig fehl am Platze sind starre Betriebsorganisationen die nach dem Muster "Befehl/Gehorsam" aufgebaut sind und den eigentlichen Entscheidern, den Agents, die im Dialog mit den Anrufern möglicherweise ihren Teil dazu beitragen können, dass Traumata abgeschwächt werden, die Zeit- und Gesprächshoheit über den Dialog hochnäsig, arrogant und ignorant abspricht. Man sollte sogar noch einen Schritt weiter gehen und gerade in Hinsicht auf psychologisch zugespitzte Situationen des Gespräches den Call Center-Agenten, die bereits die standardisierten Gesprächsfloskeln und –strategien assimiliert haben, welche man ihnen in den innerbetrieblichen Schulungen oder IHK-Maßnahmen eingebläut hat, Desensibilisierungsmaßnahmen konzipieren, die den Agents ihre authentische Sprache wieder zurückgeben – im Interesse nicht nur der Anrufer in zukünftigen Krisen- und Katastrophensituationen, sondern generell aller Beteiligten des Call Center-Dialogs.

Hier sind nicht nur Betriebe (und deren Berater) gefordert, den inhärenten Zynismus abzubauen, der von den Agents vor allen Dingen das standardisierte Abarbeiten von Kundenanrufen verlangt, das (nicht nur) in Situationen individueller und allgemeiner Traumatisierung unangebracht und menschenverachtend ist, hier sind auch betriebliche und außerbetriebliche Interessenvertretungen gefordert. An ihnen ist es, das Thema Prävention mit Fokussierung auf Trauma- und Krisenmanagement am Telefon in den Call Center-Betrieben zu forcieren und es in Zusammenhängen mit notwendigen Änderungen der Arbeitsorganisation und der Arbeitsbedingungen zu behandeln. Wenn im Interesse der Anrufer und der Beschäftigten verhindert werden soll, daß Traumabehandlung in der Telefonie in schlimmster Call Center-Tradition nur zum stereotypen Abwimmeln von Anliegen und zur Traumaübertragung von Anrufer auf Telefonist gerät, dann ist nichts so verfehlt wie eine einseitige Fixierung auf den reinen Erhalt von Arbeitsplätzen zu Bedingungen, die gerade in Krisen- und Katastrophensituationen einseitig von der Wirtschaft definiert werden, welche unter Verweis auf ihren eigenen Schaden aus Katastrophen und Krisen drohende Massenentlassungen gegen die Interessen der Erwerbstätigen ausspielt und so zum Krisengewinnler werden möchte.

Jeder ist in gewissem Maße ein Call Center-Agent, weil es zumindest in den sogenannten "zivilisierten Ländern" kaum noch einen Menschen gibt, der nicht auf effektives Telefonieren angewiesen ist. Egal wer – Unternehmer, Politiker, Gewerkschaftler – alle sollten sich überlegen, daß sie gegebenenfalls emotional und faktisch bei unvorhersehbaren Ereignissen mit unvorhersehbaren Folgen auf Call Center-Agents angewiesen sein werden, die der enormen Verantwortung des Dialogs in Traumasituationen gewachsen sind. Das kann aber nur der Fall sein, wenn alles dafür getan wird, dass jeder Agent Bedingungen vorfindet, die es ihm ermöglichen, derartiger Verantwortung gewachsen zu sein.

Auch in Hinsicht auf den gewerkschaftlichen Einsatz von Call Centern sei dies betont: Günter Eich schrieb einmal: "Alles was geschieht, geht Dich an." Das dämmert auch den Mitgliedern durch den bunten Nebel der Spaßgesellschaft. Statt die verfehlten Call Center-Strategien der Wirtschaft zu kopieren, sollten gerade Call Center für die gewerkschaftlichen Mitglieder Zentralen eines Dialogs sein, der zu den Themen, die Menschen unter allgemein bedrohlichen Szenarien umtreiben und beschäftigten, etwas beizutragen hat. Laßt den Akteuren in euren Call Centern die Freiheit des Dialogs, statt auf die Differenzierung in "first und second level" zu bestehen, mit äußerst beschränkten Gestaltungsspielräumen für die Agents, die gefälligst nicht in gewerkschaftliche Kernkompetenzen eingreifen sollen. Das ist kleinlich: in Fragen derart existenzieller Natur wie "Krieg oder Frieden", "wohin mit ökonomisch bedingten Ängsten" oder einfach: "Was kann ich tun?" sollte jeder Akteur des Dialogs etwas dazu beitragen dürfen, daß diese Fragen wenn auch nicht einer Lösung, dann doch Antworten näher kommen, die hilfreich sind. Das ist nicht Kernkompetenz von Funktionären, sondern soziale Kompetenz, die es auch außerhalb der hauptamtlich gewerkschaftlichen und politischen Tätigkeit geben soll.

Wenn ein Mitglied und auch ein Nichtmitglied eine gewerkschaftliche (aber auch irgendeine andere) Hotline anruft, weil ihn existenzielle Fragen umtreiben, die eine Krisen- und Katastrophensituation in einer globalisierten Welt provoziert, in der alles jederzeit und überall zu geschehen droht, dann will er bestimmt nicht hören: "Augenblick bitte. Da verbinde ich sie an einen Kollegen weiter".

Hannes Oberlindober


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