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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Konflikte mit Konflikten bekämpfen Arbeiterunruhe und gewerkschaftliche Harmonie in Vietnam / Von Ingrid Artus* Zwischen 2005 und 2008 explodierte in Vietnam die Zahl der Streiks. Diese fanden ohne Ausnahme illegal statt, d.h. ohne Beteiligung der sozialistischen Einheitsgewerkschaft. Die wachsende Arbeiterunruhe erregt Besorgnis, Unwillen, teilweise auch deklamatorische Reformbereitschaft bei staatlichen und gewerkschaftlichen Funktionsträgern. Der folgende Beitrag gibt einen Überblick und eine Problemskizze zu den Arbeitsbedingungen und industriellen Beziehungen in Vietnam. Die Frage nach der Autonomie von Arbeitskämpfen ist nicht nur im Vergleich mit China, sondern auch im Lichte der DDR-Erfahrungen interessant. Vietnam nennt sich selbst eine »Marktwirtschaft mit sozialistischer Orientierung«. Das Label des »Sozialismus«, an dem deklamatorisch festgehalten wird, ist auch ein Tribut an das Erbe Ho Chi Minhs, dessen Geist in Form zigtausendfacher Büsten und Bilder im ganzen Land rituell beschworen wird. Die regierende kommunistische Einheitspartei nutzt ihre Kontinuität zum Heroen des vietnamesischen Befreiungskrieges nach wie vor als wichtige Legitimationsquelle für ihre Macht. Diese ist im Übrigen alles andere als umstritten in dem südostasiatischen Land, das seit dem Beginn der »Doi Moi« genannten Erneuerungspolitik Mitte der 80er Jahre einen rasanten wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Die Zeit der hungernden »Boat People« ist ebenso vorbei wie jene der kommunistischen Experimente mit Agrarkooperativen und einer kollektivierten Landwirtschaft. Diese sind allenfalls noch im kollektiven Gedächtnis erhalten, als negative Abgrenzungsfolie zum besseren Heute sowie als Gegenstand von Witzen, wie sie auch aus der ehemaligen DDR bekannt sind: Etwa der Geschichte vom Ochsen, der trotz Schlägen und Überredungsversuchen keinen Schritt mehr weiter gehen will – aber als man ihm androht, man werde ihn einer Genossenschaft zuteilen, nimmt er seine Kräfte zusammen und sucht sofort das Weite. »Doi moi«, die wirtschaftliche Erneuerungspolitik der Regierung, bestand seit Mitte der 80er Jahre – etwas salopp gesagt – vor allem darin, dass man die Versuche einer kommunistischen Umgestaltung der Wirtschaft weitgehend einstellte und insbesondere die Landbevölkerung wieder den Boden bewirtschaften ließ, wie sie es zuvor gewöhnt war, nämlich in erster Linie im Rahmen von Subsistenzwirtschaft und privatem Kleinbauerntum. Inzwischen leidet in dem fruchtbaren Land niemand mehr Hunger, und das Bruttoinlandsprodukt wächst rasant. Berühmt ist Vietnam auch für seine weltweit nahezu einzigartige Reduzierung der Armut. Seit 1993 sank der Armutsindex Vietnams von 58 Prozent auf aktuell unter 18 Prozent der Gesamtbevölkerung (World Development Report 2008). Die Grundversorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln ist gewährleistet, und Vietnam kann sogar Reis, Kaffee und so genanntes »Sea Food« in erheblichem Umfang exportieren. Dennoch ist Vietnam zweifellos noch immer ein Agrarland – auf dem Weg der Industrialisierung. Erste, zweite, dritte industrielle Revolution – gleichzeitig Die industrielle Entwicklung setzte in Vietnam mit zeitlicher Verspätung ein. Dies gilt insbesondere im Vergleich zu der ehemaligen Kolonialmacht Japan, aber auch zu den Nachbarstaaten Taiwan, Korea, Singapur und Hongkong, die bereits im Laufe der 60er und 70er Jahre die ersten industriellen Entwicklungsschritte gingen (vgl. Pohlmann 2002). Grund für die historische Verspätung Vietnams sind in erster Linie die massiven Zerstörungen während der andauernden Kriege (gegen China, Japan, Frankreich, die USA und Kambodscha), unter denen das Land zu leiden hatte. Diese wurden erst im Jahr 1979 endgültig beendet. Seitdem geht es voran, zunächst v.a. im Rahmen einer staatlich gelenkten Planwirtschaft und teilweise mit massiver Unterstützung sozialistischer Bruderländer. Seit Anfang der 90er Jahre ist jedoch auch Vietnam als Transformationsökonomie mit dualem Charakter zu bezeichnen: Etwa die Hälfte des Bruttosozialprodukts wird von staatlichen Unternehmen erwirtschaftet. Diese sind häufig eng untereinander sowie mit dem überwiegend staatlichen Bankensystem verflochten und bilden nach wie vor ein politisches Machtzentrum (vgl. Bergstermann/Neubert 2008). Privatisierte vietnamesische Betriebe und in jüngster Zeit auch so genannte »FDI-Unternehmen« (foreign direct investment) nehmen jedoch kontinuierlich an Bedeutung zu. Hauptinvestoren in vietnamesisches Industriekapital sind Korea, Taiwan, China sowie die USA. Schwerpunkte der Produktion liegen in der Erdöl- und Kohleindustrie, der Textil-, Bekleidungs- und Schuhindustrie, der keramischen Industrie sowie elektronischer Fertigungen. Neben mittelalterlich wirkenden, handwerklich geprägten Manufakturbetrieben schießen fordistische Massenfabriken und avancierte Firmen der Elektronikindustrie aus dem Boden. Die Integration Vietnams in den Weltmarkt erfolgte seit Anfang der 90er Jahre mit einer außerordentlichen Dynamik, die lediglich von der Asienkrise 1997 kurz unterbrochen wurde. Die Exporte wiesen seit 1990 eine jährliche Steigerung von über 20 Prozent auf. Im Januar 2007 trat Vietnam der WTO bei und musste daraufhin seine Einfuhrzölle stark reduzieren. Seitdem steigen die Importe noch stärker als die Exporte, was zu einem wachsenden Handelsbilanzdefizit führt. Die Struktur der Exporte zeigt, dass trotz der stürmischen Entwicklung das industrielle Entwicklungsniveau Vietnams nach wie vor niedrig ist: Sie bestehen vielfach aus Rohstoffen und einfachen landwirtschaftlichen Produkten. Nur 53 Prozent sind Industrieprodukte, und sechs Prozent lassen sich dem Sektor Hochtechnologie zurechnen (zum Vergleich China: 92 Prozent und 31 Prozent; vgl. World Development Report 2008). Sie stammen in erster Linie aus arbeitsintensiven Fertigungen mit geringem technischen Know-How. Das Job-Walk-System Ein typisches Beispiel vietnamesischer Industrieproduktion findet sich im Textilbetrieb »29. März« in Danang, einer Millionenstadt im Zentrum Vietnams. Der Betrieb wurde genau ein Jahr nach der Befreiung Danangs am 29. März 1976 gegründet und produzierte zunächst als halbstaatlicher Betrieb Handtücher. 1978 wurde er verstaatlicht, vor wenigen Jahren schließlich wieder privatisiert. Hier wird nach dem sog. »job walk«-System gefertigt: Sämtliche Stoffe und Rohmaterialien werden aus dem Ausland angeliefert, v.a. aus China und Taiwan. Sie müssen nicht verzollt werden, da sie ja nur zur Zwischenverarbeitung nach Vietnam transportiert und gleich anschließend als fertige Ware wieder exportiert werden. Vietnam setzt in der globalen Wertschöpfungskette ausschließlich die ›rohe‹ Arbeitskraft zu. Im Betrieb ›29. März‹ stammt diese von über zweitausend meist weiblichen Beschäftigten, die nur selten älter als 25, maximal 30 Jahre alt sind. Sie produzieren zu 80 Prozent Waren für den Markt der USA, wo die gefertigten Hemden und Hosen v.a. in Discount-Supermarktketten vertrieben werden. Der vietnamesische Betrieb hat jedoch keinerlei direkte Handelskontakte nach Nordamerika, sondern ausschließlich zu (überwiegend chinesischen und taiwanesischen) Zwischenhändlern. Diese agieren praktisch als Großhändler für spezielle Produktsorten im asiatischen Raum und kooperieren häufig ihrerseits mit vietnamesischen Unterhändlern vor Ort, die die Auftragsabwicklung kontrollieren und managen. Die Firma »29. März« ist also eine Art Sub-Sub-Subunternehmen mit sehr geringen Profitmargen, äußerst niedriger Fertigungstiefe und marginaler Marktmacht. Erst nach vielen Jahren zuverlässiger Zusammenarbeit gelingt es manchen vietnamesischen Firmen, direkt Verträge mit Endabnehmern zu schließen. Der Wille und die Fähigkeit zu vielfältigen einseitigen Vorleistungen sind aber ohnehin eine grundlegende Markteintrittsbarriere. Im Betrieb »29. März« ist man beispielsweise stolz auf einen vor kurzem erhaltenen Auftrag im Wert von 141 Millionen Dollar, der die betriebliche Zukunft für fünf Jahre sichern soll. Um ihn zu bekommen, hat man sechs Monate lang Muster produziert – umsonst, versteht sich. ArbeiterInnen in vietnamesischen Fabriken Die überwiegend handwerkliche, allenfalls teilautomatisierte Produktionsweise in vietnamesischen Fabriken entspricht durchaus dem Potential an Arbeitskräften, das das Land derzeit zu bieten hat. Zwar liegt die Alphabetisierungsrate inzwischen über 90 Prozent, und die weitaus meisten ArbeiterInnen können lesen und schreiben; sie haben im Rahmen des staatlichen Schulsystems eine Grundbildung von fünf Jahren oder mehr erhalten – das ist aber auch alles. Weiterführende Schulen sind in Vietnam (für ein »sozialistisches« Land ungewöhnlich) teuer, und vermitteln zudem nur beschränkte Qualifikationen. Ein formalisiertes Berufsbildungssystem ist kaum existent. Bekannt ist beispielsweise der Fall des Halbleiterkonzerns Intel, der in Vietnam einen großen Standort eröffnen wollte und dafür qualifiziertes technisches Personal suchte. An dem Bewerbungsverfahren nahmen mehrere Tausend Personen teil; nur 50 von ihnen bestanden den Einstellungstest. Laut Intel war dies das schlechteste Resultat, das man je in einem Land erlebt habe. Normalerweise sind jedoch solche Qualifikationen, wie Intel sie forderte, ohnehin nicht gefragt in Vietnam. Ein, zwei, im Extremfall vier bis sechs Monate Einarbeitungszeit und »training on the job« sind die Regel. Die älteren ArbeiterInnen vermitteln ihre Erfahrungen und Kenntnisse an die jüngeren. Ein Großteil der Industriebeschäftigten sind LohnarbeiterInnen der ersten Generation, d.h. sie kommen direkt vom Land in die Städte und Industriezonen, angelockt von den vermeintlich hohen Löhnen. Wenn sich im Rahmen bäuerlicher Subsistenzwirtschaft oder als LandarbeiterIn gerade mal etwa 200000 Dong (= ca. 8 Euro) pro Monat verdienen lassen, dann scheint der staatlich garantierte Mindestlohn in den Fabriken von etwa 800000 Dong bis 1200000 Dong vergleichsweise attraktiv. [1] Angesichts der extrem differierenden Lebenshaltungskosten zwischen Stadt und Land garantieren diese vermeintlich ›hohen‹ Löhne allerdings noch nicht einmal das Existenzminimum in einem städtischen Umfeld. Dies gilt insbesondere für die WanderarbeiterInnen, die nicht aus der Region stammen und gezwungen sind, eine Unterkunft zu mieten. Dies tun sie häufig gemeinsam mit anderen ArbeiterInnen für möglichst wenig Geld (etwa 250000 – 400000 Dong Mietanteil pro Monat). Der Wohnraum ist nicht selten so gering bemessen, dass nacheinander im Schichtbetrieb geschlafen wird. Ein Großteil der vietnamesischen Fabriken liegt zudem nicht direkt in städtischen Ballungszentren, sondern in neu geschaffenen Industriegebieten, die die vietnamesische Regierung massenhaft in allen 63 Provinzen aufgebaut hat, um ausländisches Kapital ins Land zu locken. Während die technische und steuerliche Infrastruktur für die Investoren bereitgestellt wurde, fehlt es an Wohnungen, Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, sozialen Einrichtungen und Freizeitmöglichkeiten. Letztere sind allerdings ohnehin sehr eingeschränkt aufgrund der extrem ausgedehnten Arbeitszeiten, die in vietnamesischen Fabriken üblich sind. Laut dem 1994 verabschiedeten und seit 2002 mehrfach reformierten Arbeitsgesetz »soll die normale Arbeitszeit acht Stunden pro Tag und 48 Stunden pro Woche nicht überschreiten« (Bo Luat Lao Dong 2007, Kap. VII, Section I). Die Zahl der Überstunden ist auf 200 pro Jahr beschränkt. In der Praxis sind die gesetzlichen Regelungen zur Arbeitszeit – wie auch zu vielen anderen Themen – weitgehend bedeutungslos. 400 bis 500 Überstunden pro Jahr sind die Regel, ebenso wie ein 12-Stunden-Tag und Sonntagsarbeit. Theoretisch müssten Überstunden und Sonntags- sowie Feiertagsarbeit mit Zuschlägen vergütet werden. Auch dies ist in der Praxis selten der Fall. Angesichts der niedrigen Löhne sind die Überstunden für die Arbeiter-Innen ein wichtiger Mehrverdienst, ohne den sie kaum überleben könnten. Sie machen häufig 20 bis 30 Prozent des Monatseinkommens aus (vgl. By Quynh Chi Do 2008). Die auf absolute Mehrwertproduktion ausgerichteten Verwertungsstrategien der Unternehmen treffen sich also mit dem Interesse vieler LohnarbeiterInnen an einem möglichst hohen Verdienst in möglichst kurzer Zeit. Auf längere Zeit ist eine solche Lebenssituation freilich kaum auszuhalten. [2] Die Fluktuation in den Industriebetrieben ist extrem hoch oder, wie es der Verantwortliche einer großen Industriezone ausdrückte: »Die Bindung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern ist sehr lose«. Pro Jahr verlassen etwa 40 bis 60 Prozent der Beschäftigten ihren Arbeitsplatz. Insbesondere nach dem TET-Fest, dem traditionellen vietnamesischen Neujahrsfest, kehren viele Beschäftigte nicht von ihren Familien zurück. Sie holen sich nicht einmal mehr ihre Sozialversicherungsausweise ab, die daher stapelweise in den Personalbüros liegen bleiben. [3] Sie bleiben einfach weg, weil es ihnen reicht oder weil sie andernorts einen besseren Arbeitsplatz gefunden haben. Absentismus und Fluktuation sind bekanntlich eine Form des Protests – kollektive Arbeitsniederlegungen und Streiks sind eine andere. Arbeiterunruhe in Vietnam Zwischen 1995 und 2002 lag die Zahl der Streiks in Vietnam relativ konstant zwischen 60 und 90 Arbeitsniederlegungen jährlich. 2003 gab es ein erstes »Zwischenhoch« von 113 Streiks. Seit 2005 ist die Zahl der Arbeitskämpfe regelrecht explodiert und erreichte im Jahr 2008 den Spitzenwert von 700 Streiks (vgl. By Quyn Chi Do 2008, Le Thanh Sang et al. 2009). Sie dauern manchmal nur einige Stunden, im Schnitt jedoch ein bis zwei Tage, wobei sich die Dauer der Arbeitskämpfe tendenziell verlängert hat – auch dies ein Anzeichen dafür, dass die Auseinandersetzungen härter werden. »Die Spannung steigt, vor allem in den FDI-Betrieben«, meint etwa der Soziologe Le Thanh Sang, der die Streiks in der Vergangenheit im Rahmen einer Studie für die ILO (International Labour Organization) untersucht hat. Nur 4,7 Prozent der industriellen Konflikte zwischen 1995 und 2007 betrafen Staatsbetriebe, 26,1 Prozent fanden in privatisierten vietnamesischen Unternehmen statt, 69,2 Prozent in FDI-Betrieben (By Quyn Chi Do 2008, S. 3). Zentren der Streikaktivitäten sind die drei südöstlichen Industriezonen Ho Chi Minh City, Bien Hoa und Binh Duong, in denen allein 40 Prozent aller vietnamesischen IndustriearbeiterInnen beschäftigt sind. Nicht nur die Zahl und Dauer, auch die Inhalte und Forderungen der Arbeitskonflikte haben sich in den letzten Jahren deutlich verändert: Ehemals waren besonders massive Rechtsbrüche der Unternehmer die häufigste Ursache, z.B. das Nicht-Zahlen von Löhnen, unzumutbar harte Arbeitsbedingungen oder entwürdigende Behandlungen und Strafmaßnahmen durch Vorgesetzte: ArbeiterInnen wurden mit Schuhen geschlagen oder mussten in der heißen Tropensonne stehen. Insbesondere taiwanesische Unternehmer sind nach wie vor als ›Leuteschinder‹ verschrien, was den Protesten nicht selten auch eine gewisse rassistische bzw. nationalistische Note gibt. Die jüngste Streikwelle bestand hingegen weniger aus solchen Aktionen der Selbstverteidigung und Gegenwehr, sondern es waren meist offensive Aktionen mit dem Ziel materieller Verbesserungen. Hintergrund war jedoch auch eine anhaltend hohe Inflationsrate. Im Jahr 2008 erreichte diese – vermutlich u.a. aufgrund von Finanzspekulationen auf dem globalen Lebensmittelmarkt – einen Rekordwert von über 25 Prozent. Während die Preise stiegen und sich für manche Lebensmittel sogar verdoppelten, wurden die staatlichen Mindestlöhne nicht erhöht. Hilfe durch Selbsthilfe lag in dieser Situation für die vietnamesischen ArbeiterInnen offenbar nahe. Die weltweite Wirtschaftskrise hat die Streiks seit Herbst 2008 vorübergehend beendet. Auch in Vietnam brach die Auftragslage insbesondere im Exportbereich ein, und manche Betriebe mussten Konkurs anmelden – manchmal ohne noch die ausstehenden Löhne zu zahlen. Allerdings war das Krisenszenario weniger dramatisch als von vielen befürchtet, was wohl teilweise auf die noch immer begrenzte Weltmarktintegration Vietnams und den unterentwickelten Finanzsektor zurückzuführen ist; teilweise auch auf ein effizientes staatliches Krisenmanagement. [4] Für das Jahr 2009 wird insgesamt mit einem Wirtschaftswachstum von 3 bis 4 Prozent gerechnet, und im Sommer 2009 zeichnete sich in einigen Industriezonen Vietnams bereits wieder ein deutlicher Arbeitskräftemangel ab. Sobald dieser spürbar wird, werden wohl auch die industriellen Konflikte wieder zunehmen. Wildcat Strikes Alle 700 Streiks des Jahres 2008 waren – ebenso wie alle vorangegangenen – vom Standpunkt des vietnamesischen Arbeitsrechts aus illegal. »Keiner der Streiks in den letzten 13 Jahren wurde von den offiziellen Gewerkschaften organisiert« (By Quyn Chi Do 2008, S.1). Zwar gibt es ein Streikrecht in Vietnam, allerdings darf der Allgemeine Bund der Werktätigen (ABW) erst nach einem komplizierten dreistufigen Schlichtungsverfahren letztendlich zum Streik aufrufen – ein Verfahren, das offenbar kaum praxisgerecht ist. Jedenfalls wurde es noch nie angewandt. Die Meinungen darüber, warum dies so ist, sind geteilt. Gewöhnlich wird darauf verwiesen, dass die illegalen Streiks vor allem dort ausbrechen, wo die staatlichen Gewerkschaften besonders schwach sind, nämlich in den FDI-Betrieben. Gesetzlich wäre die Gründung einer Gewerkschaftseinheit nach sechs Monaten betrieblicher Existenz eigentlich verpflichtend, aber auch bei diesem Thema klaffen Gesetz und Realität weit auseinander. Während die staatlichen Unternehmen und auch die privatisierten ehemaligen Staatsbetriebe gewöhnlich gewerkschaftlich organisiert sind, vermeiden viele ausländische Unternehmer die Gründung einer Gewerkschaftsorganisation, solange es geht – und es geht lange. In jüngster Zeit habe man jedoch erhebliche Fortschritte in dieser Hinsicht zu verzeichnen, berichtet etwa die Vorsitzende des ABW in Danang. Gerade im Zuge der jüngsten Streikwelle hätten viele Unternehmer gemerkt, dass die Gewerkschaften als Friedensstifter und Ordnungsmacht durchaus nützlich sein könnten. Und da scheint etwas Wahres dran zu sein. Tatsächlich wird im Regelfall der zuständige gewerkschaftliche Provinzsekretär gerufen, wenn eine Belegschaft sich vor dem Fabriktor statt in den Arbeitshallen versammelt hat und deutlich macht, dass sie dort bleiben will, bis ihre Forderungen erfüllt sind. Die Streiks seien »spontan«, wird von offizieller Seite immer wieder versichert, und die Streikenden werden häufig als »ungebildet« dargestellt. »Sie kommen direkt vom Land, und oft ist es gar nicht so einfach, mit ihnen zu reden«. In den Schilderungen der ABW-Funktionäre schwingt häufig ein Subtext mit, der die aufmüpfigen ArbeiterInnen als asoziale Elemente charakterisiert, die im Grunde »nicht wissen, was sie tun.« Sie verursachen hohe volkswirtschaftliche Schäden, die bei etwas höherer Kompetenz und Vermittlungsbereitschaft gar nicht notwendig seien – so die implizite oder explizite Darstellung. Diese Einschätzung ist freilich nicht nur in machtpolitischer Hinsicht fraglich, sondern auch vor dem Hintergrund vereinzelter empirischer Studien, die zum Thema existieren. Viel realistischer ist die Annahme, dass die Beteiligten in sehr strategischer und rationaler Weise agieren und eine ausgesprochen entwickelte Fähigkeit zur effizienten kollektiven Organisierung besitzen – eine Fähigkeit, die in der vietnamesischen Geschichte ja einige Vorbilder besitzt. So ist etwa ein auffälliges Phänomen aller Streiks ihre offizielle Führungslosigkeit. Niemand tritt als AnführerIn auf, der/die Forderungen stellen könnte und der/die wegen dieser illegalen Aktivität strafrechtlich verfolgt werden könnte. Die empirischen Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass die Team Leader und unteren Vorgesetzten oft eine wichtige Rolle als StreikorganisatorInnen spielen. Dies sind ArbeiterInnen mit langjähriger Berufs- und zuweilen auch Streikerfahrung in anderen Betrieben. Die »Untergrundkoordinierung« (By Quynh Chi Do 2008, S. 7) erfolgt manchmal über Flugblätter, manchmal auch über anonyme Streikaufrufe an Toilettenwänden. Die häufig stark beengten und räumlich konzentrierten Wohnverhältnisse begünstigen die kollektive Handlungsfähigkeit ebenso wie eine sozial homogene Herkunft betrieblicher Belegschaftsteile. Man kennt sich, weil man aus demselben Dorf, derselben Region stammt. Die offizielle Führungslosigkeit der Streiks bedingt, dass die Forderungen der Belegschaften häufig über Umwege vermittelt werden, etwa durch schriftliche Stellungnahmen aller Beteiligten für den herbeigerufenen Gewerkschaftsvertreter. Dieser betätigt sich dann als Sprachrohr und Feuerlöscher, indem er oder sie einen Kompromiss vermittelt. Ob die Belegschaften gewillt sind, diesen anzunehmen, zeigt sich daran, ob sie wieder an die Arbeit gehen oder nicht. Ein Großteil der vergangenen Streiks war erfolgreich. Lohnerhöhungen, Verbesserungen bei der Verpflegung oder sonstige materielle Zugeständnisse waren ihr Ergebnis. Harmoniesucht, Korruption und ein bisschen Bewegung in der Gewerkschaft Im Grunde könnte man die illegalen Streiks als effizientes Mittel zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Werktätigen begrüßen; aber stattdessen macht man sich derzeit Sorgen in den Gewerkschaftsbüros zwischen Hanoi und Ho Chi Minh City. Schließlich ist der Allgemeine Bund der Werktätigen mit über sechs Millionen Mitgliedern die zweitgrößte Massenorganisation des Landes. In realsozialistischer Tradition ist der ABW offiziell ein Teil des politischen Systems Vietnams und untersteht der Führung der Kommunistischen Partei. Seine Aufgabe ist nicht nur die Interessenvertretung der Werktätigen, sondern ihm obliegen auch wirtschaftslenkende und -fördernde Aufgaben, die Information und Bildung der Werktätigen sowie die Organisation vielfältiger sozialer und kultureller Aktivitäten. Der Organisationsgrad in den meisten Betrieben liegt bei 40 bis 60 Prozent. Der ABW ist also ein politisches Schwergewicht, das nicht nur über viel Einfluss, sondern auch über umfangreiche Geldmengen verfügt. Diese stammen nur zu einem kleinen Teil aus Mitgliedsbeiträgen, zum größeren Teil aus jenen zwei Prozent der Lohnsumme, die zumindest in den staatlichen Unternehmen an die betriebliche Gewerkschaftsorganisation gezahlt werden. Die »spontane« Streikwelle stellt die Reputation und Vertretungsmacht der staatlichen Einheitsgewerkschaft öffentlich und wiederholt in Frage. Es wird allzu deutlich, dass sie die Geschehnisse in den Betrieben nicht in der Hand hat – zumindest nicht in allen Betrieben. Im Staatssektor scheint die Welt ja noch in Ordnung. Jene fünf Prozent der Streiks, die staatliche Betriebe betreffen, sind offenbar Ausnahmefälle. Aber wie erklärt sich die Abwesenheit des ABWs in den übrigen Fällen? Auf gewerkschaftlichen Veranstaltungen wird gewöhnlich damit argumentiert, dass der ABW dort entweder nicht präsent sei oder die Vertreter vor Ort zu wenig geschult und unprofessionell seien. Eine Qualifizierungsoffensive und ein bisschen mehr Durchgriffsrechte ›von oben‹ könnten das Problem also vielleicht aus der Welt schaffen, so hofft man. Aus dem Mund interviewter ArbeiterInnen klingt das jedoch ganz anders. Es wird deutlich, dass ein zentrales Problem in der mangelhaften Basisverankerung des ABW sowie einer gewissen Ignoranz gegenüber Interessenwidersprüchen im Kapitalismus liegt. Danach gefragt, weshalb man sich mit den Beschwerden nicht an den betrieblichen Gewerkschaftsvertreter wende, antwortet ein Arbeiter: »Machst Du Witze? Der Gewerkschaftsvorsitzende ist ein Manager. Wenn ich den Mund aufmache, bin ich am nächsten Tag draußen. Und weißt Du, wer meine Entlassung unterschreiben würde? Der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft, der zugleich der Personalleiter ist« (By Quynh Chi Do 2008, S. 5). Die Praxis, wonach betriebliche Manager auch die betriebliche Gewerkschaftsorganisation managen, ist in Vietnam weit verbreitet. Insbesondere die Personalleiter bekleiden häufig einen herausgehobenen gewerkschaftlichen Posten – weil das doch praktisch sei, so lautet das Argument. Schließlich kenne der Personalleiter doch alle Beschäftigten und wisse daher am Besten, wer z.B. für einen gewerkschaftlichen Posten geeignet sei. Bei der Aufstellung der Listen für die gewerkschaftlichen Wahlämter bespricht sich der regionale Gewerkschaftsvorsitzende daher gewöhnlich mit dem betrieblichen Kaderleiter. So absurd ein solches Verfahren für konfliktgewohnte Gewerkschaftsfunktionäre in westlichen Industrieländern wirken mag, so einleuchtend war und ist es teilweise im Rahmen einer sozialistischen Marktwirtschaft. In vielen Ostblockländern war dies gang und gäbe – mit den bekannten Paradoxien und Lähmungserscheinungen. Das spezielle Problem im Fall Vietnams ist allerdings: Es herrscht längst keine sozialistische Planwirtschaft mehr, sondern die Verhältnisse ähneln vielerorts eher frühkapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen. Dies ist zwar auch der politischen Klasse Vietnams nicht komplett verborgen geblieben, die neue Radikalität von Interessenwidersprüchen und gesellschaftlichen Konflikten wird bislang jedoch noch nicht in angemessener Weise erkannt und/oder anerkannt – sei es aus Unfähigkeit, sich vom eigenen realsozialistischen Erfahrungshintergrund zu lösen, sei es aus Trauer, sich von der schönen konfuzianischen Vorstellung einer harmonischen Gesellschaft zu verabschieden, sei es aus Bequemlichkeit, sich vom gepolsterten Verwaltungssessel zu erheben und auf eine anstrengende, konflikthafte Realität einzulassen, sei es aus Unwissen, weil man die betrieblichen Verhältnisse ohnehin nur noch von Ferne aus dem klimatisierten Dienstwagen wahrnimmt, sei es aus Berechnung, weil man meint, die frühkapitalistische Akkumulation sei ein notwendiges Durchgangsstadium, und man dürfe die wichtigen ausländischen Investoren nicht verschrecken, oder sei es aus Korruption, weil man persönlich davon profitiert, wenn man die Augen schließt. Alle diese Varianten sind in Vietnam verbreitet und häufig mehr oder weniger vermengt. Immerhin – so könnte man argumentieren – ist im ABW aktuell ein gewisses Krisenbewusstsein festzustellen, und schüchterne Reformdiskussionen finden statt: Im neuen Gewerkschaftsgesetz soll die Rolle des ABW als Interessenvertretung gestärkt werden, das offiziell vorgesehene Streikprocedere soll um eine Einigungsinstanz verkürzt werden, und die betrieblichen Gewerkschaftsvertreter sollen besser geschult werden. Ob die Organisierung und Durchführung von Streiks jedoch zum Schulungsprogramm gehören soll, darüber ist man sich bisher nicht recht einig, und keiner will dieses heiße Eisen wirklich anfassen. »Konflikte mit Konflikten zu bekämpfen« – das widerspricht jedenfalls der konfuzianischen Tradition, und was die kommunistische Partei dazu sagt, ist auch noch nicht klar. So werden die ArbeiterInnen in Zukunft weiterhin illegal streiken. * Ingrid Artus ist wissenschaftliche Angestellte an der Technischen Universität München und forscht u.a. über den Vergleich industrieller Beziehungen. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 9-10/09 Der vorliegende Beitrag stützt sich im Wesentlichen auf einen vierwöchigen Forschungsaufenthalt als »Expertin für industrielle Konflikte« für die Friedrich-Ebert-Stiftung im August 2009 in Vietnam. Im Rahmen von Vorträgen, Seminaren und Betriebsbesuchen hatte ich Gelegenheit, vielfältige Diskussionen mit vietnamesischen WissenschaftlerInnen, GewerkschafterInnen und PolitikerInnen zu führen. Viele meiner Einsichten habe ich zudem den interessanten und intensiven Diskussionen mit meinem ›Expertenkollegen‹ Wolfgang Däubler zu verdanken sowie dem Team der Friedrich-Ebert-Stiftung, insbesondere Jörg Bergstermann, André Edelhoff, Pham Tuan Phuc, Ngo Lan Anh und Philipp Lassig. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank. Literatur: Jörg Bergstermann/Axel Neubert (2008): »Vietnam – die ›Erneuerungspolitik‹ in ihrer bisher größten Belastungsprobe. Kurzberichte aus der internationalen Entwicklungszusammenarbeit Asien und Pazifik der Friedrich Ebert Stiftung«, Juli 2008 Bo Luat Lao Dong (2007): »The Labour Code of the socialist Republic of Vietnam (in two languages Vietnamese – English)« By Quynh Chi Do (2008): »The Challenge from Below: Wildcat Strikes and the Pressure for Union Reform in Vietnam«, www.warwick.ac.uk/fac/soc Le Thanh Sang/Huynh thi Ngoc Tuyet/Nguyen thi Minh Chau/Nguyen thi Lan Huong/Tran Minh Ut (2009): »Labor Relations and Labor Disputes, Strikes; Case studies at 3 Industrial/Export Processing Zones«, Southern Institute of sustainable Development (SISD)/Center for research & consulting for development (CRCD), Ho Chi Minh City, draft version Markus Pohlmann (2002): »Der Kapitalismus in Ostasien. Südkoreas und Taiwans Wege ins Zentrum der Weltwirtschaft«, Münster World Development Report (2008); http://econ.worldbank.org Amerkungen: 1) Zum Vergleich: Während in Vietnam der staatliche Mindestlohn etwa 40 Dollar beträgt, liegt dieser in China bei etwa 65 Dollar, in Indien und Indonesien bei etwa 70 Dollar, in Thailand bei etwa 75 Dollar. Vietnam ist also – per Dekret der kommunistischen Staatsregierung – ein ausgesprochenes Niedriglohnland. 2) Vgl. hierzu etwa das 2009 im Überreuter-Verlag erschienene Jugendbuch »Made in Vietnam« von Carolin Philipps, das die Arbeitsbedingungen weitgehend realitätsnah und sehr plastisch schildert. 3) In Vietnam gibt es seit 1991 ein staatliches Renten- und Krankenversicherungssystem, das jedoch nur die formal Beschäftigten erfasst (also nicht die Beschäftigten des informellen Sektors sowie das Gros der Landbevölkerung). Zum 1.1.2009 wurde auch eine Arbeitslosenversicherung neu eingeführt. Ein großes Problem ist jedoch die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge durch die Unternehmen, die häufig keine oder zu niedrige Zahlungen leisten. Die staatliche Bürokratie erweist sich in diesen Fällen als vergleichsweise ›zahnlos‹: Kontrollen sind selten und die fallweise eingeforderten Strafzahlungen in der Höhe beschränkt; häufig müssen die Unternehmen die nicht geleisteten Beiträge zudem nicht rückwirkend nachzahlen, so dass der Sozialversicherungsbetrug alles in allem »ein gutes Geschäft« ist. Dieses Sozialversicherungsdumping scheint von den staatlichen Stellen zumindest teilweise durchaus gewollt, sei es um ausländische Investoren anzulocken, sei es weil Korruption hier eine wichtige Rolle spielt. 4) Im Staatssektor produzierten viele Unternehmen einfach weiter – trotz durchaus unklarer Marktsituation und Auftragslage. Zudem wurde sehr unbürokratisch, d.h. ohne parlamentarische Absegnung, ab dem 1. Januar 2009 ein Konjunkturpaket aufgelegt, das u.a. den Erlass der Lohn- und Einkommenssteuer für alle Beschäftigten im ersten Halbjahr 2009, direkte Zahlungen an die ärmsten Bevölkerungsschichten sowie Kredite für Kleinunternehmer vorsah. |