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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Größter Stahlbetrieb Lateinamerikas verstaatlicht - abermals Gründung eines neuen Gewerkschaftsverbandes angekündigt: Beides von der Regierung? Die (Wieder-)Verstaatlichung des argentinisch-italienischen Stahlmulti-Tochterbetriebs SIDOR wurde und wird in Venezuelas progressiver Öffentlichkeit allgemein als großer Fortschritt bewertet, einerseits wegen der Bedeutung der langen Auseinandersetzung um einen neuen Tarifvertrag, andrerseits weil es ein weiterer Schritt in die von vielen linken geforderten Richtung ist, nachdem kurz zuvor angekündigt worden war, die Zementindustrie zu verstaatlichen, und der breiten Forderung nach Eingriffen in die Nahrungsindustrie zunehmend nachgegeben wird. Auf der anderen Seite gibt die Ankündigung von Seiten der bolivarianischen Arbeiterfront, eine neue Gewerkschaftszentrale zu gründen, weil die UNT nichts mehr darstelle, zu denken, wie es wohl mit unabhängigen Gewerkschaften in solchen verstaatlichten Betrieben (und der Gesellschaft) aussehen soll. Die aktuelle Materialsammlung "Verstaatlichte Betriebe - verstaatlichte Gewerkschaften?" vom 17. April 2008. Verstaatlichte Betriebe - verstaatlichte Gewerkschaften? Am 9. April gab Hugo Chavez im Namen der Regierung Venezuelas die Anweisung, das SIDOR-Stahlwerk in Guyana zu verstaatlichen. (Der erste Bericht dazu: "Nacionalizada la Siderúrgica del Orinoco SIDOR" von den Reporteros Comunitarios de Mérida vom 9. April 2008 bei aporrea) Die juristische Begründung war so einfach, wie die politische Auseinandersetzung kompliziert: Der Konzern weigerte sich, seinen Betrieb entsprechend den Gesetzen Venezuelas zu führen. Dieser Verstoß bestand konkret aus zwei Weigerungen: Den Gesetzen Venezuelas entspricht es nicht, wenn in einem Betrieb dauerhaft Beschäftigte von Subunternehmen arbeiten - und die Geschäftsleitung weigerte sich, den von der Belegschaft gewählten Arbeitsdirektor Elió Sayago zu akzeptieren, eben weil dieser ein erklärter Gegner der Arbeitsflexibilisierung ist. Die Auseinandersetzung über einen neuen Tarifvertrag, die sich über 15 Monate hinzog und in den letzten Wochen eskalierte ging aber, neben Lohnerhöhungen - auch für Betriebsrentner - gerade darum, dass die Gewerkschaft SUTISS (Sindicato Único de Trabajadores Siderúrgicos y sus Similares) das Ende des "Regimes der Zeitarbeit" forderte. Zuvor hatte die Stammbelegschaft in einer Urabstimmung alle Angebote der Geschäftsleitung rundweg abgelehnt: 3.338 gegen 65 Stimmen, bei nahezu kompletter Teilnahme wurde in "Los trabajadores de Sidor hablaron claro" am 4. April 2008 von CCURA/Prensa bei apporea berichtet. Dass diese Abstimmung bereits unter den Bedingungen stattfand, dass die Auseinandersetzung um SIDOR zu einer gesamtgesellschaftlichen Frage geworden war, zeigt die Solidaritätskonferenz bzw ihre Aktionsbeschlüsse, die rund 100 Einzelgewerkschaften aus ganz Venezuela Ende März organisierten: "Casi 100 sindicatos llamarán a paro nacional de solidaridad y movilización nacional con trabajadores de Ternium Sidor" von der Prensa Marea Socialista berichtet am 29. März 2008 davon. Die Konferenz war einberufen worden, nachdem Mitte März die Polizei gegen streikende Stahlarbeiter vorgegangen war. Ein großes Thema dieser Konferenz war - wie schon bei anderen Auseinandersetzungen, aber diesmal mit deutlichem verschärftem Ton - die Haltung des Arbeitsministers und des Provinzgouverneurs, die beide für den Polizeieinsatz ebenso verantwortlich gemacht wurden, wie die Geschäftsleitung. Die gemeinsame Abschlusserklärung dieser Konferenz unterstrich die Forderung nach Rücktritt des Arbeitsministers. Während diese Gewerkschaften, gemeinsam mit SUTISS und der gesamten Belegschaft die Maßnahmen der Regierung begrüßten - und dazu etwa am 13. April eine öffentliche Kundgebung organisierten - fand am selben Tag eine Pressekonferenz statt, in der ein Abgeordneter und der Arbeitsminister die Gründung einer neuen Gewerkschaftsföderation bekannt gaben, da die alte CTV nicht mehr existiere und die UNT die Arbeiter nicht wirklich vertreten würde: "Fuerza socialista crea central sindical" von Últimas Noticias am 14. April 2008 bei aporrea. Bei der Pressekonferenz von Oswaldo Vera, Abgeordneter der Asamblea Nacional und Koordinator der Fuerza Socialista Bolivariana de Trabajadores (FSBT) wurde nicht nur behauptet, es wären bereits die größten 17 Verbände der UNT zur neuen Föderation übergetreten, sondern der anwesende Arbeitsminister betonte auch, er sei gegen jegliche Arbeitsflexibilisierung, Zeitarbeiter müssten zu den Stammbelegschaften kommen - für viele Menschen eine überraschende Erklärung nach seiner bis dato Haltung im SIDOR-Konflikt (und anderen). Nahezu alle Koordinatoren der UNT antworteten sofort nach der Verbreitung dieser Nachricht mit statements, die die neue Zentrale als Spaltungsmanöver des Arbeitsministeriums und dessen Instrument FSBT kritisierten. Sehr konkret macht dies die UNT-Koordination des Bundesstaates Carabobo in dem Bericht der Strömungszeitung Marea Socialista "Dirigentes de Marea Socialista en Carabobo responden ante los ataques del Ministro Rivero a la UNT y opinan sobre la 'nueva central'" vom 14. April 2008 - dort wird die Nominierung von María Márquez als Leiterin der neuen Föderation im Bundesstaat als selbstentlarvend kritisiert, da diese durch ihre Haltung in den Auseinandersetzung um Firestone sich als Gegnerin der Arbeiter gezeigt habe. Am 15. April dann eine neue Maßnahme: Der Arbeitsminister Rivero wird entlassen, an seiner Stelle der von vielen als profilierter linker Aktivist bezeichnete Roberto Hernandez nominiert. Die ersten Stellungnahmen von Vertretern der UNT dazu in "Dirigentes sindicales manifestaron su opinión sobre el cambio de Ministro de Trabajo" von Prensa Marea Socialista am 16. April 2008 bei aporrea gehen davon aus, dass damit die Versuche eine neue Föderation zu gründen beendet seien, unterstreichen aber die Notwendigkeit die UNT gemeinsam zu reorganisieren. "Natürlich ging es den meisten nicht um die großen Leitlinien der gesellschaftlichen Entwicklung, aber..." In einer kurzen Telefonkonferenz zur aktuellen Lage sprachen wir mit Manuel Gallindo, Angel Sanchez und Roberto Olivar, alle drei bei SIDOR beschäftigt und bei SUTISS aktiv, die beiden letzten allerdings bei Subunternehmen. Ich habe in verschiedenen Medien Schlagzeilen gelesen wie "Ein Erfolg auf dem Weg des Sozialismus" und ähnliche Bewertungen - wie seht ihr das? Manuel: Nun ja, das wird man sehen, das kommt ja nicht an einem Tag. Aber Tatsache ist, dass der immense Druck, den die Gewerkschaftsbewegung in den letzten Wochen aufbauen konnte, in der Tat einiges bewegt hat - die Regierung wurde von einer blockierenden zu einer progressiven Partei. Denn wichtig ist zunächst einmal, dass die grundlegenden Forderungen der Arbeiter erfüllt werden, und die sind natürlich konkret: Lohnerhöhung und - vor allem - Ende des Regimes der Zeitarbeit. Angel: Ich denke, dass gerade die ja nicht selbstverständliche Tatsache, dass Stammbelegschaft und Drittbeschäftigte so konsequent an einem Strang gezogen haben auch mitentscheidend dafür war, dass eben der von Manuel genannte Druck überhaupt erst aufgebaut werden konnte. Denn wie in vielen Ländern Südamerikas ist es auch hier so, dass die Kontraktarbeiter meist ein ganz anderes gesellschaftliches Umfeld haben, als die Stammbelegschaften, viel tiefer in den armen Stadtteilen verwurzelt sind zum Beispiel. Roberto: Natürlich ging es den meisten nicht um die großen Leitlinien der gesellschaftlichen Entwicklung, aber sie haben zum einen gesehen und erlebt, dass ihre Forderungen, ihre Nöte eben im alten Rahmen nicht zu lösen waren, zum anderen beteiligen sie sich jetzt sehr aktiv an den vielen Debatten, die im Betrieb stattfinden. Was für Debatten sind das? Roberto: Es wird viel diskutiert - vor allem natürlich, wie jetzt wohl der Betrieb organisiert wird, denn allen ist klar, dass das anders aussehen muss als bisher, nur ein anderes Firmenschild bedeutet nichts. Wie geht das, wirklich einer der Entscheidungsträger zu sein, wie kann man es organisieren, und zwar so, dass es eben nicht ein formaler Akt bleibt, und eine Geschäftsleitung, die dann doch alles in der Hand hat. Aber es gibt beispielsweise auch die Debatte darum, was künftig wofür produziert werden soll - zum Beispiel das Schienennetz für den neuen Verkehr, da kommen ganz neue Fragestellungen auf - und eben auch Debatten mit Gruppierungen ausserhalb des Betriebs... Subunternehmen, getarnt als Genossenschaft Angel: Wichtig ist, dass wirklich die bisherigen Zeitarbeiter an diesen Debatten sich beteiligen - sie sind ja nun mal etwa zwei Drittel der gesamten Belegschaft, wieviele wir genau sind, weiss in Wirklichkeit keiner, die allgemein geteilte Schätzung geht auf rund 10.000, aber es sind ja hunderte von Unternehmen, zum Teil als Genossenschaften getarnt, eben um Gesetze umgehen zu können. Manuel: Ein wesentlicher Punkt ist, dass die Gewerkschaft - was durchaus kein Gemeingut ist - sehr früh nach der damaligen Privatisierung sich darauf umgestellt hat, die Zeitarbeiter genauso zu organisieren, wie die Stammbelegschaft, davon ernten wir heute die Früchte - wie es überhaupt wichtig ist zu sehen, dass es bei allen Fehlern in Venezuela einige Vorgehensweisen gibt und gab, die eben anders sind als bei anderen, auch bei anderen Linken - hier hat beispielsweise nie jemand in den Straßenhändlern eine Belästigung oder gar Gefahr gesehen, die man von den Straßen nehmen muß. Und wie seht ihr die Situation der Gewerkschaftsbewegung mit diesem Versuch der FSBT? Manuel: Was man schon zuerst sehen muß, ist dass wir eine Situation haben, in der permanent Kritikern dieser oder jener Lage oder Entwicklung gesagt wird, ihr schadet der Revolution - und darin sind meiner Meinung nach die FSBT führend, aber nicht alleine. Aber so etwas kann überhaupt erst richtig aufkommen, weil eben die UNT durch die Strömungskämpfe schon ein Stück weit paralysiert ist - oder, hoffentlich: war, denn die Auseinandersetzung bei uns hat schon eine Wiederbelebung bedeutet, vor allem nach dem Überfall der Guardia. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach tragen an dieser schwachen Situation alle Strömungen einen Teil der Verantwortung, die sich sehr dem Linienkampf gewidmet haben. Angel: Dass Rivero gegangen wurde, ist ein echter Fortschritt - aber man muss auch sehen, ein Schritt, der sehr spät kam, da gibt es offensichtlich auch ganz oben Auseinandersetzungen, die nicht jeder mitbekommt. Wir brauchen eine lebendige UNT - als unahängige Kraft, wir brauchen keine Staatsgewerkschaft und auch keinen Transmissionsriemen von irgendeiner Avantgarde, auch nicht der PSUV. Roberto: Wie bereits gesagt, die ganzen Debatten laufen gerade. Ich fände es wichtig, wenn die - wie auch immer, das ist nicht so entscheidend - verstaatliche SIDOR in der Tat nach Innen und Außen etwas anderes würde - und wenn diese jüngste Entwicklung auch auf andere Bereiche Einfluss nehmen würde, wie etwa in der Ölwirtschaft, die ja immer noch der Kern unserer Ökonomie ist. (Zusammengestellt und angerufen von hrw) |