letzte Änderung am 30.März 2004 | |
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Erstunterzeichneraufruf
In Venezuela findet seit einigen Jahren ein tiefgreifender Reformprozess statt. Die Bewohner von Armenvierteln organisieren sich in Stadtteilversammlungen und können, dank eines neuen Mitbestimmungsgesetzes, über die Vergabe von öffentlichen Haushaltsmitteln mitentscheiden. Auf dem Land besetzen Sin Tierras (Landlose) brachliegende Ländereien von Großgrundbesitzern und erhalten bei der Gründung von Kooperativen staatliche Unterstützung. Ein neues Mediengesetz erleichtert die Gründung von alternativen Radio- und Fernsehstationen; staatliche Kultureinrichtungen stellen für solche Bürgerradios bisweilen Geräte zur Verfügung. Mit Alphabetisierungs- und Gesundheitskampagnen werden die Lebensbedingungen gerade in den Slums verbessert. Die Regierung hat die Tobin-Steuer eingeführt, die lateinamerikanische Wirtschaftskooperation vertieft, sich kritisch zu den von EU und USA vorgeschlagenen Freihandelsmodellen geäußert und Mitbestimmungsgesetze in der Elektrizitäts- und Erdölindustrie erlassen. Über die Verwendung der Einnahmen des staatlichen Ölkonzerns PDVSA wird erstmals seit 30 Jahren öffentlich debattiert. Arme Staaten des Südens beziehen venezolanisches Erdöl zum Vorzugspreis. Zudem sind die Rechte von Indigenen und Afro-Venezolanern in der neuen Verfassung von 1999 ausgebaut worden. Das sind die Veränderungen, die in den Medien als „linkspopulistisch“ und „autoritär“ bezeichnet werden. Man muss die venezolanische Regierung Chávez nicht verherrlichen auch unter ihr gibt es Korruption, Borniertheit und Machtkonzentration. Doch eines lässt sich nicht leugnen: Venezuela ist heute eines der wenigen Länder der Welt, in denen Alternativen zu Neoliberalismus und Medienkonzentration angegangen werden. Und dieser Prozess wird anders als in den bürgerlichen Medien dargestellt nicht nur von der Regierung, sondern von einer breiten Basisbewegung getragen: vom linken Gewerkschaftsverband UNT, von selbstorganisierten Stadtteilkomitees, Bauernorganisationen, alternativen Medienprojekten ... Die Regierung Chávez und ihre Politik sind seit 1998 sechs Wahlen und landesweiten Referenden unterworfen worden, sie hat alle gewonnen. Ihr entscheidendes Manko: Im Gegensatz zur bürgerlichen Opposition verfügen die Anhänger der Regierung über keine Finanzmittel und kaum eigene Medien. Das venezolanische Experiment steht wie das Chile Salvador Allendes 1973 unter massivem ausländischem Druck. Im April und im Dezember 2002 hat die bürgerliche Opposition mit Hilfe Madrids und Washingtons versucht, Chávez mit Gewalt zu stürzen. In beiden Fällen scheiterten die Putsche an der Mobilisierung der Bevölkerung und am Verhalten einer Armee, die selbst von den gesellschaftlichen Veränderungen erfasst worden ist. Ende 2003 hat die Rechtsopposition, die auch aus Deutschland u.a. von der Konrad-Adenauer-Stiftung finanzielle Unterstützung erhält, nun ein Abwahlreferendum gegen Präsident Chávez gestartet. Die Oberste Wahlaufsichtsbehörde hat jedoch 400.000 (von 3,4 Millionen eingereichten Unterschriften) als ungültig gewertet (weil von Toten, Kindern oder nicht-wahlberechtigten Ausländern unterzeichnet) und eine weitere Million Unterschriften als problematisch bezeichnet. Entgegen der von der Wahlaufsichtsbehörde im Vorfeld aufgestellten Richtlinien wurden eine Million Eintragungen offensichtlich von Wahlhelfern gemacht ganze Fragebögen sind in der gleichen Handschrift ausgefüllt. Weil Unterschriften und Fingerabdrücke auch aus elektronischen Datenbanken kopiert worden sein können (und die Unterschriftenlisten von der Opposition vor der Übergabe an die Wahlaufsichtsbehörde fast einen Monat lang zurückgehalten wurden), ist nicht ersichtlich, ob die Unterschriften von den betreffenden BürgerInnen geleistet oder von den Organisatoren des Bürgerbegehrens gefälscht worden sind. Ende März müssen eine Million Menschen nun in einem neuerlichen Verfahren bestätigen oder dementieren, ob die Unterschriften von ihnen stammen. Medien wie CNN und El País haben diese Entscheidung als Beleg für den Autoritarismus in Venezuela bezeichnet. Die Opposition hat gewalttätige Straßenschlachten provoziert. Als die Guardia Nacional dagegen vorgegangen ist, wurde dies als besondere Brutalität bezeichnet. Keine Rede davon, dass die Guardia Nacional im Unterschied zu früher keine Schusswaffen eingesetzt hat und der Angriff eindeutig von den Rechten ausging. (Spitzenpolitiker von Christ- und Sozialdemokratie sind auf Fotos neben Vermummten und an Barrikaden zu sehen). Offensichtlich herrscht nur dann Demokratie, wenn diejenigen regieren, die immer regieren, und mit ihrer Medienkontrolle oder offenem Wahlbetrug dafür sorgen, dass sie alle vier Jahre an der Macht bestätigt werden.
Wir rufen dazu auf, den venezolanischen Reformprozess gegen den Druck von Medienkonzernen, EU und USA zu verteidigen. In dem südamerikanischen Land werden heute zwei Dinge verhandelt, die weltweit von Bedeutung sind: 1. In Venezuela gibt es Basisbewegungen und eine Regierung, die damit begonnen haben, Vorstellungen der Anti-Globalisierungsbewegung in die Praxis umzusetzen und Alternativen zum neoliberalen Kapitalismus wieder konkret zu machen. 2. In Venezuela entscheidet sich, ob parlamentarische Wahlen von den Herrschenden einfach zur Farce gemacht werden können. Immer wieder haben v.a. US-Regierungen (aber auch ihre europäischen Verbündeten) dafür gesorgt, dass demokratisch gewählte Reformregierungen per Putsch, Mord und Entführung beseitigt wurden. Der wohl bekannteste Fall war der Sturz Salvador Allendes 1973. Das darf sich nicht wiederholen! Der Reformprozess in Venezuela ist ein wichtiges und von der Bevölkerung getragenes Experiment. Am 11. April jährt sich der rechte, von Madrid und Washington unterstützte Putschversuch in Venezuela zum zweiten Mal. Zu diesem Anlass rufen wir zu Solidaritätsaktionen mit Venezuela auf. Keine Finanzierung putschistischer Gruppen durch Konrad-Adenauer-Stiftung, Friedrich-Ebert-Stiftung, EU und Bundesregierung! Für eine Alternative zur kapitalistischen Ausplünderung der Welt!
ErstunterzeichnerInnen:
Kolumbienkampagne Berlin, Beatrix Sassermann (Betriebsrat
Bayer-Wuppertal), Raul Zelik (Autor), Bildungsoffensive Brandenburg,
Hermann Dierkes (stellv. Betriebsratsvorsitzender IG METALL), Günter Pohl
(Lateinamerikakorrespondent), Dietrich Höper (Vorsitzender Verband für
Entwicklungspolitik Niedersachsen VEN), Christine Klissenbauer (Pax
Christi Solidaritätsfonds Eine Welt), Prof. Erhard Scholz (GHS Wuppertal),
Dr. Inno Rapthel (Chemiker, Halle), Internationales Solidaritätsnetzwerk
(ISNRSI), Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika
(FDCL), Willy Eberle (Gewerkschaft GBI-Schweiz), Stefan Freudenberg
(Student), Simón Ramírez Voltaire (Journalist), Ulrich Franz
(Chemiekreis), Gerd-Peter Zielezinski, (Betriebsrat und Stadtverordneter
Wuppertal), Elmar Altvater (FU Berlin), Thomas Guthmann (Berlin), Dario
Azzellini (Autor), Peter Kranz (Pfarrer), Heinz Stehr (DKP), Marco Tullney
(Uni Marburg), Franz Segbers (Uni Marburg), Uwe Nischwitz (EineWelthaus
München), Angela Hidding (Betriebsrätin und IGMetall), Fritz Stahl
(Rentner und IG Metall), Ulf Rassmann (Netzwerk Cuba), Zeitschrift
Arranca, Frank Schwitalla (Netzwerk Cuba), Prof. Heinz Dieterich
(Universität Mexiko D.F.), Barbara Köhler (Netzwerk Cuba), Organisierte
Autonomie Nürnberg, Dr. Heiner Köhnen (TIE), 3.Welt-Forum Hannover,
Arbeitskreis Lateinamerika Hannover, Almut Pape (Retnerin), Gottfried Heil
(IG Metall Oberschwaben), Angela Klein (ISL), Hans-Günter Mull (Redaktion
SoZ), Dieter Boris (Uni Marburg), Ralph Guariguata (Betriebsrat und
Mitglied des Chemiekreises), Frank Deppe (Uni Marburg), Martin Glasenapp
(Medico International), Bundesweite Initiative Libertad, Johannes M.Becker
(Uni Marburg), ATTAC Hamburg AG Frieden, AK Internationalismus IG
Metall, Gruppe FelS (Berlin), Hans-Jochen Vogel (Pfarrer), SJD-Die Falken
(Berlin)
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