letzte Änderung am 17. April 2003

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Interview mit Tarek William Saab

Tarek William Saab ist Abgeordneter der Partei des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez, MVR (Bewegung fünfte Republik), in der Nationalversammlung. Saab gilt als einer der charismatischsten Regierungsabgeordneten, ist Mitglied des "Taktischen Kommandos", also der nationalen Leitung der MVR und wird als nächster Vorsitzender der MVR gehandelt. Zum Zeitpunkt des Putsches im April 2002 war er Vorsitzender der Parlamentskommission für Auslandsangelegenheiten. Das Gespräch führte Dario Azzellini.

 

Frage: Vor einem Jahr enthob ein Putsch der Opposition, Vertretern des Arbeitgeberverbandes und einiger rechter Militärs den verfassungsgemäß gewählten Präsidenten Hugo Chávez der Amtes. Wie würden sie die Reaktion der Bevölkerung zusammen fassen?

Antwort: Vor dem 11. April 2002 gab es keine organisierte Massenbewegung, aber die Ereignisse verursachten eine sofortige Reaktion der Bevölkerung und der Streitkräfte. So etwas hat es in der jüngsten venezolanischen Geschichte und weltweit noch nicht gegeben: Ein Präsident der gestürzt und verhaftet, und keine 48 Stunden später durch die Bevölkerung und die Armee wieder an die Macht gebracht wird. Das hat mehrere Punkte deutlich gemacht: 1) Der Großteil der venezolanischen Streitkräfte in verfassungstreu; 2) Die Bevölkerung, die nicht sehr gut organisiert war, konnte so deutlich reagieren, wie wir es am 13. April gesehen haben. Millionen von Menschen gingen auf die Straßen. Dies obwohl es eine sehr arme Bevölkerung ist, die von allen vorhergehende Regierungen marginalisiert wurde.

Frage: Sie wurden während des Putsches verhaftet, wie war das?

Antwort: Über hundert Menschen belagerten mein Haus, in dem ich mit Frau und Kindern lebte und riefen sie würden mich umbringen, ich solle heraus kommen, damit sie mich lynchen könnten. Das waren hasserfüllte Gestalten, die seit Tagen von der Propaganda der privaten Fernsehanstalten aufgestachelt wurden. Schließlich kamen 20 Beamte der Geheimpolizei Disip und beschuldigten mich Kriegswaffen in meinem Haus zu verstecken, das war natürlich Unsinn. Ich wurde abgeführt und war zwei Tage lang von der Außenwelt abgeschnitten. Meine Verhaftung wurde gefilmt und in allen TV-Sendern übertragen. Der Basis von Chávez sollte Angst eingeflößt werden, indem ihre bekanntesten Vertreter verhaftet werden. Denn wenn schon ein Abgeordneter verhaftet wird, der Immunität genießt, was dürfen dann alle anderen erwarten?

Wir haben zu sehen bekommen wie eine Diktatur installiert wurde, die zwei Tage lang die öffentliche Macht ausschaltete, repressiv gegen soziale Bewegungen vorging, führende Aktivisten von Basisorganisationen ermordete... das war eine schlimme Lektion: Wie lebt es sich in einer Diktatur, in der die Medien über nichts informieren? Sie haben einfach Filme oder Zeichtrickserien gesendet und das staatliche Fernsehen Kanal 8, wurde von den Putschisten besetzt und abgeschaltet. Für mich war das eine wichtige Erfahrung, die meine revolutionäre Überzeugung bestärkt hat.

Frage: Die Putschisten haben ja gleich damit begonnen Aktivisten aus sozialen Bewegungen zu ermorden. Gibt es genaue Zahlen über die Toten?

Antwort: Für die Zeit vom 11. bis zum 13. April haben wir Zahlen, die von mindestens 70 Toten ausgehen. Am ersten Tag waren es 19 Tote. Und in Asovic, einer Organisation der Angehörigen von Opfern vom 11. April, sind Angehörige von 16 Ermordeten und 104 mit Schusswaffen Verletzten Mitglied. Diese Menschen wurden von den kommerziellen Medien totgeschwiegen, sie existieren in den Zeitungen und im Fernsehen nicht. Sie zeigen nur Angehörige eines einzigen Toten, der von der Opposition war, es ist als ob es nur einen Toten gegeben hätte. Das ist kriminell und wendet sich nicht nur gegen die Wahrheit, sondern auch gegen die Menschenrechte. Das vermittelt ungefähr eine Vorstellung von welcher Seite die Toten waren. Das Blutbad wäre aber weitergegangen, wenn der Putsch nicht rückgängig gemacht worden wäre. Denn der Diktator Carmona und seine Truppe wollten den Chavismus ausrotten.

Frage: Gegen wieviel Personen wird wegen des Putsches ermittelt und an welchem Punkt befinden sich die Ermittlungen?

Antwort: Die Ermittlungen gehen nur sehr langsam voran. 90 Prozent der Justiz befinden sich in Händen von oppositionellen Sektoren, die dem Putschisten nahe stehen. So wurden z.B. die Putschisten vom Obersten Gerichtshof, der von der Opposition kontrolliert wird, freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt aber weiter und die Gerichte können immer noch Anklage erheben.

Der Nationalversammlung liegt nun ein Gesetz vor, um die Anzahl der Richter in den Kammern zu erhöhen, nicht um regierungsnahe Leute einzusetzen, sondern um Richter, die gemäß der Gesetze handeln. Darüber hinaus versuchen wir Bewußtsein zu erzeugen bezüglich der Bedeutung der Demokratie und der Freiheiten. Auf mittlere und lange Sicht können wir die Straflosigkeit besiegen.

Frage: Sie sind ja von der Geheimpolizei Disip verhaftet worden, wie ist denn das Kräfteverhältnis innerhalb der Institutionen?

Antwort: Der Putsch hat die Masken vieler Leute fallen lassen. Du hattest jemanden an deiner Seite, von dem du ausgingst er sei ein Weggenosse und er entpuppte sich plötzlich als Putschist und Verräter, der dein Grab schaufelte. So wie es Abgeordnete gab, die wir uns für die Verteidigung der Verfassung erhoben, so gab es auch welche, die das Gegenteil taten. Das geschah in allen Institutionen, die Disip mit eingeschlossen. Wir haben danach einen Prozess der Restrukturierung und Reorganisierung begonnen, so wie auch in der Armee. Es wurden natürlich auch Leute rausgeschmissen. Aber in Venezuela läuft immer noch alles im Zeitlupentempo. Ein Jahr ist vergangen und es sind immer noch nicht alle Karten auf dem Tisch. Aber wir haben den staatlichen Erdölkonzern PDVSA zurück erobert, der jetzt im Dienste der Nation und nicht mehr im Dienste der technokratischen Führungsspitze steht. Der Plan der Putschisten war ja sofort nach dem Sturz Chávez PDVSA zu privatisieren, aus der OPEC auszutreten, die Verträge für Erdöl zu Vorzugskonditionen für Zentralamerika und die Karibik aufzukündigen und Venezuela in eine Bananenrepublik zu verwandeln. Wir haben es geschafft das zu durchkreuzen und der Welt eine wichtige Lektion zu erteilen: Sie müssen hier Millionen von Venezolanern umbringen, wir lassen uns unser Öl, unseren Reichtum nicht einfach wegnehmen.

Frage: Welche Länder waren wie weit in den Putsch vor einem Jahr verwickelt?

Antwort: Die Regierungen der USA, Spaniens und Kolumbiens haben nachweislich den Putsch unterstützt. Die US-Regierung hat vor dem Putsch alle hohen Putschisten zu Gesprächen empfangen und das Außenministerium hat sie ermutigt. Primero Justicia, eine der faschistischen Parteien, die offen an dem Putsch beteiligt waren, wird von der Stiftung der Republikaner in den USA, rechten Stiftungen aus Spanien und von der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung finanziert. Bürgermeister von Primero Justicia waren während des Putsches an den Angriffen auf die kubanische Botschaft beteiligt, der PJ-Bügermeister von Baruta, Leopoldo Lopez, und der von Chacao, haben den Minister Rodriguez Chassín abgeführt und zum Angriff auf das staatliche Fernsehen aufgerufen. Deutschland sollte aufpassen, was solche Stiftungen tun. Destabilisierende Bewegungen in diesem Land zu finanzieren ist kein freundschaftlicher Akt gegenüber Venezuela. Aber es gibt auch viele Regierungen die auf der Seite Venezuelas sind, weil sie wissen, dass das Schicksal Chávezī auch das Schicksal ihres Landes, ihres Weges, ist. Lula in Brasilien z.B. weiß das und ebenso wissen das die Basisbewegungen des Kontinents.

Frage: War denn die Zuspitzung in Venezuela absehbar?

Antwort: Noam Chomsky analysierte 2001 die Chávez-Regierung als nationalistisch und prophezeite, dass er in Widerspruch mit dem Empire geraten würde, wenn er den Erdölreichtum in den Dienst sozialer Reformen stellen würde. Und Chávez geriet in Widerspruch mit dem Empire. Es ist eine nationalistische Regierung in dem Sinne, dass sie zutiefst auf Souveränität und eigene kulturelle Identität besteht. Und das ist in die Seele der Bevölkerung eingegangen. Das ist alles Teil des Prozesses und der Entwicklung, die in Mitten aller Schwierigkeiten voran schreitet – mit großer Entschlossenheit. Es ist ein Prozess, in dem die Basisbewegungen und die revolutionäre Bewegung vorangekommen sind, der Nationalismus zur Verteidigung der venezolanischen kulturellen Identität ist gewachsen. Wir wissen in welche Richtung wir gehen. Wir werden die Demokratie weiter vertiefen, die Naturressourcen in den Dienst der Menschen stellen.

Frage: Und die Bevölkerung Venezuelas ist sich dessen bewußt?

Antwort: Auf jeden Fall. Eine weitere Bestätigung dessen war der Widerstand der Bevölkerung gegen einen erneuten Putschversuch im Dezember 2002, als die staatliche Erdölindustrie PDVSA durch leitende Angestellte sabotiert wurde, unterstützt vom Arbeitgeberverband Fedecameras und der illegitimen Gewerkschaft CTV. Sie legten die gesamte Erdölförderung still, die internationalen Währungsreserven Venezuelas fielen drastisch auf 13 Milliarden Dollar. Sie dachten Chávez würde innerhalb von fünf Tagen zurücktreten müssen. Wir haben nicht nur den ganzen Dezember durchgehalten, sondern die Erdölindustrie im Januar wieder reaktiviert. Dies mit Unterstützung eines Teils der PDVSA-Führung und Arbeitern, die verstanden hatten, dass diese kriminelle Handlung so faschistisch war wie der Putsch vom 11. April. Anfang April exportierte Venezuela bereits wieder 3.200.000 Barrel Erdöl. Konservative Schätzungen aus den USA hatten vorausgesagt, die Ölexporte würden sich erst wieder im Dezember 2003 auf diesem Stand befinden. Das zeugt von einem starken Willen der Bevölkerung einen bestimmten Weg zu gehen, trotz aller Schwierigkeiten und Schwächen.

Frage: Aber große Teile der Leitung von PDVSA unterstützten auch den Putsch. Warum wurden diese nicht bereits vor dem Streik ausgetauscht?

Antwort: Die Regierung hat die kriminellen Fähigkeiten der Opposition unterschätzt. Nachdem Chávez an die Macht zurück kehrte, haben wir keine repressiven Maßnahmen gegen die putschistische Leitung eingeleitet, sondern einen Dialog begonnen, wir haben ihnen verziehen und das Führungspersonal von PDVSA, dass den Putsch unterstützt hatte, wurde sogar wieder eingestellt. Wir hatten eine romantische Vorstellung davon was eine Opposition sein kann. Aber diese Opposition hat die eigene Schuld nicht eingesehen, keinerlei Selbstkritik geübt. Sie will nicht anerkennen, dass sie einen Putsch begleitet und einen Diktator installiert hat. Aber wir werden diesen Fehler sicher niemals wiederholen. Nach den Sabotageakten vom Dezember wurden sie entlassen, die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen sie.

Frage: Wie hat sich das Kräfteverhältnis zwischen der Opposition und den Kräften, die den in Venezuela eingeleiteten Prozess unterstützen, seit dem Putsch entwickelt?

Antwort: Im vergangenen Jahr ist die demokratische Kultur Venezuelas gewachsen und die Oganisierung der Bevölkerung stärker geworden. So stark, dass es gelungen ist in zwölf Monaten vier Versuchen zu trotzen, Präsident Hugo Chávez zu stürzen: Ein Militärputsch, ein wirtschaftlicher Umsturzversuch und zwei weiteren Streikversuchen. Während wir durchgehalten haben, ist die Opposition heute zerfallen. Ihre wichtigsten Führer haben sich als Flüchtlinge vor der Justiz ins Ausland abgesetzt und das ehemalige Bündnis ist atomisiert. Der Demokratie erweist das allerdings keinen guten Dienst. Wir brauchen eine Opposition, die ein würdiger und repräsentativer Gesprächspartner der Regierung ist. Bisher gibt es diese aber nicht. Und leider habe ich auch nicht viel Hoffnung, dass dies bald Wirklichkeit wird.

Frage: Wie agiert die Opposition heute?

Antwort: Sie fühlt sich durch die US-Invasion im Irak im Aufwind. Sie denkt, dass ihnen die Kolonialisierung Iraks, unter Missachtung der UNO und des Internationalen Rechts, die Möglichkeit eröffnet durch eine erneute Radikalisierung ihrer Aktionen einen Ausweg unter dem Bruch der Verfassung zu suchen. Das zeigt sich auch in ihrer TV-Propaganda, in der es heisst: "Jetzt holen wir dich", nach dem Motto "jetzt wo Irak gefallen ist, ist Venezuela dran". Aber Venezuela ist aber weder Irak noch Afghanistan. Venezuela befindet sich vollständig im Rahmen des internationalen Rechts und die Regierung ist verfassungstreu. Chávez hat sieben aufeinander folgende Wahlen gewonnen. Und wenn schon der Angriff auf den Irak die Ablehnung von 90 Prozent der Welt verursacht hat, so wird es kein leichtes sein einfach nach Venezuela zu kommen, ohne dass es Seitens der Bevölkerung, der Armee und Lateinamerikas eine Reaktion gibt. Venezuela ist ein wichtiger Bezugspunkt in Lateinamerika und der gesamten Welt.

Frage: Die Einnahmeausfälle aus der Erdölindustrie hinterließen ein Loch von sieben Milliarden Dollar in den Staatskassen. Und das ist spürbar, die wirtschaftliche Situation ist viel schwieriger geworden. Wie wird sich die ökonomische Situation weiter entwickeln und hat das Verschleisserscheinungen in der Unterstützung produziert?

Antwort: Es gibt eine sehr harte Losung, die auf den Demonstrationen gerufen wird: "Mit Hunger und Arbeitslosigkeit, ich verpflichte mich mit Chávez". Die Leute sind sich bewusst, dass es schwierige Zeiten gibt und dieses Bewusstsein verleiht uns Kraft und Würde. Die Regierung hat gigantische Anstrengungen unternommen um die Situation abzufedern. Wir haben es geschafft die Erdölkrise vom Dezember/Januar zu überwinden, das ist ganz unglaublich. Damals gab es hier kilometerlange Schlangen um zu tanken. In einem Land wie Venezuela, das Benzin produziert und exportiert. Wir mussten Benzin importieren, wir mussten zusätzliche Lebensmittel importieren.

Aber jetzt wo wir PDVSA erobert haben, werden wir voran schreiten. Wir sind von der Erdölindustrie abhängig und jetzt wo PDVSA wieder in unseren Händen ist, können wir nach und nach alle Löcher stopfen und den Umbau zu einer diversifizierten und nicht monoproduktiven Ökonomie vollziehen. Das ist das was die Regierung macht, es werden Arbeitsplätze geschaffen in dem die kleine und mittlere Industrie Kredite erhält, die Investitionen im Land gefördert werden. Es fehlt eine starke ökonomische Schicht im Land, die auch hier investiert und wir sind dabei Brücken zu diesem Sektor zu bauen.

Danke für das Gespräch.

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