letzte Änderung am 1.Juli 2003 | |
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Raul Zelik: Interview mit Roland Denis
(Venezuela dürfte das einzige Land der Welt sein, dessen Staatschef Gramsci und Negri zitiert. Auch wenn die "bolivarianische Revolution" in erster Linie die kontinentale Souveränität Lateinamerikas verteidigt, finden sich in ihr doch Elemente wieder, die grundsätzliche Fragen der Linken praktisch zu beantworten suchen. Bemerkenswert sind v. a. die Mechanismen der "partizipatorischen, protagonischen Demokratie", die rätedemokratische Organisationsformen und Kooperativwirtschaft mit einem neuen Konzept von Staatlichkeit verbindet. Roland Denis, bis März in der Regierung Chávez, ist seit 25 Jahren in der linksradikalen Bewegung Venezuelas aktiv und gehört zu dem an den Stadtteilbewegungen orientierten Flügel des Bolivarianismus).
Dein Chef Felipe Pérez und du, ihr seid vor kurzem aus dem Planungsministerium abberufen worden. Ihr standet für eine Politik, die Entwicklung v. a. als sozialen Prozess betrachtet, und habt in diesem Sinne Lokalmacht und Selbstverwaltung zu stärken versucht. Ministerwechsel sind unter Chávez zwar nicht ungewöhnlich - selten ist ein Minister länger als 10 Monate im Amt -, aber die Frage stellt sich natürlich trotzdem: Bedeutet eure Abberufung einen Richtungswechsel?
Weniger ein Richtungswechsel als das Fehlen einer Richtung. Es gibt ein paar allgemeingültige Prinzipien der bolivarianischen Revolution: partizipative Demokratie, Kampf für eine multipolare Welt, Widerstand gegen die Wirtschaftsimperien, Förderung einer alternativen Wirtschaft. Felipe Pérez und ich haben eine radikale Umsetzung der Leitlinien verfolgt. Wir haben uns darum bemüht, die soziale Kontrolle zu vergrößern, den Communities also jene Macht in die Hand zu geben, die nötig ist, um neue Beziehungen zum Staat zu entwickeln. Beziehungen von Ko-Regierung und Ko-Verwaltung, wenn man so will. Diese Ansätze haben den Widerstand bestehender Institutionen provoziert, d. h. jenes ‘alten’ Staats, der trotz der Veränderung in Venezuela fortbesteht. Es gibt kein konkretes Konzept der Regierung Chávez, wie man die bürokratischen und wirtschaftlichen Interessen im existierenden Staat entmachten könnte. Und das war der Grund, warum unsere Vorgehensweise zu heftigen Konflikten geführt hat.
Es heißt, ihr hättet von Chávez auch klarere Positionen gegen die Korruption gefordert.
Nicht nur gegenüber der Korruption, auch gegenüber der Weltbank, dem IWF, der Bankenmacht im allgemeinen, dem Steuerproblem ... Überall dort, wo wir vom allgmeinen Diskurs zur konkreten Politik übergingen, kam es zu Zusammenstößen innerhalb des Staatsapparates. Das ist zumindest mein Eindruck.
Wie muss man sich die Auseinandersetzungen im venezolanischen Staat vorstellen? Ist es so, wie die Opposition behauptet, dass Chávez willkürlich ein- und absetzt, gibt es politische Konflikte zwischen der Linken und der Rechten oder handelt es sich einfach um Kämpfe zwischen Seilschaften, die sich Ämter streitig machen wollen?
Das Wesen von Staaten besteht darin, dass sie Schauplätze von Hegemoniekämpfen sind. Die realen gesellschaftlichen Machtfaktoren versuchen permanent ihre Interessen geltend zu machen. In diesem Sinne handelt es sich nicht um einen Kampf zwischen Linken und Rechten. Der venezolanische Staat befindet sich seit dem rechten Putschversuch am 11. April 2002 in einer Art Blockadesituation. Während sich die revolutionäre Bewegung in jenen Tagen unglaublich weiterentwickelt haben - es waren ja die Basisorganisationen, die die 24-Stunden-Diktatur von Unternehmerverbandschef Pedro Carmona besiegten -, hat der Staat eine konservativere Haltung eingenommen. Chávez hat, was ich für einen seiner größten Fehler halte, im April 2002 den Dialog mit der putschistischen Opposition gesucht und Zugeständnisse gemacht. Im Dezember 2002, als die Opposition mit Aussperrungen und Sabotage zum zweiten Mal die Industrie lahm legte, musste sich die Regierung erneut radikalisieren. Allerdings nicht aufgrund einer politischen Entscheidung, sondern durch den Druck von außen, denn auch dieser Umsturzversuch wurde von den Basisorganisationen und nicht vom Staat niedergeschlagen. Der Staat kommt aus dieser Blockade nicht heraus. Es gibt keine konkreten Konzepte für Landwirschaft, internationale Beziehungen, Entwicklung, Industrialisierung. Man hantiert mit Allgemeinplätzen: Man spricht z. B. von endogener Entwicklung und bekennt sich zum Kooperativwesen. Doch vor der Umsetzung dieser Ideen in konkrete Politik hat man Angst, denn man weiß, dass die Förderung einer anderen Wirtschaftspolitik die Gesellschaft grundlegend verändern wird.
Ist das nicht nachvollziehbar? Die Frage ist doch, warum die Rechte in Venezuela eine Contra aufbaut, obwohl gar keine Revolution stattgefunden hat. Der Druck ist auch ohne Vertiefung des Prozesses immens groß. Die USA und Spanien haben die Putschversuche 2002 offen unterstützt. Was würde passieren, wenn sich die Veränderungen radikalisieren?
Die Intervention findet ja längst statt. Im internationalen Kontext geht es um Leitlinien. Die US-Regierung will das ALCA-Abkommen um jeden Preis durchsetzen und damit die Machtbeziehungen zwischen den USA und den lateinamerikanischen Ländern dauerhaft festschreiben. Wenn sich Venezuela sich gegen diese Freihandelszone ausspricht, verwandelt es sich aus der Sicht Washingtons bereits in einen Feind. Das unentschlossene Vorgehen der Regierungg hat meiner Meinung nach weniger mit diesen Befürchtungen zu tun als mit fehlender Klarheit, nicht geführten Debatten und v. a. einem ungenügenden Vertrauen in die Fähigkeit der Bevölkerung zur Selbstregierung. Die Barrios haben die Regierung bei den Umsturzversuchen bedingungslos unterstützt, aber der Staat kommt kaum in die Barrios. Es gibt in der Regierung eine zu geschlossene Vorstellung von Macht.
Womit hat das zu tun? Mit den alten Bürokraten, die immer noch 95 % des Behördenapparats ausmachen, den Konzepten der in der Regierung vertretenen der alten Linken oder dem Einfluss der Militärs?
Da vermischen sich die Dinge. Da ist die Kultur des venezolanischen Staates und seines Parteiensystems, da sind die Militärs, da gibt es die alte Linke mit ihrem leninistischen Konzept von Staatsmacht, Avantgarde und vertikaler Kontrolle. Unsere Verfassung schreibt die partizipative Demokratie fest - eine Demokratie, in der die Communities die Protagonistenrolle innehaben. Und wenn es für mich eine Folgerung meiner Zeit als Minister gibt, dann die, dass Selbstregierung, ein anderes Verhältnis zwischen Staat und Selbstorganisation möglich sind. Es gab unglaubliche Erfahrungen von horizontalen Diskussionen um die Verwendung des Finanzhaushaltes und die Entwicklung von konkreten Projekten. Das Problem war, dass es im Staatsapparat große Angst vor solchen Veränderungen gab. Angst oder Desinteresse.
Wenn man als Ausländer nach Venezuela kommt, tut man sich mit der politischen Landschaft ziemlich schwer. In Kolumbien gibt es klare historische Referenzpunkte - die Guerillaorganisationen haben nach wie vor großen Einfluss auf die sozialen Bewegungen. In Venezuela scheint es hingegen keine gewachsene organische Struktur der Linken zu geben.
Venezuela kann man in dieser Hinsicht nicht mit Kolumbien vergleichen. Hier haben sich die traditionellen politischen Organisationen völlig aufgelöst, und zwar sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten. Die Guerillagruppen der 60er und 70er Jahren wurden aufgerieben. Auf der anderen Seite sind auch die Referenzpunkte der politischen Rechten, die AD (sozialdemokratisch) und COPEI (christdemokratisch), zerbröselt. In allen anderen lateinamerikanischen Ländern ist der Staat ein Instrument der Besitzenden, um die Kapitalakkumulation sicherzustellen. In Venezuela wurde der Staat selbst zum Ort privatkapitalistischer Akkumulation, denn die einzige echte Einkommensquelle des Landes ist die Erdölrente. Alle Strukturen, die sich im Staat bewegten - Gewerkschaften, politische Parteien der Rechten, die reformistische Linke -, sind daran kaputtgegangen. Sie wurden zu einem Bestandteil des Akkumulationsmechanismus. Deshalb haben wir in den 70er Jahren über neue Wege der Transformation zu diskutieren begonnen. Wir haben uns von den Konzepten bewaffneter Avantgarden verabschiedet, und der einzig gangbare Ausweg schien uns ein massiver Aufstand, der allerdings von jenen Teilen im System mitgetragen werden musste, die die Kräftekorrelation grundlegend verändern konnten. Das waren die Militärs. Wir haben ein Bündnis mit Akteuren innerhalb des Staates aufgebaut, die diesen Staat zerschlagen wollten. Dieses Konzept ist schließlich mit dem spontanen, gegen das Sparpaket der Pérez-Regierung gerichteten Aufstand im Februar 1989 und den beiden Umsturzversuchen progressiver Militär im Februar und November 1992 Realität geworden. Die in dieser Phase entstandenen Subjektivitäten haben nichts mit dem gemein, was man in formierten westlichen Gesellschaften als politische Akteure kennt: keine Parteien, Organisationen oder Gewerkschaften. Du musst sehr weit an die Basis geben, in Stadtteile und Dörfer, um die Akteure zu erkennen. Wir bezeichnen das als Proceso Popular Constituyente . Das heißt, wir haben uns hier nicht darauf konzentriert, Organisationen aufzubauen, sondern auf die Gründung eines neuen Staats hingearbeitet. Deswegen kann man den venezolanischen Prozess mit klassischen politischen Kategorien, die von organisierten, um die Macht kämpfenden Minderheiten der Linken und der Rechten ausgehen, kaum beschreiben.
Die Parteien der Regierungskoalition "Patriotischer Pol", also MVR ("Bewegung 5. Republik" - Chávez-nah), PPT ("Vaterland für alle" - am ehesten mit der brasilianischen PT vergleichbar) und Podemos ("Wir können" - linkssozialdemokratisch), spielen also keine Rolle?
Als Mobilisierungsapparate vielleicht. Aber genau das Fehlen einer inhaltlichen Linie dieser Parteien ist wesentlich für das Dilemma der Regierung verantwortlich. Diese Gruppen repräsentieren nicht in erster Linie politische Projekte. Chávez hat versucht, die Kernforderungen der Massenrevolte aufzugreifen und gleichzeitig die realen Verhältnisse im Staat zu berücksichtigen. In diesem Sinne muss man ihm applaudieren, denn er hätte eine andere Karte spielen und sich von den Basisbewegungen entfernen können. Aber trotzdem muss man darauf hinweisen, dass der venezolanische Staat nach wie vor der alte ist. Ein Ort privater Akkumulation, wo die politischen Parteien nicht um ideologische Hegemonie, sondern um Posten kämpfen. Die Parteien des "Patriotischen Pols" spielen dieses Spiel nach wie vor mit - was natürlich im Widerspruch zu den Grundaussagen des revolutionären Projekts steht. Es gibt hier 3 parallele Welten. Es gibt einen revolutionären Prozess, der nicht unbedingt von der Regierung repräsentiert wird. Es gibt eine Regierung, die oft nicht eindeutig Position bezieht. Und schließlich gibt es die rechte Opposition der Kapitalbesitzer und der von ihnen ideologisch kontrollierten Mittelschichten.
Was heißt das? Gibt es jetzt einen tiefgreifenden Transformationsprozess oder nicht?
Auf jeden Fall. Es gibt einen Prozess von Basisorganisierung, der in dieser Form in der Welt noch nicht zu beobachten war. Es zeichnen sich wichtige Ansätze für eine Kooperativ- und Solidarökonomie ab. An den verschiedensten Orten bilden sich Räume partizipativer Demokratie heraus. All das hat es in anderen Revolutionen und Reformprozessen so noch nicht gegeben. Warum ist es hier anders? Weil das ein Verfassungsprozess war. Die Regierung ist nicht Avantgarde des Projekts, und deswegen reicht der Prozess auch über die Chávez-Regierung hinaus.
Was müsste geschehen, um den Prozess zu radikalisieren? Welche Schritte müsste die Regierung ergreifen? Oder kann der Prozess sowieso nur von den Bewegungen vorangetrieben werden?
Ich habe nicht viele Forderungen an den Staat. Eigentlich nur zwei: Dass er die Effizienz seiner Verwaltung gewährleistet und gegen die Korruption vorgeht, und dass er auch weiterhin als Schutzmauer gegenüber den faschistischen Kräften fungiert. Den Rest können wir selbst erledigen. Der Aufbau einer neuen Gesellschaft wird schließlich nicht per Dekret verordnet. Die Aufgabe einer Regierung ist es, den Protagonismus der Massen zu ermöglichen, ohne ihm eine Richtung aufzuzwingen. Wir haben die Regierung und die Person Chávez verteidigt und werden das auch weiterhin tun, weil sie eine Schutzmauer darstellen. Aber das heißt nicht, dass wir mit ihnen in jeder Hinsicht übereinstimmen. Die Regierung hat nicht nur die Rechte gestoppt, sondern oft auch die Basisbewegungen und den sozialen Prozess. Als "Revolution in der Revolution" würden wir bezeichnen, wenn die Regierung tatsächlich anfinge, mit den Massen zu regieren. Nicht indem sie Ministerposten abtritt, sondern die Mechanismen der Entscheidungsfindung grundlegend verändert. Bis die Regierung das gelernt haben wird, werden wir allerdings noch viele Konflikte ausfechten müssen.
Was müsste zuerst sozialisiert werden? Der Zugang zu den Medien ...?
Der Zugang zu den Medien, zum Land, zu Produktionsmitteln, Krediten, Technologie und Planung. Die Entwicklungspolitik müsste auf Grundlage dessen definiert werden, was die Selbstverwaltungsnetzwerke diskutieren, der Einsatz von Mitteln de-zentriert werden. Für all das gibt es konkrete Vorschläge. Es gibt Pläne, die von den Communites z. T. gegen den Widerstand staatlicher Stellen entwickelt worden sind - Agrarprogramme wie "Todas las Manos por la Siembra" . Diese Projekte sind angefangen worden, weil soziale Bewegungen sie durchgesetzt haben.
Eure Strömung hat in den 80er Jahren viel mit der kolumbianischen Organisation A Luchar diskutiert. Damals lautete die Frage, wie man ein neues Verhältnis zwischen Bevölkerung und Organisationen entwickeln kann. Würdest du Venezuela als Beleg dafür sehen, dass politische Avantgarden überhaupt unnötig sind? Dass sie von Netzwerken ersetzt werden können?
Ich glaube, kollektive Avantgarden sind notwendig. Soziale Avantgarden, die sich nicht über Machtpositionen definieren. Ich denke auch, dass es immer Avantgarden gibt, weil immer jemand der erste ist. Aber die Tatsache, als erster einen Schritt zu setzen, bedeutet nicht, dass die anderen dann in einer Reihe hinter dir herlaufen. Du bist Avantgarde, solange deine Handlungen und Schritte anderen als Referenz dienen. Nicht weil du sie führst, sondern weil sich andere auf dich beziehen. Wenn eine Gruppe in einer Nachbarschaft eine Barrio-Versammlung etabliert, deren Modell dann in anderen Nachbarschaften kopiert wird, hat sie eine Avantgarderolle inne. Das Beispiel multipliziert sich, weil es funktioniert, weil die Asamblea dem Barrio hilft, sich zu artikulieren. Es geht also um Initiative, nicht um Kontrolle.
Aber Asamblea-Strukturen in Stadtteilen können die politische Organisierung nicht ersetzen. In Venezuela gibt es keine solche Organisation. Es gibt Gruppen, aber kein übergreifendes Projekt.
Das stimmt. Es gibt jedoch ein Element, das die unmittelbaren Organisationsformen zusamenhält und bündelt: die Person Chávez. Sie repräsentiert nicht die Avantgarde, sondern den massenhaften Charakter dieser Bewegung. Wir, d. h. verschiedene Strömungen, haben Anfang der 90er Jahre davon gesprochen, dass es nicht darum geht, organische Strukturen, sondern Hegemoniefelder aufzubauen. Bereiche, in denen Konzepte hegemonial werden. Mit diesem Ansatz haben viele - ohne organische Struktur, aber doch mit gemeinsamen Kriterien - in verschiedensten Bereichen gearbeitet: Bauern- und Arbeiterbewegungen, pädagogische, kulturelle, soziale und Kooperativnetzwerke. In Venezuela gibt es ganze Felder, in dem sich diese hegemonialen Positionen widerspiegeln: die alternativen Medien z. B. Sie sind nicht zentralisiert und breiten sich aus. Dabei gibt es natürlich Aspekte, die wir zentralisieren sollten; die sich gemeinsam besser verwalten ließen. Aber als hegemoniales Feld dehnt sich die Bewegung dennoch mit großer Energie aus. Das Problem sind nicht allein die guten Ideen. In Kolumbien gab es unglaublich gute Publikationen zu Basis-, Barrio- und Bewusstseinsarbeit. Was das Konzept des Poder Popular (Volksmacht) angeht, verdanken wir den Kolumbianern sehr viel. In Venezuela haben sich diese Konzepte jedoch vermasst. Sie sind zu einer politischen Praxis geworden, und Hugo Chávez interessanterweise zu ihrem Sprecher. Ich glaube, dass Chávez über diese Konzepte nicht viel weiß. Aber die Massenbewegung hat die Inhalte an ihn herangetragen und, weil er weiß, dass er mit dieser neuen Hegemonie, mit diesem Traum einer anderen Welt leben muss, verbreitet er sie. Das alles würde ich als großen zivilisatorischen und kulturellen Triumph bezeichnen. In Venezuela hat sich gezeigt, dass ein sozialer Prozess auch ohne organische Avantgarden in Gang gesetzt werden kann - vielleicht sogar viel erfolgreicher; dass Netzwerke und Bewegungen die klassischen Organisationen ersetzen können.
Mir erscheint noch ein anderer Aspekt bemerkenswert. Es ist gelungen, fast schon anarchistisch inspirierte Basisbewegungen mit einem Konzept von Staatlichkeit zu versöhnen und damit eine Antwort auf die historische Frage von Lokalmacht und Gesamtgesellschaftlichkeit anzudeuten. Es gibt hier konkrete Projekte, die beweisen, dass der Widerspruch von Selbstregierung und Staat aufgehoben werden könnte. Allerdings stellt sich nach wie vor die Frage, wie das durchgesetzt werden soll. Immerhin besteht 95% des Staatsapparates aus alten Eliten und 4% aus Leuten, die solche werden möchten.
Der Proceso Popular Constituyente, der von der Bevölkerung getragene Verfassungsprozess, muss weitergehen. Mit diesem Staat werden wir nichts erreichen. Es geht nicht darum, ein paar Beamte auszutauschen. Dieser Staat muss zertrümmert und neuaufgebaut werden. Der Neuaufbau muss von neuen Orten ausgehen und Formen lokalerer, partizipativerer Machtzentralisation hervorbringen. Natürlich kann niemand sagen, ob wir das schaffen werden. In unseren eher phantastischen Prognosen sprechen wir von 20, 30 Jahre Prozess. Und selbstverständlich können wird dabei besiegt und vernichtet werden. Die entscheidende Frage lautet, ob es uns gelingen wird, die Kräftekorrelation zu verschieben. Tatsächlich kann man solche Prozesse beobachten. In den Streitkräften bilden sich Praktiken und Einstellungen heraus, die nichts mit traditionellen Streitkräften zu tun haben. Wir werden es jedoch auch nicht allein schaffen. Wenn sich dieser Kampf nicht kontinentalisiert, können wir aufgeben. Die bolivarianische Revolution hat einen grundlegend anderen Charakter als die kubanische. Hier geht es nicht um einen Staatssozialismus, der sich auf sich selbst konzentrieren kann. Unser Projekt ist an allen Stellen undicht. Es kann nur überleben, wenn es sich nicht isoliert.
In Deutschland versteht man viele eurer Begriffe nicht: ‘nationale Souveränität’, ‘Führung’, ‘Bündnis von Militär und Bürgern’. Wir können sie nicht alle diskutieren. Aber zu einem Punkt würde ich doch nachfragen wollen: zur Verfassung. Ich würde behaupten, eine Verfassung ist immer totes Papier, eine Mischung aus Eigentumsschutz und bürgerlichem Versprechen. Für euch ist sie der Kern des revolutionären Projeks. Warum?
Es gab hier keine zentrale revolutionäre Organisation, sondern nur eine Aufstandsbewegung - erst eine Massen- dann auch Militäraufstände. Sie war heterogen, dispers, fragmentiert. Was sie verbunden hat, war das Projekt, eine neue Grundlage zu entwickeln, eben die Verfassung. Niemand wäre in der Lage gewesen, diese Bewegung programmatisch zu zentralisieren - auch Chávez nicht. Seine Führung war und ist unumstritten, aber seine Ideen hätten nicht ausgereicht, um die Bewegung zu bündeln. Die Verfassung füllt diese Leerstelle aus. Sie ist politisches Programm und dient gleichzeitig als Rahmen für den weiteren Prozess. Die Verfassung ist deshalb nicht einfach toter Text. In ihr spiegeln sich Werte und Prinzipien wider. Vielleicht nicht genug, vielleicht wird man sie reformieren müssen, vielleicht braucht man sie später für den revolutionären Prozess gar nicht mehr. Aber im Moment hat sie die Funktion eines roten Buchs: Sie reflektiert die Forderungen und Ziele der Basisbewegungen.
Worin besteht ihre besondere Bedeutung: Schreibt die Verfassung wirklich den progressiven Inhalt neuer Gesetze fest oder ist es nicht eher anders herum: die politische Bewegung, die die Verfassung als Symbol, vielleicht auch als Programm betrachtet, prägt den Charakter der neuen Gesetze?
Beides. Natürlich kann die Verfassung auch für die Rechte in einem bestimmten Augenblick nützlich sein. Ich würde ihre Bedeutung aber v. a. als didaktisch bezeichnen. Denk an die Millionen Leute, die noch nie zuvor in ihrem Leben politisch diskutiert haben und jetzt die Verfassung lesen. Das ist nicht die Mehrheit der Bevölkerung, aber es ist eine sehr große Minderheit. Und diese Leute studieren mit der Verfassung auch ein politisches Gedankengebäude, denn die Verfassung ist zutiefst freiheitlich und von Ideen sozialer Gerechtigkeit geprägt. Darüber hinaus ist die Verfassung ein Kampfinstrument. Der bürgerliche Staat kreist, seinem Selbstverständnis zufolge, um die Verfassung. Damit jedoch wird diese zu einem Rahmen, auf den man sich berufen kann; der ein Kräfteverhältnis also in gewisser Hinsicht fixiert. Man kann natürlich abstrakt über die Genealogie bürgerlicher Verfassungen debattieren. Aber hier in unserer konkreten Situation spielt sie eine große, sehr große Rolle. Als politisierendes Moment, als Programm, als Rahmen, in dem man agieren kann. Ohne Verfassung hätten wir nichts geschafft. Chávez ist nicht das Zentrum dieses Prozesses, er ist der Kommunikator. Das Zentrum bilden die Ideen, und d. h. in diesem Fall die Verfassung.
Noch mal: Was ist das Entscheidende? Die Verfassung als Buch oder der Prozess, wie sie entwickelt wurde?
Das Buch ist die Fortführung des Prozesses. Die gesamten Regelungen zur Sozialisierung der Planungspolitik und zur gesellschaftlichen Kontrolle von öffentlichen Haushalten sind in der Verfassung bereits festgeschrieben. Das gleiche gilt für die Solidar- und Kooperativökonomien, die endogene Entwicklungspolitik und die Ablehnung des Neoliberalismus.
Wie wird sich die Situation in Venezuela weiter entwickeln? Wird es neue Putschversuche geben? Werden sich die Paramilitärs, die in Grenzregionen bereits agieren, ausbreiten?
Das Wahrscheinlichste ist, dass sich der Konflikt verschärft. Wenn die imperialen Kräfte bei ihrer Neuformierung auf globaler Ebene demnächst eine grundlegende Niederlage einstecken - wofür es leider nicht gerade viele Hinweise gibt -, wird die bolivarianische Revolution in Venezuela eine Weile bestehen können. Aber da bin ich sehr pessimistisch. Die neue Macht des Imperiums ist nicht ewig, doch mindestens die nächsten 10 Jahre werden schrecklich sein. Wenn sich der bolivarianische Prozess also nicht durch Degeneration selbst erledigt und das schwierige, aber produktive Verhältnis zwischen Regierung und Massenbewegungen fortbesteht, wird es zu einem heftigen Zusammenstoß kommen. Von Kuba und ein paar anderen Ausnahmen einmal abgesehen, ist Venezuela die große Anomalie in der Welt. Eine Anomalie, die man beseitigen wird. Oder um es in den Worten der Opposition auszudrücken: "Die chavistische Seuche muss ausgerottet werden." Und das bedeutet nicht, ein Projekt an den Urnen zu besiegen, sondern es seine Vertreter physisch zu eliminieren. Bedauerlicherweise haben die Medien dafür gesorgt, dass sich in den Mittelschichten eine politische Subjektivität herausgebildet hat, die eine solche Vernichtung der chavistischen Bewegung nicht nur begrüßen, sondern sich auch aktiv an ihr beteiligen würde. Diese Kampagne läuft im übrigen bereits. Paramilitärische Gruppen haben in den vergangenen drei Jahren 70 Bauern-Aktivisten ermordet. Fast alle politischen Morde der letzten 4 Jahre sind an Regierungsanhängern verübt worden. Paradoxerweise sind sogar die meisten Morde an Oppositionellen von der Ultra-Rechten verübt worden. Die entscheidende Frage lautet, an welchen Punkten wir die Vernichtungspolitik stoppen werden können. Immerhin haben die Basisbewegungen die Rechte in den letzten eineinhalb Jahren zweimal geschlagen, und in den Streitkräften gibt es zumindest einen beachtlichen Sektor, der sich einer rechten Offensive widersetzen würde.
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