letzte Änderung am 30.Juli 2003

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Caracas - ein Jahr danach

Von Dario Azzellini

Auf dem Platz gegenüber des oppositionell regierten Rathauses von Caracas wurde von den bolivarianischen Basisorganisationen ein "rincón caliente” ausgerufen, eine "heiße Ecke”. Jeden Tag, von morgens bis abends, stehen hier bis zu 200 Menschen in kleinen Gruppen und diskutieren über Politik und die Situation im Land oder die wichtigsten internationalen Themen. Ana verkauft hier Kaffee aus zwei großen Thermoskannen: Klein, schwarz und süß, so wie ihn die Venezolaner mögen, eine Art Espresso in winzigen Plastikbechern. Ana ist eine robuste Frau Mitte Fünfzig mit kurzgeschnittenen grauen Haaren. Sie trägt ein Stirnband das sie als Chávez-Anhängerin identifiziert und zahlreiche Buttons zu Gunsten der bolivarianischen Revolution und gegen den Irakkrieg. Wir kommen schnell ins Gespräch und sie erzählt sie sei als Kind mit ihren Eltern nach Venezuela migriert. Trotz Armut würde sie jedoch um nichts in der Welt nach Spanien. "Hier haben wir wenigstens einen anständigen Präsidenten!” erklärt sie mir mit einem Strahlen im Gesicht, "Aznar hingegen ist ein Verbrecher, Spanien hat im April 2002 die Putschisten unterstützt!”

Ich treffe Felix Antillano, der im Aluminiumwerk Alcasa in Ciudad Guayana im Bundesstaat Bolivar im Osten des Landes arbeitet. Dort ist er in der Gewerkschaft Sintralcasa aktiv, zu der fast 90% der im Aluminiumwerk Beschäftigten gehören. Stolz erzählt er das in Ciudad Guayana der von der Oppositionsgewerkschaft CTV ausgerufene Streik im vergangenen Dezember/Januar in keiner einzigen Fabrik befolgt wurde. "Das ist auch klar, denn die aktuelle Führung der CTV kam nur durch einen Wahlbetrug an die Spitze des Gewerkschaftsdachverbandes. Die Stimmen aus Bolivar, dem größten aller Bundesstaaten, wurden gar nicht gezählt. Und vor dem Obersten Wahlrat ist seit fast einem Jahr eine Klage deswegen anhängig, doch da er lange Zeit von der Opposition kontrolliert wurde, geschah nichts.” Erzählt Felix verärgert, der für ein Gewerkschaftstreffen nach Caracas gekommen ist. Seine Gewerkschaft ist dem im April neu gegründeten Dachverband UNT (Nationale Arbeiterunion) beigetreten, so wie über 1.500 weitere Einzelgewerkschaften allein in der ersten Woche nach Gründung. Die meisten davon, so wie auch Felix‘ Gewerkschaft, die der Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, der Arbeiter der U-Bahn von Caracas und viele mehr, gehörten zuvor zu CTV. Auch die Mitgliederstärke der UNT ist bereits größer als die der unter Arbeitern verhassten CTV. "Die CTV ist völlig korrupt, hat den Putsch unterstützt, mit den Unternehmern gemeinsame Sache gemacht und vertritt schon lange nicht mehr die Interessen der Arbeiter”, so Felix. Die UNT ist allerdings keineswegs "chavistisch”, wie Felix betont, der selbst ein glühender Unterstützer des bolivarianischen Prozesses ist. "Es gab zuvor mit der FBT (Bolivarianische Arbeiterkraft) einen Versuch eine regierungsnahe Gewerkschaft zu Gründen, aber das hat genau deswegen nicht funktioniert. Eine Gewerkschaft muss, auch wenn sie den von der Regierung eingeschlagenen Weg unterstützt, unabhängig sein. Nur so kann sie die Interessen der Arbeiter vertreten. So ist das im Fall der UNT”, berichtet Felix.

Der Putsch und der Unternehmerstreik haben viele Menschen aufgeweckt und den Organisationsprozess beschleunigt. Viele Organisationen sind neu entstanden oder rasend gewachsen. Da das venezolanische Modell stark darauf basiert die Selbstorganisierung zur Basis der Veränderung zu machen, hat dies den Transformationsprozess verstärkt. Die Unterstützung für Chávez und die "bolivarianische Revolution” scheint trotz wachsender ökonomischer Probleme größer als noch vor einem Jahr. Ob die Opposition daher überhaupt die laut Gesetz für ein Referendum gegen Chávez notwendigen zwei Millionen Unterschriften zusammen bekommt scheint fraglich. Dass sie eine Mehrheit in einer Volksabstimmung erzielt noch unwahrscheinlicher. Sie ist durch die Sabotageakte in der Erdölproduktion und die absichtliche Zerstörung der Wirtschaft stark diskreditiert. Und nach bekannt werden der Verwicklung zahlreicher oppositioneller Militärs in Morde und Bombenanschläge nehmen auch immer mehr Angehörige der Oberschicht Abstand. Viele hatten der Medienpropaganda der vom ultrarechten Medienmogul Gustavo Cisneros kontrollierten großen privaten TV-Sender über ein schnelles Ende der Ära Chávez geglaubt. Eingeschlossen in ihrem luxuriösem Mikrokosmos hatten die sie Unterstützung für Chávez völlig unterschätzt. Mittlerweile organisieren sich auch bedeutende Teile der Mittelschichten in Vereinigungen, die den bolivarianischen Prozess unterstützen ­ "Clase media en positivo” nennen sich ihre Zirkel.

Das Fernsehen hämmert dennoch unaufhörlich. Alle 20 Minuten ist auf den größten privaten Sendern der gleiche Spot zu sehen: Saddam Hussein und ihm zujubelnde Massen. Die US-Truppen marschieren in den Irak ein. Ein Schnitt und Chávez erscheint, dazu Bilder jubelnder Regierungsanhänger aus unteren Schichten. Noch ein Schnitt und der Schriftzug "Jetzt holen wir dich”. In Talkshows bezweifeln Psychologen die Zurechnungsfähigkeit des Präsidenten, während gleichzeitig Stars bekannter Telenovelas sich gegen "die Diktatur in Venezuela” wenden. Argumente werden nicht geboten. In den Augen der Oberschicht ist Chávez an allem Schuld. In erster Linie natürlich an der schlechten wirtschaftlichen Situation, auch wenn diese vornehmlich durch den Abzug ins Ausland von über 33 Milliarden Dollar durch oppositionelle Großunternehmer allein von 1998-2002 und durch Einnahmeausfälle von sieben Milliarden Dollar durch die Sabotage der Erdölförderung seitens der Opposition verursacht wurde. Doch auch für jede Kleinigkeit liegt die Verantwortung beim Präsidenten. "So schlimm ist das mit Chávez” resümiert eine goldbehängte Oberschichtsvenezuelanerin Ende 50 mit einer dicken Make-up-Schicht als am Flughafen die Klimaanlage nicht funktioniert. Dabei ist die wirkliche Ursache viel einfacher. Venezuela erlebt die schlimmste Dürre der vergangenen Jahrzehnte, das Wasser ist knapp und in öffentlichen Gebäuden wurde daher der Betrieb der Klimaanlagen eingeschränkt, da diese sehr viel Wasser verbrauchen.

Doch die Hysterie der Oberschichten kennt keine Grenzen. Ihre Wohnviertel und Häuser vermitteln den Eindruck eines Kriegszustandes. Stacheldraht, Gitter, Kameras und zusätzliche Wachposten. Straßen sind mit Fässern, die mit Beton ausgegossen wurden blockiert. Es ist die Angst vor den Armen. "Chávez los tiene locos” (Chávez macht sie verrückt) rufen und singen bolivarianische Demonstranten. Die größte Unterstützung hat Chávez unter den Armen und die machen immerhin 80 Prozent der Bevölkerung Venezuelas aus. Ihre Stadtteile ziehen sich die Hänge um Caracas hoch, das in einer Senke liegt und folglich mit unzähligen Wolkenkratzern nur in die Höhe wachsen kann. Eines dieser Armenviertel ist "23 de enero”, "der 23. Januar”. Früher hieß der Stadtteil 2. Dezember, doch seitdem die Bewohner des Viertels und Militärs am 23.1.1958 die Regierung des Diktators Marco Perez Jímenez stürzten, wechselte der Name. Im Kern des 1950 entstandenen Viertels stehen einige Neubaukästen rund um einen riesigen Hof. Ein Projekt des Stararchitekten Le Corbussiere. Seine Vorstellung eines sozialeren urbanen Wohnens lässt sich allerdings nicht unbedingt als verwirklicht bezeichnen, obwohl hier eine starke soziale Oganisierung vorherrscht. Da diese allerdings auch dazu führte, das von diesem Stadtteil aus zahlreiche Proteste gegen mangelnde Wasser- und Stromversorgung und andere Missstände ausgingen, wurden seit 1958 bis Chávez Machtübernahme 37 Aktivisten von Polizei, Militär, Geheimpolizei oder Nationalgarde getötet. Und während des 47 Stunden dauernden Putsches war der Stadtteil Ziel von über 600 Hausdurchsuchungen durch die den Putschisten treuen Teile der Geheimpolizei. Im Laufe der Jahrzehnte ist das Viertel über die sechs- bis achtstöckigen Wohnblocks hinaus stark gewachsen, kleine Häuschen wuchern in alle Richtungen und vor allem im höher gelegenen Teil reihen sich winzige Hütten aneinander, die aus allen erdenklichen Materialien gebaut wurden. Das zentrale Leben spielt sich jedoch auf dem großen Platz zwischen den Wohnblöcken ab. Zwischen Wandgemälden von Che Guevara, den Zapatisten und Simon Bolivar wird Ball gespielt, Bier getrunken und sich unterhalten. Imbissbuden und provisorische Autowerkstätten sind hier installiert und in den garagenartigen Ladenlokalen im Erdgeschoss der Wohnblocks funktionieren kleine Läden und das Lokal der "Coordinadora Simon Bolivar”, der ältesten Basisorganisation des Stadtteils. An der Wand hängt eine große Fahne auf der der lateinamerikanische Befreier als Teil der Bauernbevölkerung zu sehen ist. "Wir sagen nicht dem Volk was es machen soll, wir lernen vom Volk” ist dort zu lesen.

Die Coordinadora unterstützt den Bolivarianischen Prozess und organisiert soziale, politische, sportliche und kulturelle Aktivitätet. Das Verhältnis zu den Regierungsparteien ist gut, doch die Organisation betont ihre Unabhängigkeit: "Uns gab es vor Chávez und es wird uns nach Chávez geben”, unterstreicht Omar, ein kräftiger Mitvierziger der ein wenig wie ein Boxer aussieht. Und er berichtet wie der Stadtteil während des Putsches gesuchten Aktivisten und Regierungsmitgliedern als Unterschlupf diente und schließlich einen unüberschaubaren Menschenstrom zum Präsidentenpalast bildete. Im "23 de enero” wurde Anfang Juni auch die erste von 57 landesweit geplanten "Boticas Populares” eröffnet, in denen die Armen Venezuelas von Ärzten des kostenlosen öffentlichen Gesundheitssystems verschriebene Arzneimittel mit Ermäßigungen von 85-90 Prozent kaufen können. Im höher gelegenen Teil des Viertels liegt eine Armeekaserne, die wie eine kleine Festung aussieht. Von hier aus kann man die gesamte Innenstadt überblicken, den Präsidentenpalast und seine Höfe mit eingeschlossen. Daher gingen die meisten Armeerebellionen und Putschversuche der vergangenen 100 Jahre von dieser Kaserne aus, auch der Putschversuch von Hugo Chávez 1992 gegen den heute wegen Korruption angeklagten Carlos Andres Perez.

Vor der Kaserne haben Bewohner des Viertels einen schmalen Streifen begrünt und überschwenglich "Parque Che Guevara” getauft. Gegenüber ist auf Wandtafeln eine Ausstellung zum Putsch zu sehen. Ich frage am Kasernentor ob ich fotografieren darf. Der ranghöchste Kommandant wird geholt und erklärt mir, dass dafür eine Genehmigung des Verteidigungsministeriums notwendig sei, die allerdings innerhalb weniger Stunden ausgestellt werde. Er fragt mich woher ich komme und was ich in Venezuela tue und als ich ihm von meinem großen Interesse am bolivarianischen Prozess berichte, strahlt er, schüttelt meine Hand und versucht telefonisch eine Genehmigung einzuholen. Doch es ist schon früher Abend und die Verantwortlichen sind nicht mehr zu erreichen. Die wachhabenden Soldaten haben sich ebenfalls genähert, reichen mir die Hand und versprechen mir zum Abschied: "Wir in dieser Kaserne werden niemals zulassen, dass der Prozess rückgängig gemacht wird. Wir stehen auf Seiten des Präsidenten und des Volkes”.

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