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Updated: 18.12.2012 15:51
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Knoten in der Kette

Jane Slaughter* über Einzelhandel, Logistik-Outsourcing und Leiharbeit in den USA

Wenn man die Fernstraßen 55 oder 80 südwestlich von Chicago entlang fährt, gleiten kilometerlang anonyme, fensterlose Lagergebäude an einem vorbei. Jedes Jahr werden hier Waren im Wert von einer Billion Dollar umgeschlagen. Damit ist dies einer der größeren Knotenpunkte im globalen Netz der Verteilung von Konsumprodukten.

Computer, Klimaanlagen, Staubsauger und Halloween-Kostüme kommen im Bauch von Schiffen aus Asien an den Häfen der US-Westküste an, werden auf Züge geladen und rattern weiter nach Chicago, das in Carl Sandburgs gleichnamigem Gedicht in einer Hommage an die Beschäftigten des Warenumschlagplatzes die »Stadt der breiten Schultern« heißt. Dort treffen sich die sechs Hauptstrecken der US-Eisenbahn. Die Waren kommen in Güterwaggons herein, werden von den ArbeiterInnen abgeladen und an die großen Einkaufszentren weiterverschickt.

Dazwischen liegt ihre Zeit in einem Lagerhaus. »Nichts von all den Sachen bei Ihnen zu Hause wäre dort, wenn es uns nicht gäbe«, sagt Monica Morales, die früher in einem Lagerhaus des Staubsaugerherstellers Bissell gearbeitet hat: »Es gibt nicht viele Gegenstände, die nicht durch unsere Hände gehen.«

Morales wurde im November 2009 gemeinsam mit 70 KollegInnen entlassen – eine Woche, nachdem sie ihren Arbeitgeber, das Logistikunternehmen Maersk, wegen Verstößen gegen den Mindestlohn, gegen Bürger- und Arbeitsrechte angeklagt und das Management von der Bildung einer Gewerkschaft unterrichtet hatten.

Morales ist Mitglied von Warehouse Workers for Justice (WWJ), einem Workers Center, das dem Gewerkschaftsverband United Electrical Workers (UE) angehört. WWJ vereint Beschäftigte quer durch die verwirrende Vielzahl der Subunternehmen, die in den Lagerhäusern operieren, und hilft beim Kampf für die Beschäftigtenrechte mittels Gerichtsprozessen, medialem Druck und Aktionen am Arbeitsplatz.

Am 15. Oktober hat sich bei der UE mit Unterstützung von WWJ ein Organizing-Komitee mit 50 AktivistInnen aus unterschiedlichen Betrieben konstituiert. Das ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Gründung einer Gewerkschaft der 150 000 LagerhausarbeiterInnen in der Region.

Das Komitee wählte eine Leitung und hielt Videokonferenzen mit Lagerhausbeschäftigten in New Jersey und Kalifornien ab, die zur gleichen Zeit ähnliche Treffen hatten.

Mehrheitlich Leiharbeiter

Die Themen gehen den Beschäftigten der Lagerhäuser ebenso wenig aus wie die Hindernisse.

Große Einzelhandelsunternehmen wie WalMart heuern für den Betrieb ihrer Lagerhäuser oft Logistikunternehmen an, die sich wiederum ihr Personal häufig von Leiharbeitsfirmen holen. Bei einer Untersuchung [1], die WWJ mit Unterstützung von ForscherInnen der Universität Chicago durchführte, kam heraus, dass 63 Prozent der LagerhausarbeiterInnen im Will County westlich von Chicago bei Zeitarbeitsfirmen beschäftigt sind. Allein in diesem Bezirk gibt es 100 Zeitarbeitsfirmen, sowohl große, landesweit agierende wie Staffmark als auch kleine lokale.

»Das ist die Richtung, in die sich unsere Wirtschaft entwickelt«, konstatiert Mark Meinster von UE. »Diese Art der Beschäftigung durch Leiharbeitsfirmen sehen wir in der Produktion, im Gastgewerbe, im Gesundheitsbereich und sogar im Handel. Wenn Gewerkschaften in dieser Ökonomie Macht aufbauen wollen, müssen wir die Leiharbeiter organisieren.«

Ein Fünftel der für die Untersuchung Befragten war seit mindestens einem Jahr als Leiharbeitskraft beschäftigt. 44 Prozent hatten im letzten Jahr in mindestens zwei Lagerhäusern gearbeitet und konnten keine Direktanstellung finden.

Der mittlere Stundenlohn der untersuchten LeiharbeiterInnen betrug 9 USD, während die Stammbeschäftigten 12,48 USD verdienten. Kaum eine/r der Leihbeschäftigten hatte Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaub oder Krankenversicherung. Ein Viertel aller Lagerhausbeschäftigten erhielt irgendeine Form staatlicher Unterstützung.

Ein Viertel der Beschäftigten waren Frauen, gut ein Drittel unter 26 Jahre alt. Fast die Hälfte waren Afroamerikaner und gut ein Drittel Latinos.

Ein großes Thema ist Akkordarbeit bei der Bezahlung der Beschäftigten pro Schiffscontainer. Je nach Inhalt können zwei Beschäftigte mit der Entladung in ein paar Stunden fertig sein – oder aber eine ganze Schicht dazu brauchen, was dann ihren Lohn unter die Mindestlohngrenze drückt.

Druck auf die Generalunternehmer

Obwohl das System der Vergabe von Aufgaben an Subunternehmer für das gewerkschaftliche Organizing eine Herausforderung darstellt, kann es überwunden werden, meint Meinster: »So wie die SEIU-Kampagne Justice for Janitors auf die Gebäudeeigner abzielte, die die eigentliche Macht hatten, zielen wir auf die großen Einzelhandelsunternehmen, die vom Missbrauch der Arbeitskräfte in ihrer Zulieferkette profitieren.

WWJ hat inzwischen durch ihr Organizing eine hinreichend stabile Verankerung bei den Belegschaften erreicht, so dass sie tatsächlich Verbesserungen für die Beschäftigten erzielen kann.

Unterstützung kommt von einem ungewöhnlichen Gesetz, das in Illinois gilt und den Leiharbeitskräften einige Rechte verleiht. In dem Gesetz ist bspw. die Pflicht der Leiharbeitsfirmen festgelegt, die Beschäftigten über ihre Löhne und Aufgaben zu unterrichten, sowie das Recht der Beschäftigten auf einen sicheren, geheizten Aufenthaltsbereich mit Sanitäranlagen.

Am wichtigsten aber ist, dass das Gesetz nicht nur die Leiharbeitsfirmen, sondern auch deren Auftraggeber in der Verantwortung sieht, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen. Damit können Beschäftigte Klage gegen WalMart oder Home Depot einreichen, wenn es in deren Lagerhäusern zu Verstößen kommt.

»Anstatt lediglich Klage vor Gericht einzureichen, protestieren die Beschäftigten aber auch z.B. mit einem march on the boss gegen ihren Arbeitgeber oder organisieren Pressekonferenzen, um Verstöße öffentlich zu machen«, berichtet Meinster. In einem großen Lager, das Läden mit internationalen Lebensmitteln beliefert, erhoben zehn Latino-Beschäftigte den Vorwurf, sie seien aufgrund ihrer Herkunft entlassen worden. Unterstützt von WWJ protestierten sie mit einer Unterschriftenkampagne und Aktionen gegen das Management. WWJ organisierte den Besuch einer vielköpfigen Delegation mit einflussreichen Persönlichkeiten der Chicagoer Latino-Community im Betrieb. Diese warnten das Management, eine Diskriminierung von Beschäftigten lateinamerikanischer Herkunft werde einen Warenboykott nach sich ziehen. Die Betroffenen wurden wieder eingestellt.

Aus einem Lagerhaus für Cadbury-Schokolade erreichten WWJ Beschwerden der Beschäftigten über Hakenkreuze und Ku-Klux-Klan-Schmierereien in Toiletten und Aufenthaltsräumen. Außerdem wurde berichtet, dass Manager der Zeitarbeitsfirma, die das Lagerhaus betrieb, Arbeiterinnen sexuell belästigten und Schwarze und Latinos im Hinblick auf Beförderungen diskriminierten. Mehrfach hatten sich die Beschäftigten wegen der Schmierereien und wegen alter, unsicherer Gabelstapler bereits beim Management beklagt, aber die Vorgesetzten stellten sich taub.

WWJ half den Beschäftigten, ein Komitee zu organisieren, das Unterschriftenlisten verbreitete und »Märsche gegen den Boss« organisierte. Sie reichten Klage ein, machten ihre Vorwürfe öffentlich und erregten damit großes Medieninteresse. Schließlich intervenierte Cadburys Mutterkonzern Kraft Foods: Manager wurden gefeuert, die Schmierereien entfernt und Sicherheitsprobleme gelöst. Die Diskriminierungsklagen sind vor der Gleichstellungsstelle für Chancengleichheit der Beschäftigten noch anhängig.

Am 18. Oktober reichte WWJ eine Sammelklage gegen Nexus Employment Solutions ein, die Zeitarbeitsfirma in einem Lagerhaus des Fleischkonzerns Tyson. Die Beschäftigten geben an, dass sie täglich eine knappe Stunde lang unentgeltlich arbeiten mussten, bevor sie einstempeln durften. »Wenn wir nicht 45 Minuten vor Arbeitsbeginn da waren, ließen sie uns nicht zur Arbeit«, berichtet Nancy Price, die zehn Monate lang für Nexus arbeitete.

»Jeder Tag ein Wettrennen«

WWJ-Mitglied Uylonda Dickerson hat ihren Job bei einem WalMart-Lager vor sechs Monaten verloren. »Dieser Job war eigentlich wie ein Wettrennen«, sagt sie. Gemeinsam mit einer Kollegin, die wie sie selbst nach Stückzahl bezahlt wurde, musste sie einen Wagen zur Tür eines Anhängers ziehen und manuell vom Hänger auf den Wagen laden, was auch immer darin war – von Swimmingpools bis zu Verandamöbeln. Dann musste der Wagen mit Muskelkraft auf die andere Seite des Lagerhauses gezogen werden, wo es galt, die Gegenstände in andere Hänger zu verladen, in denen sie in die WalMart-Einkaufszentren transportiert wurden. »Und dann gehst Du zurück und fängst wieder von vorne an«, erinnert sich Dickerson.

Heute ist Dickerson regelmäßig bei WWJ-Demonstrationen dabei. Sie hat Klinken geputzt, um Mitglieder zu werben. Bei den Treffen, sagt sie, »können wir unter uns reden. Wir überlegen, was wir besser machen können. Wir geben uns gegenseitig ein gutes Gefühl, denn genauso gut könnten wir fix und fertig sein. Wenn Du Dich hinsetzen und mit Fremden reden kannst, und es fühlt sich an wie Familie – das macht einen großen Unterschied.«

* Jane Slaughter ist Arbeitswissenschaftlerin und Redakteurin der Labor Notes.

1. Anmerkung: Der erwähnte englischsprachige Bericht über die Bedingungen der Lagerhausbeschäftigten in Will County, basierend auf der Befragung von 319 Beschäftigten aus 150 Lagerhäusern, findet sich im Netz unter www.warehouseworker.org/badjobs externer Link.

Übersetzung: Anne Scheidhauer, TIE-Bildungswerk e.V.

Quelle: Labor Notes, November 2011

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 11/11 express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link, www.labournet.de/express externer Link


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