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Updated: 18.12.2012 15:51
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Letzter Streich der UAW

Massive Lohnsenkungen und Zweidrittel-Modell bei der Krankenversicherung – Von Gregg Shotwell*

Branchentarifverträge wie in der Bundesrepublik gibt es in den USA nicht. Den unternehmensübergreifenden Abschlüssen der UAW bei »den großen Drei« (GM, DaimlerChrysler und Ford) kam daher in der Vergangenheit besondere Bedeutung zu, insofern diese als Muster nicht nur für die kleineren Unternehmen und die Zulieferer der eigenen Branche galten, sondern auch Orientierungsfunktion für unternehmensbezogene Vereinbarungen in anderen Branchen hatten. Signalwirkung, allerdings in eine ähnlich verheerende Richtung wie jetzt der Daimler-Abschlusss in der BRD, hat daher auch die letzte »Muster-Vereinbarung« von Ende April, mit der die UAW ihren Segen zu einem Zweiklassen-System von Beschäftigungsverhältnissen und zum so genannten »two-tier-system« (Zwei-Drittel-Modell) gegeben hat: Neu Eingestellte erhalten dem-nach weniger Lohn, und: Die Beschäftigten tragen künftig zwei Drittel der Beiträge für die betrieblichen So-zialleistungen, die bislang – freiwillig – von den Unternehmen finanziert wurden, selbst. In einem System, das ohnehin keine allgemeinen gesetzlichen Sozialleistungen kennt (s. Kasten), ist damit ein weiterer Schritt in Richtung Total-Privatisierung und -Individualisierung der Risiken von Lohnabhängigkeit getan. Andere Branchen haben bereits nachgezogen – im nächsten express werden wir über die Streiks gegen »two-tier« im Groß- und Einzelhandel in den USA berichten. Doch auch innerhalb der UAW regt sich Protest gegen die Vereinbarung, mit der die UAW, so Gregg Shotwell, auf dem besten Weg ist, sich überflüssig zu machen:

Die Meldung von der jüngsten Ergänzungsvereinbarung der Gewerkschaft UAW (United Auto Workers) tauchte am 30. April auf wie ein Hai im Swimmingpool. Der Tarifvertrag, den die UAW letzten Herbst bei den großen Drei und ihren ausgelagerten Teile-Produzenten Delphi und Visteon abgeschlossen hatte, beinhalte-te die Vereinbarung, sich später noch einmal zusammenzusetzen und die Löhne für Neueinstellungen bei den beiden Letzteren zu diskutieren. Bei Delphi und Visteon sind 52000 UAW-Mitglieder beschäftigt. »Ich kann es nicht fassen«, sagt Visteon-Arbeiter Jeff James aus Ohio, »dies ist der endgültige Ausverkauf«.

Die Ergänzungsvereinbarung sieht massive Zuzahlungen der Beschäftigten zur Krankenversicherung (Zwei-drittel-Modell), die Abschaffung von festen Pensionen sowie einen Anfangslohn bei Neueinstellung von 14 Dollar vor. Der Lohn kann je nach Einstufung auf 14,50, 16,50 oder 18,50 Dollar steigen, das aktuelle Lohn-niveau von ca. 24 Dollar damit jedoch nicht mehr erreicht werden. Die Vereinbarung soll bis 2011 gelten, also vier Jahre länger als der aktuelle landesweite Tarifvertrag.

Dale Jurn, Arbeiter in einer Visteon-Fabrik bei Detroit, ist empört: »Wenn sie morgen jemanden einstellen, muss er sieben Jahre arbeiten, bevor er über einen Tarifvertrag abstimmen kann. Das ist nicht mehr die Gewerkschaft, die wir geerbt haben.« Ali Canada vom Local 849 in Ypsilanti, Michigan empfindet die Vereinbarung als »Schlag ins Gesicht.« Er berichtet, dass Kollegen in seiner Fabrik auf Fotos das Gesicht des UAW-Vize Gerald Bantom zerkratzt haben. Als Bantom die Fabrik besuchte, wurde er ausgebuht.

Totengeläut

»Es ist das Totengeläut der Gewerkschaft«, sagt der Delphi-Beschäftigte Bill Hanline in Decatur, Alabama. Er sieht in der Vereinbarung »eine verheerende Preisgabe von Moral und Werten der Gewerkschaft und eine Geste umfassender Diskriminierung. Eine ganze Klasse von Arbeitern ist zu Mitgliedern zweiter Klasse degradiert worden.« Aus der UAW-Broschüre Fair Practices von 1947 zitiert Hanline das traditionelle kategorische Nein der UAW zu jeglicher Diskriminierung durch Einstellungspraktiken. »Gleichheit war immer das Lebenselixier der UAW«, erklärt er, »und nun sind wir von einer echten Bewegung für soziale Veränderung zu einer Organisation degeneriert, die das Wohl ihrer Mitglieder den Interessen der Unternehmen opfert. Angesichts der Politik der ›Partnerschaftlichkeit‹ musste es irgendwann so kommen.«

Die Mitglieder durften über die Ergänzungsvereinbarung nicht abstimmen. Im Oktober 2003 habe ich die UAW dazu aufgefordert, den Mitgliedern das Recht auf Ratifizierung einzuräumen. In Reaktion darauf schrieb die UAW International zunächst: »Der landesweite Tarifvertrag und die Ergänzungsvereinbarungen sind von den betroffenen lokalen Gewerkschaften bei General Motors und Delphi ratifiziert worden«, um dann im nächsten Satz eine Kehrtwendung zu vollziehen und zu behaupten, mein Appell sei »bestenfalls voreilig. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Ergänzungsvereinbarung, auf die Sie sich beziehen, bisher überhaupt verhandelt worden ist.«
Die UAW International betont, die Ergänzung beträfe nicht die alten Mitglieder, sondern nur Neueinstellungen. Delphi-Arbeiter Dave Jager sieht das anders: »Wenn man einen Blankoscheck unterschreibt, kann man vorher nicht wissen, was es kosten wird. Jetzt ist uns die Rechnung präsentiert worden. Wir werden alle zur Kasse gebeten.« Die Vereinbarung sieht keine Lohnsenkung für Fachpersonal vor. Dennoch meint Dave Fowler, Maschineningenieur bei Delphi: »Es betrifft uns alle. Es ist für uns alle degradierend. Ingenieure bilden keine isolierte kleine Gruppe. Ich bin auf die Hilfe von den Leuten angewiesen, die die Arbeit an den Maschinen machen.
Mark Farris von der Visteon-Kunststofffabrik in Milan, Michigan, macht sich keine Illusionen: »Wenn Visteon die Gelegenheit bekommt, die Leute loszuwerden, die 26-27 Dollar die Stunde verdienen, und die Fabrik mit Kids aufzufüllen, die die Arbeit für 14-15 Dollar machen und ihre Krankenversicherung teilweise selber zahlen, dann werden sie das auch tun.«

Er vermutet, dass Visteon Abfindungen anbieten wird, um teure Alt-Beschäftigte zum Aufhören zu bewegen. So hat es damals in einem Fall mit Präzedenzcharakter auch der Teileproduzent Metaldyne gemacht, nachdem er DaimlerChrysler eine Fabrik in Indiana mit gut bezahlter Belegschaft abgekauft hatte. Im noch schlimmeren Fall könnten Unternehmen versuchen, gut bezahlte Beschäftigte loszuwerden, indem man einfach die Bandgeschwindigkeit erhöht und die Leute rauswirft.

Die zur Zeit in den Fabriken meistgestellte Frage: »Werden die Funktionäre der UAW International ihre eigenen festen Pensionen aufgeben und sich selbst auf das Zweidrittel-Modell einlassen?« interessiert mich nicht besonders – große Tiere und Bürokraten sind meine geringste Sorge. Ich sorge mich eher um die nächste Generation der Auto-Arbeiter – diejenigen, von denen ich im Alter abhängig sein werde. Die Sicherung unserer Ruhestände wird an UAW-Mitgliedern zweiter Klasse hängen, die an festen Pensionen und dem Vermächtnis der UAW kein besonderes Interesse haben können.

Kürzlich hat Jay Wilkins, eines dieser neuen ›zweitklassigen‹ UAW-Mitglieder in Anderson, Indiana in einer E-Mail geschrieben: »Das ist alles ein Haufen Mist. Ich hasse diese Gewerkschaft, und ich hasse meinen Job, denn es kann nicht richtig sein, dass jemand für denselben Job doppelt so viel verdient wie ich (...) tatsächlich machen die sogar die leichteren Jobs in der Fabrik (...) z.B. Jobs, die man im Sitzen machen kann, Transportjobs, Gabelstaplerfahrerjobs etc. Außerdem sind sie meistens auch noch faul.« Das schlimmste daran ist, dass dieser neu eingestellte Arbeiter nicht das Unternehmen hasst, das seine Arbeitskraft ausbeutet, sondern seine Kollegen und die Gewerkschaft, von der er sich betrogen fühlt.

Die UAW International behauptet, die Ergänzungsvereinbarung werde Delphi und Visteon zu mehr Wettbewerbsfähigkeit verhelfen und Jobs retten. Bleibt bloß die Frage: Wer rettet die Gewerkschaft?

* Gregg Shotwell arbeitet bei Delphi in Coopersville, Michigan, und gehört dem UAW-local 2151 an

Quelle: Labor Notes, Juni 2004, Übersetzung: Anne Scheidhauer

Das US-Gesundheitssystem

In den USA gibt es kein universelles soziales Sicherungssystem für die Gesundheitsversorgung. Es lassen sich im Wesentlichen drei Sicherungssysteme unterscheiden:

  1. Medicare hat als Zielgruppe die ab 65-Jährigen und deren Unterhaltsberechtigte sowie Invalide (insgesamt ca. 40 Millionen Menschen). Es wird paritätisch finanziert durch Sozialversicherungsbeiträge der AG und der AN (ca. 1,5 Prozent) und fordert von den Betroffenen massive Zuzahlungen vor allem für die in den USA sehr teuren Arzneimittel.
  2. Medicaid soll die Gesundheitsversorgung der Bedürftigen (ca. 47 Millionen Menschen) absichern und wird etwa zur Hälfte durch Bund und Bundesstaaten finanziert.
  3. Das dritte Sicherungssystem ist die private Krankenversicherung, die zum größten Teil die Form einer Gruppenversicherung durch den Arbeitgeber mit einem meist kommerziellen Gesundheitsdienstleister (HMO) hat. In der Regel sind Familienangehörige eingeschlossen; der Versicherte darf aber nur zu einem Arzt gehen, der mit der entsprechenden HMO einen Vertrag hat. Die Prämien wurden bislang ganz bzw. zum größten Teil vom AG getragen und sind steuerfrei. In der Regel müssen noch hohe Zuzahlungen durch die Patienten geleistet werden. In den USA gibt es international die mit Abstand höchste Eigenbeteiligung von Patienten, sie liegt bei durchschnittlich ca. 20 Prozent der Ausgaben. Die Krankenversicherung durch den AG ist allerdings freiwillig.

Zwei Drittel der US-Amerikaner im arbeitsfähigen Alter sind so krankenversichert; d.h., mit dem Verlust ihres Jobs verlieren die AN in der Regel auch ihre Krankenversicherung. Aktuelle Studien zeigen, dass fast 40 Prozent (85 Millionen) US-Amerikaner im arbeitsfähigen Alter zwischen 1996 und 1999 zeitweise ohne Krankenversicherung waren – davon 45 Millionen Menschen über ein Jahr lang. Insgesamt sind in den USA permanent ca. 20 Prozent der Bevölkerung (über 40 Millionen Menschen) mit steigender Tendenz nicht krankenversichert (und noch einmal so viele unterversichert). Das sind Arbeitnehmer und deren Familienangehörige, deren Arbeitgeber keine Gruppenversicherung haben, Arbeitslose und Nichterwerbstätige, deren Einkommen sie nicht für Medicaid berechtigt und Personen, die wegen früherer Erkrankungen nicht mehr versichert werden sind. Eine reine Individualversicherung ist sehr teuer und für die Mehrzahl der Menschen nicht finanzierbar.

Insgesamt haben die USA das mit Abstand teuerste Gesundheitssystem der industrialisierten Welt (Pro-Kopf-Ausgaben sind ungefähr doppelt so hoch wie in Deutschland) – bei vergleichsweise schlechten Werten in den Indikatoren Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit.
NaRa

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 6-7/04


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