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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Wir könnten, aber wir werden nicht Eckardt Johanning* prüft US-Wahlprogramme auf Herz & Nieren Während im Moment der Begriff »notleidend« eher für Kredite oder Bankhäuser verwendet wird und zum aktuellen Zeitpunkt das Ausmaß der Krise der Finanzen weder für die Masse der Bevölkerung in den USA, noch für den Rest der Welt abzuschätzen ist, hat sich Eckardt Johanning der Mühe unterzogen, zu analysieren, wie sich die beiden Präsidentschaftskandidaten(-teams) in den USA die Reform des Gesundheitswesens vorstellen und ob sich für den wirklich notleidenden Teil der Bevölkerung in den USA, nämlich die Millionen nicht Krankenversicherten und die Unterversicherten, etwas verbessern wird. Das Ergebnis fällt auch für Obama ernüchternd aus. Yes, we can? – But we won’t! Wie die US-Gewerkschaften damit umgehen, beschreibt Nadja Rakowitz in ihrem Artikel: »Kotau vorm Kapital?«, Gewerkschaften und Gesundheitsreform im US-Wahlkampf In wenigen Tagen werden Millionen stimmberechtigter US-Amerikaner die Wahl haben zwischen dem republikanischen Team, Senator John McCain und der Bürgermeisterin und Gouverneurin Sarah Palin, und den demokratischen Senatoren Barack Obama und Joseph Biden Jr. Beide Teams haben ihre Vorstellungen und Gesundheitsreformpläne mehr oder weniger genau benannt, kurz gefasst sehen sie so aus: McCain/Palin stehen für mehr private Initiative und markwirtschaftliche Lösungen, Obama/Biden sprechen von einem nationalen umfassenden »universalen« Gesundheitsplan (National Health Plan) in der nahen Zukunft. Doch was dahinter steckt, fragen sich viele Spezialisten und auch die Befürworter von Physicians for a National Health Program (PNHP) [1]. Das Problem in den USA lässt sich zur Zeit kurz so beschreiben: 47 Millionen US-Amerikaner sind nicht krankenversichert, darunter ca. neun Millionen Kinder. Die Mehrheit der Nichtversicherten hat zwar einen Job, kann sich jedoch keine Krankenkasse leisten. Die Prämien für die Krankenversicherung sind in den letzten sechs Jahren vier mal stärker gestiegen als die Löhne. Fast elf Millionen US-Amerikaner geben mehr als ein Viertel ihres Einkommens für die Gesundheitsversorgung aus, die Hälfte der persönlichen Insolvenzerklärungen wird durch Krankheitskosten und -rechnungen verursacht. Viele Krankenkassen schränken Leistungen und freie Arzt- und Therapiewahl erheblich ein, Selbstbeteiligungsbeiträge und Nebengebühren belasten die oft Unterversicherten zusätzlich, und die Zahl der »vergüteten« bzw. von ihrem jeweiligen Vertrag finanziell abgedeckten Arztbesuche und Krankenhaustage wird von den Versicherungsgesellschaften eingeschränkt. Dabei wird erwartet, dass sich die Gesundheitskosten im nächsten Jahrzehnt verdoppeln und die US-Amerikaner zweimal soviel für ihre Gesundheitsversorgung ausgeben werden wie Menschen in anderen Industrieländern, ohne dass es ihnen dabei besser geht – in einigen Bereichen sind sie sogar schlechter gestellt. Unten stehend kurz eine Zusammen- und Gegenüberstellung der gängigen gesundheitspolitischen Themen. Auch Obamas Plan beinhaltet nicht wirklich ein öffentlich finanziertes und verwaltetes Gesundheitsversicherungsprogramm, sondern will vielmehr den universalen Zugang zu dem bestehenden System von Belegärzten, Krankenhäusern und den bestehenden Krankenversicherungen (profitorientierte oder nicht-profitorientierte) verbessern. McCain will dagegen durch Steuererleichterungen und -reformen die noch Nicht- oder Unterversicherten von den von Arbeitgebern finanzierten Krankenversicherungen weg- zu »marktbasierten« individuellen Versicherungen hinlocken. Die Medien berichten über diese Pläne sehr wenig – das Thema scheint einfach zu kompliziert. Interessierte Wähler müssen daher im Internet nach Informationen suchen. Aber so viel ist sicher, keines der beiden zur Wahl stehenden »Teams« hat sich auf die Fahne geschrieben, alle jetzt »Nicht-Versicherten« in einer einheitlichen Gesundheitskasse oder einem einheitlichen Versorgungssystem aufzunehmen.
Beiden Wahlprogrammen gemein ist, dass sie kein wirkliches »Single Payer«-System für eine Nationale Krankenversicherung vorsehen, wie es von den Physicians for a National Health Program (PNHP) und anderen Organisationen gefordert wird. Keines der Programme und Konzepte für Gesundheitsreformen zeichnet sich durch Einfachheit, Kostenersparnis und verbesserte Versorgung für alle in den USA lebenden Menschen aus. Obamas/Bidens Plan würde die finanzielle Unterstützung von Armen durch den Staat damit verbinden, dass große Arbeitgeber und Firmen die Mitfinanzierung übernehmen, und insofern die Existenz der privaten/betrieblichen Krankenversicherungen fördern. Problematisch an McCain/Palins Vorschlag ist insbesondere die Frage des Ausschlusses und der Benachteiligung bei Neu-Versicherungsanträgen oder bei Versicherungswechsel von Betroffenen mit vorher bestehenden Erkrankungen (z.B. Diabetes, Krebs, etc.) oder chronischen Erkrankungen (Rheumatismus, Rückenschäden etc.). Dieser Punkt bleibt in den Plänen zur Selbstversicherung im privaten Bereich unberührt. Die gesundheitspolitisch engagierte Frau des ehemaligen demokratischen Präsidentschafts-Kandidaten Edwards erklärte, immerhin das habe sie mit McCain wohl gemeinsam, dass sie ebenso wie McCain, der Hautkrebs hat, mit ihrer Brustkrebserkrankung unter dem republikanischen Versicherungsprogramm nicht versichert würde. McCain verlässt sich auf die private Initiative bzw. den privaten Gesundheitsmarkt, um das Gesundheitssystem zu verändern. Dabei muss jetzt schon eine Durchschnittsfamilie im Jahr ca. 12000 US-Dollar für die Krankenkassenprämien zahlen, ohne dass Selbstbeteiligung und nicht-gedeckte Auslagen eingerechnet sind. Hinzu kommt, dass die meisten Health Maintenance Organizations (HMO) [6] den freien Zugang und die Wahl des Arztes für die Versicherten stark reglementieren. Obwohl McCain so tut, als ob die Versicherungsnehmer auf dem Markt ihre »freie Wahl« hätten, sieht die Wirklichkeit so aus, dass die Arzt- und Krankenhauswahl eingeschränkt wird durch Vertragsärzte und Krankenhäuser, die von den Versicherungen kontrolliert werden. Auch Obamas Behauptung, er werde eine universelle und allumfassende Versicherung einführen und zu-gleich die Kosten senken, ist zu bezweifeln, denn er lässt das bestehende Privatversicherungssystem und dessen Mängel bestehen. Von selbst werden in diesem Bereich weder preisgünstige Krankenversicherungen entstehen, noch gute Versicherungsleistungen angeboten. Sein Vorschlag zur Schaffung eines allgemeinen Versicherungsfonds wird nicht leicht zu realisieren sein, und die Qualität der Versorgung und Leistungen innerhalb der nicht-profitorientierten Versicherungen wird von der Finanzierung dieses Plans abhängen. Obama hat zwar zugegeben, dass ein »Single Payer«-Versicherungssystem die bessere Lösung für eine Gesundheitsreform wäre, doch seine konkreten Pläne gehen nicht so weit. Eine Gesetzesinitiative, die auf dem Single-Payer-Prinzip beruht, besteht aber bereits im Kongress: der »U.S. National Health Insurance Act« (HR 676), eingebracht von dem progressiven Abgeordneten John Conyers (Michigan). Für diese weitergehende Gesundheitsreform, die auch von diversen Gewerkschaften unterstützt wird, setzen sich zur Zeit 90 Abgeordnete im Kongress ein – mehr als für jede andere Gesundheitsreforminitiative bislang. * Eckardt Johanning ist Mitglied des Vereins demokratischer Ärztinnen und Ärzte sowie der »Physicians For a National Health Program« und lebt in New York. Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 10/08 (1) Die »Physicians for a National Health Program« sind eine »non-profit«-Organisation. Sie verfolgen in ihrer politischen Arbeit die Durchsetzung einer einheitlichen (quasi-)öffentlichen Gesundheitsversicherung für alle in den USA Lebenden. Seit 20 Jahren streitet die mittlerweile über 14 000 Mitglieder zählende Organisation für dieses Ziel. In erster Linie würden von dessen Durchsetzung jene 46 Millionen US-AmerikanerInnen profitieren, die nicht krankenversichert sind. Als Folge dieser Unterversicherung sterben nach einer Schätzung des Institute of Medicine jährlich 18000 US-AmerikanerInnen. Die Webseite von PNHP (www.pnhp.org ) enthält zahlreiche interessante Beiträge über das US-amerikanische Gesundheitswesen und seine Stellung im internationalen Vergleich. (2) www.johnmccain.com/Informing/Issues (3) www.barackobama.com/issues/healthcare/ (4) »Retail Health Clinics« sind ambulanzähnliche Einrichtungen in Einkaufszentren (z.B. Wal-Mart), Warenhäusern und Großdrogerien, die inzwischen in einigen Bundesstaaten der USA eingeführt wurden (mittlerweile gibt es ca. 400 Retail Clinics). Es gibt dort keine ärztliche Kompetenz oder Verantwortung, auch keine ärztliche Haftung. Betreut wird man von einer Krankenschwester oder einem Arzthelfer. Die Behandlung ist auf Schnelligkeit angelegt. Versicherungen erlauben den Retail-Kliniken zum Teil, die vorgeschriebenen Zuzahlungen der Patienten zu senken oder ganz auf diese zu verzichten, während Ärzte diese erheben müssen – dies ist ein Wettbewerbsnachteil für die Ärzte, deren sicher berechtigte Kritik an den Retail Health Clinics aber auch vor diesem Hintergrund gesehen werden muss. Vgl. hierzu: Ronald D. Gerste: »Retail Health Clinics. Medizin aus dem Supermarkt«, in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 40, 5. Oktober 2007, S. A 2711f.; Einige Berufsverbände, wie z.B. der der Kinderärzte und der der Familienärzte, lehnen diese kommerziellen Einrichtungen ab. (5) »Medical home programs« sind Grundversorgungs-Einrichtungen, die in den USA zunächst in der kinderärztlichen Versorgung entstanden waren, heute aber für alle Gemeindemitglieder da sind. Es sind Gemeinde-Gesundheitszentren, die die medizinische und soziale Versorgung koordinieren – nach dem Motto: »Alles unter einem Dach«. Früher hatten diese Funktion die Hausarzt- oder Landarztpraxen. (6) »Health Maintenance Organization« (HMO) bezeichnet das in den USA übliche Krankenversicherungs- und Versorgungsmodell. HMOs sind Gesundheitsdienstleister, die sowohl die Funktion der Krankenversicherung als auch der Leistungserbringer haben. |