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Updated: 18.12.2012 15:51
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Bericht über die Situation der türkischen Lehrergewerkschaft Egitim- Sen nach ihrem Verbot

In der Zeit vom 3.6.- 12.6.2005 führten das DGB- Bildungswerk und der DGB- Nordhessen einen Bildungsurlaub (Seminar) zur Situation der türkischen Gewerkschaften durch. Die Referenten, Verdi- und IGM-Mitglieder, arbeiten auch im EMEK Solidaritätsverein mit. Die Mitglieder der Seminargruppe aus Nordhessen sind in der IGM, bei Verdi und ein Kollege in der GEW organisiert. Neben dem langfristig geplanten Seminarprogramm ergaben sich durch die aktuelle Verbotsverfügung gegen die Egitim- Sen eine Reihe von Kontakten mit KollegInnen dieser türkischen Lehrergewerkschaft. Ein Bericht auch mit Informationen zur Geschichte der Lehrergewerkschaft von Wilhelm Frohn vom 23. Juni 2005

Teilnahme an Demonstrationen

Am Samstag, den 4.6.05 nahmen alle Teilnehmer aus Deutschland an einer Protestdemostation gegen das Verbot der Egitim- Sen in Istanbul/Kadiköy teil. Diese sehr kämpferische Demo und Kundgebung (ca. 7.000 Teilnehmer) wurde von der Polizei sehr dicht bewacht. Der Demozug war mit Polizeigittern gegen die Bevölkerung abgeschirmt. Auf den Kundgebungsplatz konnte man nur das Passieren von engen Personenschleusen, vergleichbar den Sicherheitsschleusen auf internationalen Flughäfen, gelangen.

Auf der Kundgebung konnten wir eine Solidaritätsadresse der jungen GEW Nordhessen an die Egitim- Sen überreichen. Wir wurden - mit unseren Gewerkschaftsfahnen von Ver.di – mit großer Herzlichkeit empfangen und bei der Kundgebung gesondert vom Sprecher begrüßt. Als deutsche KollegInnen wurden wir sofort gebeten, an der Spitze des Zuges mitzugehen, um die Haupttransparente mit zu tragen.

Am Samstag, den 11.6.05 unterstützten 2 Personen unserer Delegation eine Pressekonferenz/ einen Protestmarsch vom Istanbuler Taksim- Platz bis zur Post beim Galatasaray Lisesi (Gymnasium). Diese Protestaktion gegen das Verbot der Egitim- Sen wurde von der Polizei, darunter schwer bewaffnete Spezialtruppen, gegenüber der Bevölkerung abgeschirmt. Anfänglich war verboten, dass die Protestresolution von den knapp 400 Personen zur Post und von dort an den Ministerpräsidenten Erdogan übermittelt werden konnte. Dann wurde der ca. 800 Meter- Marsch gestattet - aber die Fahnen der Lehrergewerkschaft und die beiden Haupttransparente sollten vorher eingepackt werden. Schließlich wurde nach nervigen Verhandlungen doch der kurze Marsch mit Fahnen und Transparenten zugelassen. Am Galatasaray Lisesi wurde über Megafon die Protestadresse gegen das Verbot und "für eine freie Gesellschaft und für eine demokratische Türkei" verlesen. Diese Protestresolution wurde von über 350 Gewerkschaftsvorsitzenden, bekannten türkischen Schriftstellern und Dichtern und vielen Professoren verschiedenster türkischer Universitäten unterzeichnet. Am Ende der "Pressekonferenz" wurde die Resolution an den Ministerpräsidenten über die Post, PTT zugestellt.

Gespräche mit Vertretern der Lehrergewerkschaft

Am 7.6 und am 10.6.05 trafen wir uns mit zwei Bezirksvorsitzenden aus Istanbul und anderen Mitgliedern der Egitim- Sen, und wir haben die Entwicklung aktuelle Situation dieser türkischen Lehrergewerkschaft ausführlich dargestellt bekommen.

Die Egitim –Sen wurde im Jahr 1990 neu gegründet. (Vorgängerorganisationen waren nach den Militärputschen von 1973 und 1980 verboten worden) Die Egitim- Sen gehört dem Dachverband KESK an. Die KESK ist nach aktuellem Gewerkschaftsrecht die Förderation für Beschäftigte/ Beamte im öffentlichen Dienst. Bei dieser Föderation sind Gewerkschaftsrechte eingeschränkt. (Die weiteren Dachverbände heißen: Türk-Is, DISK und die religiöse Hak-Is.)

Die Egitim- Sen hat mittlerweile über 210.000 Mitglieder. Sie hat in der Türkei 91 Verwaltungsstellen aufgebaut. ( In dem bis zu 15 Mio Einwohner zählenden Bereich von Groß- Istanbul allein 7 Verwaltungsstellen) Sie haben kein Streikrecht, jedoch das Recht Tarife abzuschließen.

Wie bei allen anderen Gewerkschaften besteht dieses Tarifrecht aber nur dort, wo es gelingt, in einem Verwaltungsbezirk (der Stadt oder der Provinz) über 20% der jeweils zur Branche zählenden Beschäftigten zu organisieren. Darüber hinaus besteht das Tarifrecht nur in einem konkreten Betrieb (in diesem Fall einer Schule, Uni etc) in dem mehr als 50% nachweislich gewerkschaftlich organisiert sind. Der Nachweis muss notariell (und kostenpflichtig) beglaubigt werden und ist dem Arbeit-’geber’/ Patron –hier Schulbehörde etc.- vorzulegen. Sehr häufig versuchen die Unternehmer die angezeigten Gewerkschaftsmitglieder unter verschiedensten Vorwänden rauszuschmeißen, bevor die 51%- Quote erreicht ist.

Die Egitim- Sen setzt sich nicht nur für die ökonomischen Rechte, sondern auch für politische/ demokratische Rechte ihrer Mitglieder ein. Z. B. Rechte gegenüber den vorgesetzten Schulbehörden, Kampagnen gegen Privatisierungen, Erscheinungsformen im Kapitalismus, gegen Imperialismus, für Frieden und gegen den Krieg.etc ein. Aufsehen hat die Egitim-Sen in der letzten Zeit besonders dadurch erregt, dass sie sich mit den SEKA- Arbeitern (Beschäftigte in der türkischen Papierindustrie) solidarisiert hat, die türkeiweite Aktionen und Streiks/ Betriebsbesetzungen gegen Massenentlassungen und Privatisierung durchgeführt haben.

(Neben dieser Gewerkschaft im Dachverband KESK gibt es noch zwei nennenswerte Organisationen für Lehrer: Eine ist nationalistisch und eine andere religiös – Egit-Bir-Sen - ausgerichtet.)

Verbots - Gründe

Auf Grund dieser politischen Forderungen der Egitim- Sen steht die Gewerkschaft unter Druck und soll nach den Vorstellungen der (über der Verfassung stehenden) Militärs, aber auch der momentanen Regierungspartei AKP verboten werden.

So erhalten Gewerkschaftsmitglieder keine ihnen zustehende wichtigen Stellen in der Schulbehörde oder sie werden (straf)versetzt. In den letzten Jahren erfolgten in diesem Zusammenhang ca 10.000 Anzeigen bzw. Prozesse. Bei der gewerkschaftlichen und juristischen Gegenwehr konnten aber auch über 3.000 Prozesse gewonnen werden.

Die aktuelle Verbotsverfügung basiert auf einer scheinbar harmlosen Ergänzung der Satzung der Egitim- Sen. Vor einigen Jahren wurde im §2b der Satzung die Forderung nach muttersprachlichem Unterricht aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt entspannte sich (scheinbar) auch die rigorose Haltung zur türkischen Staatssprache bzw. zu den nationalen Minderheiten (in der Türkei heißt das: der Kurdenfrage!). Beispielsweise beginnen seitdem die Sendungen im staatlichen Rundfunk TRT morgens um 6Uhr mit kurzen Beträgen in Minderheitensprachen wie griechisch, armenisch, larsisch aber auch kurdisch.

Diese Satzungsänderung wurde deshalb auch vom zuständigen Ministerium ohne weitere Reaktion akzeptiert.

Im Jahr 2004 wurde von einem hohen Militär und dann auch von der Staatsanwaltschaft Klage gegen den §2b "kurdischer Separatismus" erhoben. Das 2. Arbeitsgericht in Ankara hat dieser Klage aber nicht stattgegeben, und es hat diesen § akzeptiert. Bei der Berufung hat das oberste türkische Gericht diesem Freispruch widersprochen, und es an das Arbeitsgericht zurück überwiesen. Trotz dieser Vorgabe hat das 2. Ankaraer Arbeitsgericht zum zweiten Mal diesem §2b der Egitim- Sen zugestimmt.

Daraufhin hat das oberste türkische Gericht im Mai 2005 die gesamte Gewerkschaft Egitim- Sen kurzerhand verboten, und die nun bindende Auflage an das weiter zuständige 2. Arbeitsgericht erteilt, die Schließung der Gewerkschaft zu verfügen und dann umzusetzen.

Unsere Gesprächspartner von Egitim- Sen sind der Auffassung, dass dieser Mai- Gerichtsbeschluss illegal ist. Die Lehrer der Gewerkschaft wollen mit der Forderung nach muttersprachlichem Unterricht Kindern mit nichttürkischer Muttersprache überhaupt die Chance eröffnen, erfolgreich am gegebenen Bildungssystem teilzunehmen. Es geht ihnen keinesfalls um ‚kurdischen Separatismus’.

Sie glauben, dass die Verbotsverfügung zentral mit ihren politischen Forderungen wie die Ablehnung von Privatisierungen im Bildungssystem, der Forderung "Bildung für alle" und "Bildung darf nichts kosten" zu tun hat.

Im Rahmen der Verhandlungen zum EU- Beitritt vertraten sie die Auffassung, dass wohl einige ihrer Probleme um Gewerkschaftsrechte erleichtert werden könnten. Insgesamt nahmen sie aber eine kritische Haltung zur EU- Frage ein. Sie glauben nicht, dass die Bedingungen für die Türkei mit der EU automatische besser werden. „Wir müssen uns mit den Gewerkschaften, mit den Arbeitern in den europäischen Ländern verbünden, solidarisieren und zusammenarbeiten. Dann können unsere Bedingungen besser werden.“

Offenbar möchte aber jetzt die Staatsgewalt die Gewerkschaftsschließung so schnell als möglich durchsetzen. Sie hat heute das gleiche Ziel wie 1980, als die Lehrergewerkschaft TÖP- DER geschlossen und aufgelöst wurde. Und falls das Urteil rechtskräftig wird, wird Egitim- Sen mit der verfügten Auflösung das gesamte Vermögen an den Staat verlieren. Repressionen gegen die Mitglieder der dann verbotenen Gewerkschaft müssen erwartet werden.

Eine taktische Variante dem Verbot zu entgehen, könnte die Selbstauflösung der Egitim- Sen sein. Doch dann müsste die Gewerkschaftsarbeit bei einer Neugründung beim absoluten Nullpunkt beginnen.

Nach den sehr herzlichen und ausführlichen Gesprächen bedankten sich die Kolleginnen und Kollegen der Egitim- Sem für unser Interesse, für unsere Unterstützung ihres Kampfes und für die Solidaritätsadresse der GEW. Sie gaben uns verschiedene Materialien ihrer Gewerkschaft mit. Diese sollen wir an die GEW –KollegInnen weiter geben. Aber wir sollen auch solidarische Grüße an die Gewerkschafter übermitteln, die in Deutschland für ihre Rechte eintreten und kämpfen.

Wilhelm Frohn


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