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Updated: 18.12.2012 15:51
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Den Taksim zurückerobert

Türkei: Gewaltige Maikundgebung mit Hunderttausenden Teilnehmern

Von Nick Brauns, Istanbul, 03.05.2010

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©Mit einer gewaltigen Mai-Kundgebung von bis zu 300000 Teilnehmern hat die türkische Arbeiterbewegung nach 33 Jahren Verbot ihre Rückkehr auf den Istanbuler Taksim-Platz gefeiert. Auf Transparenten waren Losungen zu lesen wie: »Ihr Mörder, euer 12.-September-Putsch kann uns nicht aufhalten. Wir sind nach 33 Jahren immer noch da«.

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©1977 hatten Scharfschützen der Konterguerilla das Feuer auf die Maikundgebung der Föderation Revolutionäre Arbeitergewerkschaften DISK auf dem Taksim eröffnet. 37 Menschen wurden damals getötet. Mit solchen Massakern wurde dem Militärputsch von 12. September 1980 der Weg bereitet. Seitdem war der Taksim für die Arbeiterbewegung gesperrt. In den letzten Jahren hatte es Straßenschlachten gegeben, als Gewerkschafter versuchten, auf den Platz zu gelangen. Bereits am 30.April hatten Abgeordnete der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP eine öffentliche Pressekonferenz auf dem Taksim-Platz zum Gedenken an die Opfer von 1977 und anschließend eine spontane Demonstration mit mehreren Hundert Teilnehmern durch die Istiklal-Fußgängerzone durchgeführt.

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©Am 1.Mai hatte die Polizei hatte auch dieses Jahr mit mehr als 22000 Beamten die Innenstadt von Istanbul in eine Festung verwandelt. Kilometerlange Sperrzäune säumten die Wege zur Kundgebung, jeder einzelne Teilnehmer wurde durchsucht und insbesondere kurdisch aussehende Frauen schikaniert. Auf den Häusern um den Taksim-Platz waren Scharfschützen postiert. Doch Polizeiübergriffe blieben in diesem Jahr aus.

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©In einem dreiarmigen Sternmarsch strömten die Mitglieder der sechs aufrufenden Gewerkschaftsdachverbände, der kemalistischen Oppositionspartei CHP, der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie BDP sowie zahlreicher sozialistischer Organisationen wie der Türkischen Kommunistischen Partei, der Partei für Freiheit und Solidarität ÖDP und der Partei der Arbeit EMEP und kleinerer revolutionärer Organisationen auf den Platz. Arbeiter des staatlichen Tabakmonopols Tekel, die im Winter monatelang gegen ihre privatisierungsbedingte Entlassung gekämpft hatten, führten den Zug des Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is an. Neben Vertretern internationaler Gewerkschaftsverbände waren insbesondere aus Deutschland Dutzende Gewerkschaftsaktivisten und Mitglieder der Linkspartei, darunter der Europaabgeordnete Jürgen Klute, angereist. Sie trugen Transparente, in denen in vielen Sprachen einschließlich türkisch und kurdisch die Worte "Internationale Solidarität" geschrieben waren. Im Block der linken Gewerkschaften DISK und KESK hieß es auf Transparenten der prokurdischen BDP auf türkisch und kurdisch "Yasasin 1 Mayis! Biji 1 Gulan!" In Istanbul leben mehrere Millionen kurdischstämmige Arbeiterinnen und Arbeiter. Vereinzelt schwenkten Vermummte auch Fahnen von PKK-Führer Abdullah Öcalan inmitten der friedlich tanzenden kurdischen Kundgebungssteilnehmer.

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©Zu Provokationen kam es durch Mitglieder des äußerst rechten Türkischen Metallarbeitergewerkschaft, deren Vorsitzender wegen seiner mutmaßlichen Verwicklung in Militärputschpläne des Ergenekon-Netzwerkes angeklagt ist. Die Türk-Metall-Mitglieder drängten vor die Bühne und attackierten dort Tekel-Arbeiter sowie Mitglieder linker Gruppen mit Stangen und Schlägen. Auch eine Gasgranate wurde geworfen. So wurde die Stimmung vor der Bühne künstlich angeheizt.

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©Als dann Mustafa Kumlu, der Vorsitzende des größten türkischen Gewerkschaftsdachverbandes Türk-Is, die Eröffnungsrede halten wollte, begannen wütende Arbeiter Flaschen und Steine zu werfen. Kumlu, ein Mitbegründer der islamisch-konservativen AK-Regierungspartei und Vertrauter des Staatspräsidenten, hatte die Tekel-Arbeiter immer wieder im Regen stehen lassen, in dem er eine Ausweitung des Kampfes verhinderte. Tabakarbeiter, Feuerwehrmänner und andere aufgrund der staatlichen Privatisierungspolitik entlassene Staatsangestellte stürmten die Bühne und vertrieben Kumlu und weitere Türk-Is-Bürokraten, die sich über einen Sperrzaun in Sicherheit bringen mussten.

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©Als die Lage zu eskalieren drohte, ergriff Sami Evren, der Vorsitzende der Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes KESK das Wort. In einer kämpferischen Rede beschwor er das Erbe der in den 70er Jahren ermordeten türkischen Revolutionäre Ibrahim Kaypakkaya und Mahir Cayan ebenso wie des im Gefängnis gestorbenen Mitbegründers der Arbeiterpartei Kurdistans PKK, Mazlum Dogan. Evren forderte die vollständige Aufklärung des Taksim-Massakers von 1977 und aller anderen staatlichen Morde sowie eine friedliche Lösung der kurdischen Frage. Schließlich durfte ein Tekel-Arbeiter im Namen aller streikenden Belegschaften eine Protesterklärung gegen die Privatisierungspolitik der Regierung verlesen. Für die internationalen Delegationen sprach Selahattin Yildirim von der NGG Dortmund ein Grußwort. Yildirim erklärte, das Frieden eine Voraussetzung auch für soziale Gerechtigkeit und Demokratie sei. Viel Applaus bekam auch der DISK-Vorsitzende Suleyman Celebi für seinen Vorschlag: »Dieser Platz sollte 1.-Mai-Platz heißen, weil ihn die Arbeiterklasse trotz Verbots am 1.Mai nie vergessen hat.«

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©Auch in anderen türkischen und kurdischen Städten wie Ankara und Batman kam es zu Mai-Kundgebungen mit Zehntausenden Teilnehmern. Der 1.Mai war ein großartiger Erfolg der Arbeiterbewegung, die damit gegenüber der Regierung deutlich gemacht hatte, dass sie die neoliberale Politik der Regierung nicht mehr länger mittragen wird. Dabei wurde die Forderung nach sozialen Rechten mit der Frage einer neuen, demokratischen Verfassung und einem Ende des Krieges in Kurdistan verknüpft.

Nachbemerkung:

1. Mai 2010: Bild von Nick Brauns ©Als nächster Schritt war für den 26.Mai ein von den großen Gewerkschaftsföderationen geplanter Generalstreik zur Unterstützung der Tekel-Arbeiter vorgesehen. Doch ob dieser wirklich stattfinden wird, ist jetzt mehr als ungewiss. Zu befürchten ist, dass die Türk-Is-Führung die Angriffe auf Kumlu auf dem Taksim-Platz als Argument nimmt, um die schwer errungene Einheit der Gewerkschaftsbewegung wieder aufzukünden. Zudem verlautete aus Gewerkschaftskreisen, dass Türk-Is sich schon zuvor mit der Regierung darauf geeinigt hatte, den Generalstreik abzublasen, wenn die Maikundgebung auf dem Taksim genehmigt würde. Um diesen Rückzug öffentlich zu rechtfertigen brauchte es einen entsprechenden Anlass, der mit dem Bühnensturm geliefert wurde. Was auf den ersten Blick als gerechtfertigte Wut von Teilen der Gewerkschaftsbasis auf die verräterische Politik ihrer Führung wirkte, könnte sich als eine von dunklen Kräften des tiefen Staates organisierte Provokation entpuppen, bei der Tekel-Arbeiter und Feuerwehrleute nur die Statisten waren. Dafür spricht das Vorgehen der Ergenekon-nahen Türk-Metall-Gewerkschaft vor den Angriffen auf Kumlu. Der Sieg vom Taksim-Platz könnte sich so noch als ein Pyrrhussieg erweisen.


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