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Updated: 18.12.2012 15:51
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"Wilde" Streiks im Polizeistaat Tunesien

Mit (nach offiziellen Angaben) 94,48 Prozent der Stimmen wurde der tunesische Präsident Zine el-Abidine Ben Ali am vorigen Sonntag "wieder gewählt". Weitere Bemerkungen zu dieser Farce kann man sich wohl getrost schenken.

Praktischerweise hatte das Regime auch gleich noch die Parlamentswahlen auf denselben Sonntag angesetzt. Vorab bekannt dabei war, dass die Staatspartei RCD ­ der zwei von insgesamt zehn Millionen Tunesiern angehören, oft aus Gründen des Joberhalts ­ sich, wie immer, 80 Prozent der Sitze sichern würde. Sie strich alle 152 (von 189) Sitzen ein, die offiziell "in freier Wahl" vergeben wurden. Der Rest wird von Amts wegen auf handzahme Oppositionsparteien aufgeteilt.

Eine Opposition, die nicht mitspielt, findet sich freilich woanders wieder. Tunesien weist, mit 23.000 Gefängnisinsassen, die weltweit vierthöchste Häftlingsrate gemessen an der Bevölkerungszahl auf, hinter den USA, Russland und Südafrika. Menschenrechtsorganisationen sprechen von 600 gewaltlosen "Meinungsgefangenen", mehrere Dutzend von ihnen sitzen seit Jahren in totaler Isolation. Zuletzt wurden am 22. September der trotzkistische Journalist Jalel Zoghlami, sein gewerkschaftlich aktiver Bruder Nejib sowie ihr gemeinsamer Freund Lumumba Mohsen verhaftet. Ihr Prozess wird am Donnerstag, 28. 0ktober eröffnet. Mit 130.000 Beamten des Innenministeriums beschäftigt Tunesien mehr Polizisten als Frankreich, das sechs mal so viel Einwohner hat.

Der ehemalige Militär und in den USA ausgebildete Nachrichtendienstler Ben Ali, der später zum Innenminister aufgestiegen war, hatte am 7. November 1987 die Macht ergriffen: Er ließ seinen offiziell auf Lebenszeit amtierenden Vorgänger Habib Bourguiba kurzerhand durch die Palastärzte für amtsunfähig erklären, und erfand so den so genannten "medizinischen Staatsstreich".

Arbeiterkämpfe und "wilde" Streiks im Polizeistaat

Dennoch rumort es mitunter auch im Polizeistaats-Musterländle. Dessen anödende, repressive Stabilität wurde bisher ­ neben der bleiernen Last der Repression ­ auch dadurch abgesichert, dass die ökonomische Situation der Tunesier im Durchschnitt nicht so schlecht erschien. Zwar kennen vor allem die Randzonen Tunesiens im Süden und Westen eine deutliche Unterentwicklung. Doch gleichzeitig schien eine manifeste Massenarmut, wie viele Menschen in Algerien oder Ägypten sie durchleben, lange Zeit unbekannt. Nach offizieller (geschönter) Darstellung gehören 60 Prozent der Tunesier zu einer "breiten Mittelschicht", die als Träger politischer und sozialer Stabilität präsentiert wird. Die materielle Basis dafür lieferte vor allem das Wachstum der Textindustrie, das insbesondere in den Jahren 1997 bis 2001 hohe Zuwachsraten kannte. Das jährliche Durchschnittseinkommen der Tunesier liegt derzeit bei 3.500 tunesischen Dinar (2.275 Euro) und damit höher als in Marokko, Algerien (wo es seit 1990 um über ein Drittel gesunken ist und nunmehr hinter das tunesische Niveau zurückfällt) oder Ägypten.

Dennoch ist das tunesische "Modell" ­ autoritäre politische Kontrolle plus anhaltendes Wirtschaftswachstum gleich "Stabilität" ­ seit längerem an seine Grenzen gestoßen. Nach (höchstwahrscheinlich untertriebenen) offiziellen Zahlen sind derzeit gut 16 Prozent der tunesischen Bevölkerung arbeitslos; andere Quellen sprechen von über 20 Prozent. Dabei existieren in dem Land keine Arbeitslosengelder oder ­hilfen, sondern nur punktuelle Hilfszahlungen in Gestalt von Abfindungen, die im Falle von Entlassungen durch die Sozialversicherung ausgeschüttet werden. Schlimmer: 68 Prozent der (offiziellen Angaben zufolge) Arbeitsuchenden sind jünger als 30 Jahre, und zwei Drittel von ihnen haben mindestens Abitur oder sogar Hochschulabschlüsse. Das widerspiegelt einen Arbeitsmarkt, der nicht länger aufnahmefähig ist und den jüngeren Generationen nicht mehr viel zu bieten hat.

Tunesien, das keine Erdölvorkommen aufweist, hat sich seit längerem auf ökonomische "Nischen" spezialisiert: Auf die aus Europa abwandernde Textilindustrie sowie auf manche Zubehör-Produktionen, wie etwa die Herstellung von Sitzbezügen für die europäische Automobil-Zuliefererindustrie. Hinzu kommen natürlich der Tourismus und die damit zusammenhängenden Dienstleistungsbranchen. Zeitweise wurde auch auf die Fertigung von elektronischen Komponenten abgestellt, doch wurde hier rasch der Konkurrenzdruck durch die "noch billigere" ostasiatische Industrie spürbar. Doch nunmehr drohen ähnliche Auswirkungen der Veränderungen in der internationalen Arbeitsteilung, die oft als "Globalisierung" bezeichnet werden, auch andere Sektoren der tunesischen Ökonomie hart zu treffen.

Zum Jahreswechsel 2004/05 läuft das "Multifaserabkommen" (Arrangement multifibres) aus, ein internationales Wirtschaftsabkommen, das den Textil-Exportateuren bis dahin bestimmte Importquoten in den "westlichen Industrieländern" garantierte. Nunmehr drohen kleinere Exportländer wie Tunesien unter die "Dampfwalze" der Massenproduktion in der VR China zu geraten; Tunesien wird nach Angaben der französischen Wirtschaftspresse zu den zehn Ländern gerechnet, die in diesem Kontext "am bedrohtesten" sind. Seit nunmehr sieben Jahre hat die Europäische Union ein Hilfsprogramm laufen, um die tunesische Textilindustrie zu modernisieren; aber fraglich ist, ob ihr das noch helfen kann, da ihr einziger Wettbewerbsvorteil bisher aus "nicht qualifizierten, aber billigen" Arbeitskräften bestand. Die EU drängt jetzt, etwa im Rahmen eines Seminars "zur Zukunft der Textilbranche", das am 28. September in Tunis stattfand, auf eine Erhöhung der Produktivität, die "30 bis 40 Prozent unterhalb europäischer Normen" liege. Nach Angaben der ­ tolerierten ­ Oppositionspartei Front démocratique pour le travail et les libertés, die in der konservativen Pariser Tageszeitung Le Figaro zitiert werden, wird in Tunesien "allgemein damit gerechnet, dass ein Drittel der Textilbetriebe dicht machen müssen". Der Textilsektor entspricht bisher 50 Prozent der tunesischen Exporterlöse und 250.000 Arbeitsplätzen, das ist etwa die Hälfte der industriellen Arbeitsplätze im Land.

Doch bereits in jüngerer Vergangenheit kam es zu handfesten sozialen Konflikten in Tunesien. So führten 17 Arbeiter der Textilfirma Icab in Moknine (in der Nähe von Monastir, an der tunesischen Ostküste) im November 2002 einen 27tägigen Hungerstreik gegen den Verlust ihrer Jobs durch, nachdem die tunesisch-amerikanischen Eigentümer die Fabrik von heute auf morgen einmotten wollten. Im Juli 2003 waren es 21 Angestellte der Textilfabrik Sotapex in Sousse, ebenfalls in Osttunesien; auch hier ging es um die plötzliche Liquidierung der Fabrik durch tunesisch-französische Eigentümer.

Die Textilfabrik Hotrifa bei Moknine die in holländischem Besitz stand und zu Jahresanfang 2004 in die Türkei "verlagert" wurde, war 54 Tage lang von 270 Arbeitern und Arbeiterinnen besetzt. Sie stand unter regelrechter Belagerung der Polizei. Am Ende war es die tunesische Einheitsgewerkschaft UGTT (deren Bürokratie mit dem Staatsapparat verschmolzen ist, auch wenn es innerhalb der UGTT einen kämpferischen linken Flügel gibt), die dem Konflikt ein Ende setzte: Der Chef der örtliche Sektion, Monji Ben Salah, der den Kampf der ArbeiterInnen unterstützte, wurde vom UGTT-Generalsekretär persönlich vorgeladen und mit dem Verlust von Amt und Job bedroht, falls er dem Protest nicht ein Ende setze. Die ArbeiterInnen mussten sich am Ende mit einer einmaligen Abfindung in Höhe von 900 Euro begnügen. Dagegen besetzten die Beschäftigten der Sotapex in Sousse im April 2004 einen Monat lang die Räume der UGTT.

Die "offiziell" UGTT denkt nicht im Traum daran, diese spontan oder "wild" ausbrechenden Kämpfe zu unterstützen. Dennoch formiert sich eine neue Gewerkschaftslinke innerhalb oder am Rande der UGTT, die u.a. auch durch die Bewegung gegen den Irakkrieg von 2003 beflügelt worden ist. Basisgewerkschafter organisieren notdürftig die Unterstützung für die "wilden" Streiks, oder in anderen Fällen AktivistInnen der tunesischen Liga für Menschenrechte (LTDH) oder des tunesischen Attac-Ablegers RAID. Beide Organisationen sind bereits in den letzten Jahren ins Visier polizeilicher Repression geraten.

Auch innerhalb der UGTT selbst kommt es jetzt erstmals zu nennenswerten Konflikten. Anfang September dieses Jahres beschloss das Führungsgremium des Gewerkschafts-Dachverbands, wie üblich, seine Unterstützung für die "Kandidatur" von Staatschef Ben Ali kundzutun. Doch zum ersten Mal votierten 8 Mitglieder des 64köpfigen Gremiums offen dagegen, und 5 weitere enthielten sich der Stimme. "Nahezu ein Drittel der Basismitglieder", schreibt der Pariser Figaro, sollen in Opposition zum UGTT-Apparat stehen.

Bernhard Schmid (Paris)


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