Home > Internationales > Tunesien > wahl09 | |
Updated: 18.12.2012 15:51 |
Überraschung! Ben Ali gewählt! Noch eine Überraschung: Gefängnisse gefüllt! "Ernsthaft gegen Ben Ali antreten zu wollen, ist in Tunesien definitiv keine gute Idee. Eine noch schlechtere allerdings ist es, radikale Oppositionspolitik betreiben zu wollen. Am 29. September bekam der Anwalt Hamma Hammami, Chef der einstmals pro-albanischen, aber inzwischen gewandelten "Tunesischen Kommunistischen Arbeiterpartei" (PCOT), dies zu spüren. Am Flughafen von Tunis schlugen zwanzig Zivilpolizisten den bekannten Anwalt der Opposition auf brutalste Weise in aller Öffentlichkeit zusammen" - aus Bernard Schmids Beitrag vom 30. Oktober 2009 "Billiglohnland, Polizeistaat und Journalisten-Gefängnis" über Tunesien nach der neuerlichen Wiederwahl des früheren Geheimdienstchefs. Billiglohnland, Polizeistaat und Journalisten-Gefängnis Tunesiens Obermafiosi, pardon: Präsident Ben Ali am Sonntag "triumphal wiedergewählt" - Am Donnerstag wird unterdessen schon der dritte tunesische Journalist innerhalb einer Woche inhaftiert Eine ziemlich schwache Leistung hat Tunesiens Präsident Zine el-Abidine Ben Ali am vergangenen Sonntag (25. Oktober o9) hingelegt. Zum Antritt seines fünften Präsidentschaftsmandats erhielt er laut offiziellen Angaben nur 89,62 % der Stimmen. Eine lächerliche Zahl, wenn man gegen drei handverlesene Sparringspartner - Verzeihung: Gegenkandidaten - antritt, von denen jeder laut zur Bestätigung des großartigen Staatschefs im Amt aufruft. In diesem Falle handelte es sich um Mohamed Bouchiha von der sozialdemokratischen "Partei der Volkseinheit" (PUP), Ahmed Inoubli von der arabisch-nationalistischen "Unionistischen demokratischen Union" sowie den Ex-Kommunisten Ahmed Brahim von der postmarxistischen, liberalen Partei Ettajdid (Erneuerung). Ein weiterer Bewerber, der zu kritisch gewesen wäre oder sogar mit einer ernsthaften Kandidatur gedroht hätte, war im Vorfeld ausgeschaltet worden: Der tendenziell sozialistisch ausgerichtete Chef des "Demokratischen Forums für Arbeit und Grundrechte" (FDTL), Moustapha Ben Jaafar, wurde im Vorfeld am Wahlantritt gehindert. Extra für ihn wurde ein Wahlgesetz verabschiedet, das ihn ausschloss, weil die Zahl der erforderlichen Jahre im Vorsitz einer Partei angehoben worden war. Ernsthaft gegen Ben Ali antreten zu wollen, ist in Tunesien definitiv keine gute Idee. Eine noch schlechtere allerdings ist es, radikale Oppositionspolitik betreiben zu wollen. Am 29. September bekam der Anwalt Hamma Hammami, Chef der einstmals pro-albanischen, aber inzwischen gewandelten "Tunesischen Kommunistischen Arbeiterpartei" (PCOT), dies zu spüren. Am Flughafen von Tunis schlugen zwanzig Zivilpolizisten den bekannten Anwalt der Opposition auf brutalste Weise in aller Öffentlichkeit zusammen. Bei den vormaligen Präsidentschaftswahlen 1989, 1994 und 1999 hatte Ben Ali, der in den achtziger Jahren erst General, dann Geheimdienstchef und später Innenminister - also Obergorilla - war, sich noch besser in Form gezeigt. Damals erhielt er jeweils zwischen 99,27 und 99,91 Prozent der Stimmen. Aber schon im Februar ließ seine Konstitution nach: Nur noch 94,48 Prozent wurden verzeichnet. Seitdem scheinen seine Kräfte noch weiter nachgelassen zu haben. Wer nun allerdings enttäuscht mutmaßt, der einstmals in den USA ausgebildete Repressionsspezialist, der heute maßgebliche politische Unterstützung neben Washington auch in Paris findet, sei schon gänzlich ermüdet, darf sich beruhigen. Die tunesische Journalistin Souhayr Belhassen, derzeit Vorsitzende der Internationalen Menschenrechtsvereinigung FIDH mit Sitz in Brüssel, ist jedenfalls der Auffassung, Ben Ali habe selbst festgelegt, "ein Wahlergebnis unterhalb der 90-Prozent-Marke zu erzielen". Knapp darunter freilich. Aber es sieht doch ein bisschen mehr nach Demokratie aus als die Neuner-Reihen, die frühere Urnengänge auszeichneten. Vermeintliche Touristen-Idylle und Realität eines Polizeistaats Die europäischen Touristen, die das Land in großer Zahl bereisen, nehmen von Tunesien nur die scheinbar idyllische äußere Fassade wahr. In Wirklichkeit haben die Verhältnisse in dem nordafrikanischen Staat nichts Idyllisches an sich, sondern werden von einer unnachgiebigen polizeistaatlichen Struktur geprägt. Folter, politische Häftlinge und selbst die Zensur des Internet - bei welcher die tunesische Diktatur ungleich effizienter als jene in den Nachbarländern vorgeht - gehören zum Alltag. Allerdings baut die tunesische Diktatur auf keinerlei Ideologie auf, im Unterschied zu arabisch-nationalistischen oder islamistischen Regimes in der Region, sondern auf das nackte Bereicherungsinteresse der Clans an der Macht. Beherrschender noch als die familiäre Umgebung des Präsidenten und früheren "Oberbullen" selbst ist dabei die Großfamilie seiner Gattin, Leila Trabelzi. Die Trabelzis haben sich bedeutende Teile der Ökonomie des Landes unter den Nagel gerissen. Noch ein Beispiel für die clanmäßig-mafiöse Funktionsweise dieses Regimes: Ben Alis Schwiegersohn, Sakhr El-Materi, ist mit 29 Jahren Multimillionär. Er hat sich an der Bereicherung bisher staatlicher Banken bereichern können, in einer Weise, die andernorts als Korruptionsdelikt gelten würde - beraten von einer der so genannt "besten" französischen Unternehmensberaterfirmen. Und er hat sich am Sonntag auf einen Abgeordnetensitz beworben. Wie die Kandidatur des Herrn Schwiegersohn ausging, stand von vornherein fest, ebenso wie Alles, was in Tunesien mit Wahlen zu tun hat. Der offiziellen "Opposition" - jener, die geduldet wird, im Unterschied zur "radikalen" - waren von vornherein 25 Prozent der Sitze im Parlament zugestanden worden. Nicht weniger, aber auch auf keinen Fall mehr. Der Schwiegersohn bewarb sich für die Regierungspartei RCD (Neue Verfassungs-Versammlung), der angeblich 70 Prozent der erwachsenen TunesierInnen angehören sollen. Billiglöhne, Kredit und Konsum Angeblich, denn ein Großteil der Tunesier hält sich von Politik und staatlicher Sphäre so weit entfernt wie nur möglich. Mehrheitlich nicht, um in den Widerstand zu treten, sondern um nach Konsummöglichkeiten und Jobs zu suchen. Konsum ist nach wie vor möglich, trotz Löhnen, die noch 20 Prozent unterhalb derer im relativ armen Marokko liegen (und bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 130 Euro) - das tunesische "Wirtschaftswunder" basiert darauf, dass es dem Land durch extrem tiefe Löhne gelungen ist, europäische Firmen wie etwa Automobilzulieferer anzulocken. Selbst solche Unternehmen, die nach der Maueröffnung bereits nach Osteuropa ab- oder weitergezogen waren, sind zurückgekehrt oder haben sich in Tunesien erstmals oder erneut angesiedelt. Mitten in der europäischen Wirtschaftskrise konnte das Land seine Exporte in die EU noch steigern und im zurückliegenden Jahr drei Prozent Wachstum verzeichnen. Politisches Vakuum, Konsumorientierung und Religion Dass die Leute trotz Armutslöhnen dennoch konsumieren können, liegt an den leicht zu erlangenden Kreditmöglichkeiten im Land. Allerdings fesseln sie viele Tunesier auf Dauer und zwingen sie dazu, mindestens zwei Jobs gleichzeitig auszuüben. Wer etwa als Lehrer überleben will, versucht systematisch, sein Gehalt durch private Nachhilfezustunden mindestens zu verdoppeln. Der Qualität öffentlicher Dienstleistungen nutzt das nicht. Die entstehende ideologische Leere, die sich durch das weitgehende Vakuum an irgendwelchen politischen oder sozialen Idealen breit macht, wird in jüngster Zeit zunehmend durch Religion angefüllt. Noch in den neunziger Jahren hatte das Regime eine brutale Jagd auf tatsächliche und vermeintliche Islamisten, bis hin zu ihren gewaltlosesten und reformorientiertesten Flügeln, betrieben. Parallel dazu hatte es sich selbst zum "Schutzschirm" für die Frauen, die Intellektuellen und die sich modern fühlenden Mittelschichten erklärt. Tatsächlich konnte es die offene oder stillschweigende Zustimmung eines Teils von ihnen, die durch die Erfolge der islamistischen En Nahda-Bewegung um 1990 eingeschüchtert worden waren, für seine Repressionspolitik einstreichen. Dies reichte hin bis zur offenen Kompromittierung der Ex-Kommunisten mit dem ebenso polizeistaatlichen wie mafioso-kapitalistischen Regime. Eine Haltung, für die die Ex-Linke ebenso wie die "Zivilgesellschaft" einen sehr hohen Preis bezahlt hat. Denn auf die Dauer waren es ihre Freiheiten, die vom Regime kassiert wurden. Die Islamisten benötigen keine offene Diskussion, keine kritischen Bildungsinhalte und keinen Pluralismus, um ihre Bestrebungen im Verborgenen blühen und gedeihen zu lassen: Ihre Ideologie hat den Vorzug, an die vermeintliche Evidenz der breit verankerten Glaubensinhalte anzuknüpfen und keiner kontroversen gesellschaftlichen Debatten zu bedürfen. Zum Jahreswechsel 2006/07 wurde der tunesische Staat ebenso wie die Gesellschaft durch den Schusswechsel mit Salafisten, bewaffneten Radikalislamisten, in einem südlichen Vorort von Tunis - Soliman - bitter überrascht. Auch die real verankerte, obwohl verboten, islamistische Bewegung El-Nahda hatte die Dinge nicht kommen sehen, sondern wurde vom Aufstieg ihrer radikalen Konkurrenten unvorbereitet getroffen. Seitdem hat die Staatsmacht das Ruder herumgeworfen. Islamistische Radiokanäle wie "El-Zeitouna" und Buchverlage wurden begünstigt; die Zulassung eines vergleichbaren Fernsenders befindet sich ebenfalls in Diskussion. Auch das gesellschaftliche Klima hat sich verändert, und Lehrkräfte berichten, die Zahl ihrer Kopftuch tragenden Schülerinnen oder Studentinnen habe sich seit wenigen Jahren verzehnfacht - früher wurden solche jungen Frauen noch durch eine speziell auf die Jagd nach Kopftüchern ausgerichtete Universitätspolizei schikaniert. Heute drängt ein Teil des gesellschaftlichen Klimas in ihre Richtung. Das Regime von Präsident Ben Ali begünstigt einen Quasi-Staatsislam, weil er von ihm nicht kontrollierten islamistischen Kräften das Wasser abgraben möchte. Ob in diesem Rahmen eine, domestizierte, islamistische Partei zugelassen werden könnte, bleibt im Inneren des Regimes noch umstritten. Die große Frage ist unterdessen, ob auf dieser Seite nicht die Hauptgewinner stünden, träte das Regime in eine heftige Krise ein: Die Nachfolgefrage für Ben Ali ist ungelöst. Letzte Meldung: An diesem Donnerstag (29. Oktober) wurde in Tunesien bereits der dritte Journalist in der laufenden Woche festgenommen und inhaftiert: Ben Ali holt offenkundig zum Schlag gegen seine verbliebenen Kritiker/innen aus. Es handelt sich bei dem am Donnerstag Verhafteten um Taoufik Ben Brik, einen äußerst mutigen oppositionellen Journalisten, der sich im Frühjahr 2000 mehrere Woche lang im Hungerstreik befunden hatte. (Vgl. http://jungle-world.com/artikel/2000/19/27823.html ) Nun ist er eingesperrt, und riskiert ernsthafte schwere Misshandlungen und Folter. Ein Appell von französischen Prominenten für seine sofortige Freilassung zirkuliert seit gestern am Abend (Donnerstag), unter dem Titel < Taoufik Ben Brik, la désobéissance en danger > (Tawfik Ben Brik, der Ungehorsam in Gefahr). Von gewerkschaftlicher Seite zählen Annick Coupé, Sprecherin des Zusammenschlusses überwiegend linker Basisgewerkschaften Union Syndical Solidaires, und Christian Mahieux von der diesem Verband angehörenden Eisenbahngewerkschaft SUD-Rail (SUD Schienenverkehr) zu den ErstunterzeichnerInnen des Aufrufs. Ihn unterzeichneten ebenfalls Mouloud Aounit als Vorsitzender der traditionsreichen Antirassismusbewegung MRAP, Olivier Besancenot, Alain Krive und Daniel Bensaid vom ,Nouveau Parti Anticapitaliste', Cécile Duflot als Vorsitzende der französischen Grünen und Clémentine Autin (der französischen KP nahe stehende, frühere stellvertretende Bürgermeisterin von Paris). Bernhard Schmid, 30. Oktober 2009 |