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Updated: 18.12.2012 15:51
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Tunesien vor dem Generalstreik am Donnerstag, den 13. Dezember 12

(Teil 2 unserer lockeren Serie zu Tunesien)

Am Donnerstag dieser Woche, dem 13. Dezember 2012 wird in Tunesien ein 24stündiger Generalstreik - auf Aufruf des Gewerkschaftsdachverbands UGTT hin – stattfinden. Am vergangenen Donnerstag, den 06. Dezember berichteten wir in Teil 1 über die Hintergründe des aktuellen Anstiegs der sozialen und politischen Spannungen in dem nordafrikanischen Land. Teil 2 sollte ursprünglich am darauffolgenden Freitag erscheinen, aber die brisante Aktualität in Frankreich sowie der schwer vergrippte Zustand des Labournet-Korrespondenten verursachten eine Verschiebung des Erscheinens. Am Donnerstag/Freitag folgt Teil 3, zu den Hintergründen sowie zur aktuellen Entwicklung des Geschehens und zu den Auswirkungen des Generalstreiks. (BS)

In Teil 1 behandelten wir die heftigen Auseinandersetzungen, die ab dem Dienstag, 27. November in der tunesischen Stadt Siliana stattfanden und am darauffolgenden Wochenende auf andere Städte im Landesinneren Tunesiens (d.h. küstenferne Landesteile) überzugreifen begannen. (Vgl. etwa auch zu heftigen Zusammenstößen in der Stadt EL-Kef:  http://thalasolidaire.over-blog.com/article-tunisie-_siliana-jebali-degage-a-zarziz-au-kef-affrontement-entre-manifestants-au-et-forces-de-l-112998966.html externer Link)

In jener Phase reagierte der Gewerkschaftsdachverband UGTT allerdings noch, indem er zwar in einigen mittleren Städten zu Solidaritätsdemonstrationen für die Einwohner/innen in Siliana aufrief, aber in der Hauptstadt Tunis und/oder auf landesweiter Ebene sich einer Mobilisierung enthielt. Am Samstag, den 01. Dezember schlossen die örtliche UGTT in Siliana und die tunesische Zentralregierung ein Abkommen ab, das „zur Befriedung der Lage“ führen sollte. Es sieht die Entmachtung des umstrittenen und durch die Bevölkerung angefeindeten Gouverneurs Ahmed Ezzine Mahjoubi vor. (Er verliert formell seinen Posten nicht, übt aber seine Vollmachten nicht aus und gibt sie an seinen bisherigen Stellvertreter ab.) Gleichzeitig sind laut dem Abkommen Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen und ökonomischen Situation der örtlichen Bevölkerung geplant, die aber bislang noch ihrer Konkretisierung harren  (vgl. etwa http://www.lemonde.fr/ tunisie/article/2012/12/01/tunisie-nouveaux-heurts-a-siliana_1798822_1466522.html externer Link).

Daraufhin „suspendierte“ die örtliche UGTT ihre Protestaktionen ab dem 02. Dezember d.J. (vgl. http://www.lorientlejour.com/category/%C3%80+La+Une/article/790328/Tunisie_%3A_la_contestation
%22 suspendue%22 a_Siliana_.html externer Link oder http://www.assawra.info/spip.php?article1701 externer Link oder http://www.magharebia.com/cocoon/awi/xhtml1/fr/features/awi/newsbriefs/general/2012/12/02/
newsbrief-01
externer Link
); die Rede war zunächst von einer Unterbrechung von 14 Tagen, um abzuwarten, was für Beschlüsse in der Folgezeit verkündet würden. Und um danach die Frage einer Fortsetzung oder Nichtfortsetzung der Proteste zu prüfen. Nach dieser Ankündigung der örtlichen UGTT stellte die Bevölkerung in Siliana ihre Protestmobilisierung vorläufig ein. (vgl. auch http://www.magharebia .com/cocoon/awi/xhtml1/fr/features/awi/features/2012/12/03/feature-02 externer Link)

Nun müssen wir auf jenes Ereignis zu sprechen kommen, das in der Folgezeit das Feuer an die Lunte legte, und unmittelbar zum Entschluss zu einem tunesienweiten Aufruf zum (eintägigen) Generalstreik führte.  Unterdessen rief nämlich die UGTT in der Hauptstadt Tunis zu einer Kundgebung am 04. Dezember um 15 Uhr nachmittags auf. Den Anlass dazu lieferte das Gedenken an den Todestag Farhat Hached: Diese historische Figur der tunesischen Gewerkschaftsbewegung, Antikolonialist zu früher Stunde und Gründer UGTT im Jahr 1946, war am 05. Dezember 1952 durch den französischen Geheimdienst SDECE ermordet worden. Er bildet eine Integrationsfigur in der tunesischen Gesellschaft, weit über die Reihen der Gewerkschaftsmitglieder hinaus.
Unerwartet und auf „total krasse“ Weise, wurde diese Kundgebung jedoch angegriffen. Und zwar durch eine Art de facto als „Milizen“ zu bezeichnender Gruppen von Sympathisanten der stärksten der drei Regierungsparteien – der islamistischen Partei En-Nahdha (Wiedergeburt), die im Allgemeinen unter dem Namen Ligue de protection de la révolution (Liga/Bund zur Verteidigung der Revolution) firmieren. Dabei handelt es sich um Überreste einstmaliger lokaler Selbstverwaltungsorgane – etwa Stadtteilkomitees zur Verhinderung von Plünderungen in Häusern, zur Stunde des Rückzugs der Polizei während des Umsturzes im Januar 2011 -, die sich ab etwa der Jahresmitte 2011 von ihren bisherigen Mitgliedern entleert hatten. Die Reste dieser, funktionslos gewordenen, Organe zur Aufrechterhaltung eines Minimums an Sicherheit während der Revolutionstage wurden durch die Islamisten eingesammelt. Und in der Folgezeit mit eigenen Leuten aufgefüllt, wieder hochgepäppelt und umfunktioniert: in ein Akklamationsorgan für die Ideologie und Regierungspolitik von En-Nahdha, und um „im Namen der Revolution“ Druck auf ihre Gegner aufzubauen.

Bislang hatten sich diese Strukturen jedoch nicht durch offene Gewalt hervorgetan, mit einer wichtigen Ausnahme, nämlich der Ermordung des Vorsitzenden der Partei ,Nidaa Tounès‘ (Appell/Aufruf Tunesiens) in der südlich gelegenen Stadt Tatouine, welche nunmehr drei Monate zurückliegt. ,Nidaa Tounès‘ ist eine Partei, die durch den früheren Premierminister der Übergangsregierung (von Ende Februar 2011 bis nach den Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung vom 23. Oktober 11), Béji Caïd Essebsi alias „BCE“ aufgebaut wird. Ihr gehören sowohl frühere Anhänger des Ben ‘Ali-Regimes an als auch eher liberale oder bürgerliche Kräfte, die dem alten Regime skeptisch bis ablehnend gegenüber standen, doch heute die Gegnerschaft zu den Islamisten – und zu der von ihnen ausgehenden „Bedrohung unseres modernen Lebensstils“ – als Hauptwiderspruch der Gegenwart betrachten. Diese neue Koalition kann laut Umfragen derzeit mit rund 30 Prozent der Stimmen und liegt damit ungefähr gleichauf mit En-Nahdha (ebenfalls rund 30 Prozent). An dritter Stelle folgt die explizit linke Sammlungsbewegung Front populaire – ungefähr grobschlächtig mit „Volksfront“ zu übersetzen -, welche sich im Aufwind befindet und in Umfragen derzeit bei rund 7 Prozent liegt. Alle anderen Kräfte liegen eher bei ferner liefen, inklusive der beiden Koalitionspartner von En-Nahdha, also der beiden Regierungsparteien CPR (nationalistisch-liberal) und Ettakatol (sozialdemokratisch), welche zwischen 3 und 4 Prozent herumdümpeln.
Die Präsenz von früheren Ben ‘Ali-Anhängern in den Reihen von Nidaa Tounès ist es vor allem, die es den oben zitierten „Ligen“ erlaubt, eine aufgeheizte Anhängerschaft zu mobilisieren – gegen „die Korrupten“ und die „Feinde der Früchte unserer Revolution“. Aber in jüngerer Zeit richtet sich die Stoßrichtung der Mobilisierung zunehmend auch gegen die UGTT, weil diese auf sozialer und gesellschaftlicher Ebene als hauptsächlichster, wichtigster Gegenspieler zur islamistischen Regierungspartei wirkt und diese allein ernsthaft herausfordern kann.

Der Angriff wurde mit erheblicher Gewalt vorgetragen. (vgl. dazu etwa dieses Video:  http://www.businessnews.com.tn/Tunisie---Violente-attaque-contre-le-si%C3%83%C2%A8ge-de-l%C3%82%E2%80%99UGTT,-des-milices-d%C3%82%E2%80%99Ennahdha-accus%C3%83%C2%A9es-%28vid%C3%83%C2%A9os%29-%28mise-%C3%83%C2%A0-jour%29,520,34918,3 externer Link Video)

Daraufhin begannen sich die Beziehungen zwischen Gewerkschaftsverband und Regierungslager erheblich anzuspannen. Eine Fortsetzung dazu folgt – in Tunesien am Donnerstag (in Gestalt des Generalstreiks), und in Labournet gleichzeitig dazu mit neuen Texten darüber…

Artikel von Bernard Schmid vom 11.12.2012


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