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Updated: 18.12.2012 15:51
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Massenprozeß in Gafsa hat begonnen

"Prozess gegen Teilnehmer der sozialen Revolte in Gafsa hat begonnen. Die UGTT rehabilitiert den gewerkschaftlichen Protestführer, den der Dachverband bis dahin marginalisiert hatte Am gestrigen Donnerstag wurde in Gafsa, rund 350 Kilometer südwestlich von Tunis, der Prozess gegen 38 Teilnehmer und "Rädelsführer" der sozialen Revolte vom Frühjahr 2008 eröffnet. Von Januar bis Juni/Juli dieses Jahres wurde das dortige "Bergbaubecken" (bassin de Gafsa), in dem Tunesiens Phosphatminen liegen, von einer heftigen Revolte erschüttet. Sie richtete sich gegen mafiöse und auf Vetternwirtschaft sowie Korrupution beruhende Einstellungspraktiken bei der Bergbaugesellschaft CGP (Compagnie des phosphates de Gafsa)" - so beginnt der aktuelle Prozeßbericht "PROZESS GEGEN PROTEST" von Bernard Schmid vom 5. Dezember 2008.

PROZESS GEGEN PROTEST

Prozess gegen Teilnehmer der sozialen Revolte in Gafsa hat begonnen. Die UGTT rehabilitiert den gewerkschaftlichen Protestführer, den der Dachverband bis dahin marginalisiert hatte

Am gestrigen Donnerstag wurde in Gafsa, rund 350 Kilometer südwestlich von Tunis, der Prozess gegen 38 Teilnehmer und "Rädelsführer" der sozialen Revolte vom Frühjahr 2008 eröffnet.

Von Januar bis Juni/Juli dieses Jahres wurde das dortige "Bergbaubecken" (bassin de Gafsa), in dem Tunesiens Phosphatminen liegen, von einer heftigen Revolte erschüttet. Sie richtete sich gegen mafiöse und auf Vetternwirtschaft sowie Korrupution beruhende Einstellungspraktiken bei der Bergbaugesellschaft CGP (Compagnie des phosphates de Gafsa) - Labournet berichtete ausführlich.

Die Bewegung wurde repressiv niedergeschlagen. Dabei kam es zu mehreren Toten: Am 6. Juni 2008 starb ein junger Demonstrant durch Polizeikugeln. Ein anderer starb durch einen Stromschlag, nachdem ein durch Protestierende besetzter elektrischer Generator - der ausgeschaltet geblieben war - plötzlich und ohne Vorwarnung wieder unter Strom gesetzt worden war. Dennoch war sie zugleich insofern erfolgreich, als sie zumindest Teilzugeständnisse seitens des mafiösen und polizeistaatlichen Regimes von Präsident Zine ben Abidine Ben Ali (der seit 1987 amtiert und vor kurzem die Verfassung ändern ließ, um sich 2011 "wiederwählen" lassen zu können) erringen konnte.

Am 16. Juli 2008 gab das Regime in Tunis einen "Unterstützungsplan" für die Ökonomie der benachteiligten Region, die von den Tourismuseinnahmen des Landes weitestgehend abgeschnitten ist und eine Arbeitslosigkeitsquote von über 30 Prozent (offiziell: 21 %) aufweist, bekannt. (Einzelheiten werden wir demnächst, wenn wir die Berichterstattung über den anlaufenden Prozess fortsetzen, näher analysieren.)

Am Prozess-Auftakt am gestrigen Donnerstag nahmen rund 100 Beobachter/innen, unter ihnen internationale Zeugen aus Frankreich sowie Marokko und Algerien, und eine Reihe von engagierten Anwältinnen und Anwälten teil. Die 38 Angeklagten sind überwiegend Gewerkschafter/innen, unter ihnen viele örtliche Lehrerinnen und Lehrer.

Vorgeworfen wird ihnen in den meisten Fällen die "Bildung einer kriminellen Vereinigung" sowie "Vorbereitung von Attentaten". Zudem ist der in Paris wohnhafte Tunesier Mohieddine Cherbib, Vorsitzender der französisch-tunesischen "Vereinigung für Bürgerrechte auf beiden Ufern (des Mittelmeers) FTCR", der "Mitgliedschaft in einer Bande" sowie der "Verbreitung von der öffentlichen Sicherheit abträglichen Dokumenten" angeklagt.

Acht der Angeklagten wurden am Donnerstag von den Vorwürfen freigesprochen, das Verfahren gegen sie wurde eingestellt.

Gegen die übrigen dreißig Angeklagten wurde die Hauptverhandlung auf den 11. und 12. Dezember vertagt. Dann werden wir erneut über den Prozess gegen die Revolte von Gafsa berichten.

Die Menschenrechtsorganisation amnesty international hatte durch ein Kommuniqué, das am 3. Dezember in London veröffentlicht wurde, die Einrichtung einer internationalen Untersuchungskommuniqué zu Foltervorfällen im Zusammenhang mit der Niederschlagung der Gafsa-Revolte gefordert.

In der vergangenen Woche war zudem eine internationale Solidaritätsdelegation aus Frankreich, zusammengesetzt aus Vertretern und Vertreterinnen mehrerer Gewerkschaften und Linkskräfte, nach Tunesien und vor Ort gereist. In Frankreich fordern die Gewerkschaftsverbände CGT, CFDT, FSU (Lehrergewerkschaft), Union syndicale Solidaires und die Bildungsgewerkschaften SUD-Education plus UNSA-Education sowie Linkskräfte wie KP, Grüne und LCR die Freilassung aller Angeklagten. Allerdings unternimmt zumindest die CGT auf praktischer Ebene fast nichts zur Solidarität für die Verfolgten der Gafsa-Revolte, aus Rücksichtnahme auf ihre langjährige tunesische "Bruder- oder Schwesterorganisation", den tunesischen Gewerkschaftsdachverband UGTT (Allgemeine Union der tunesischen Werktätigen). Hingegen ist die Union syndicale Solidaires, an deren Sitz in Paris sich Mitte Juli 2008 eine französische Solidaritätskoalition für die soziale Bewegung im Gafsa-Revier bildete, ein aktiver Motor bei der Solidaritätsarbeit. Ähnliches gilt für die FSU. Seit kurzem ist nun auch die französische KP aufgewacht. Nach längerem Schweigen zu den Vorgängen in Tunesien (aus Rücksichtnahme u.a. auf den UGTT-Apparat, ähnlich wie die CGT) hat ihre Parteichefin, Marie-George Buffet, in den letzten Novembertagen - nach ihrer Rückkehr von der Solidaritätsreise der französischen Delegation - die Einrichtung eines Solidaritätskollektivs gefordert. Pech nur, dass es ein solches schon gibt.

Kenner der tunesischen Verhältnisse vertreten allerdings die Auffassung, die wirkliche Motivation dafür, dass die französische KP-Spitze nun plötzlich aktiv werde, liege darin begründet, dass der Chef der tunesischen Ex-KP ,Ettajdid' (der Partei "Erneuerung", die freilich ein rein bürgerlich-demokratisches Profil und nichts Marxistisches mehr an sich hat) - Ahmed Brahim - zur selben Zeit seine Präsidentschaftskandidatur für 2011 angekündigt hat.

Während "kompromisslose" Opponenten in Tunesien oft brutal verfolgt werden, versucht die "Erneuerungs"partei, sich als - zahme und zahnlose - legale Oppositionspartei zu platzieren. Historisch "ererbt" hatte die französische KP, lange Jahre hindurch, eine relativ distanzlose Haltung zum tunesischen Regime. Diese hing damit zusammen, dass Letzteres vor 1972 (dem Jahr, in dem Gesetze zur "Liberalisierung" von Investitionen ausländischen Kapitals verabschiedet wurde) eine teilweise staatssozialistisch geprägte Periode durchlaufen hatte. An den Kommandostellen saß allerdings von Anfang an - unter dem ersten Präsidenten nach der Unabhängigkeit, Habib Bourguiba (1956 bis 87) - die tunesische nationale Bourgeoisie.

Unter seinem Nachfolger Ben Ali hat sie allerdings eine vorwiegend mafiöse Rolle sowie eine Funktion als Türöffner für das internationale Kapital, aus dem "Westen" respektiven Norden sowie in jüngerer Zeit massiv auch aus den Golfmonarchien, übernommen.

Die UGTT hat unterdessen ihren wichtigsten Protagonisten in den Reihen der Revoltierenden von Gafsa "rehabilitiert": Adnane Hajji, der Sprecher der Protestbewegung im Frühjahr, wurde Mitte dieser Woche wieder in seine innergewerkschaftlichen Ämter und Funktionen eingesetzt. Bis dahin hatte der UGTT-Apparat seine eigene Leute, die in Gafsa auf örtlicher Ebene an der Revolte teilgenommen hatten, fallen lassen: Da ihr das Wort "Freilassung der inhaftierten Gewerkschafter" nicht über die Lippen kam, forderte die UGTT-Führung bis dahin lediglich pauschal "Freilassung aller politischen Gefangenen" (was aber von ihrer Seite ebenfalls eine neue, und als solche begrüßenswerte, Forderung war...). Nunmehr kann Adnane Hajji sich erstmals wieder auf seine gewerkschaftlichen Funktionen berufen.

Bernard Schmid, 5. Dezember 2008


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