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Updated: 18.12.2012 15:51
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Tunesien: Erste freie Wahlen nach dem "Arabischen Frühling" sind gelaufen

Die ersten freien, pluralistischen und unmanipulierten Wahlen seit den (unvollendeten) Revolutionen in Nordafrika im Winter 2010/11 sind gelaufen, auch wenn genaue Einzelergebnisse zur Stunde des Redaktionsschlusses bei Labournet - am Dienstag um 12.00 Uhr mittags - noch ausstehen. Am Sonntag wählte Tunesien. Nähere Ergebnisse werden im Laufe des Nachmittags erwartet. Selbstverständlich werden die Resultate auch erhebliche Auswirkungen auf die am 28. November 2011 anstehenden Wahlen in Ägypten zeitigen.

Stärkste Kraft wurde die moderat islamistische Partei En-Nahdha ("Die Wiedergeburt", "Die Renaissance"), mit - wie es zur Stunde aussieht - rund 35 % der Stimmen. Ihr könnten bis zu 40 % der Sitze in der Verfassungsgebenden Versammlung zufallen. Nähere Einzelergebnisse gilt es jedoch auch hier noch abzuwarten.

Ihren Erfolg machen mindestens zwei wichtige Faktoren aus, neben ihrer bisweilen gepflegten Agitation gegen laizistische Kräfte als Förderer von Homosexualität und Unmoral: Zum Ersten betrieb die Partei, wie viele islamistische Kräfte in der arabischen Welt, eine Art "Sozialarbeit" in den armen Wohnbezirken, in denen der Staat wesentliche Versorgungsfunktionen aufgegeben und ihnen dadurch überlassen hat. Zunutzen kam der Partei dabei, dass sie über erhebliche finanzielle Mittel verfügte, dank wohlhabender Händler und mutmaßlich auch mit Unterstützung aus den Golfstaaten. Zweitens genossen die "Nahdisten", wie man die Parteigänger von Rachid Ghannouchi auch nennt, einen erheblichen "Märtyrerbonus".

Viele politische Oppositionelle hatten unter der Diktatur von General und Präsident Zine el-Abidine Ben Al gelitten, die von 1987 bis im Januar dieses Jahres währte und die ebenfalls autoritäre Regierung unter dem ersten Präsidenten des Landes nach der Unabhängigkeit, Habib Bourgiba, abgelöst hatte. Aber niemand hat einen derart hohen Preis bezahlt wie die Anhänger der ab 1991 in der Untergrund gedrängten islamistischen Partei: 30.000 politische Gefangene, unzählige Folteropfer, Tote bei Hungerstreiks und in den Haftanstalten. - Dereinst, nach dem Zweiten Weltkrieg und der Befreiung vom Nazifaschismus, wurde die Französische kommunistische Partei (der PCF) unter anderem mit ihrem Slogan "Die Partei der 75.000 Erschossenen" zur stärksten politischen Kraft in Frankreich. Auch wenn die Zahl, jedenfalls sofern es um standrechtlich als Geisel oder gerichtlich Verurteilte ging, erheblich übertrieben war. Entsprechend könnte En-Nahdha sich heute als "Partei der 30.000 Eingeknasteten" darstellen.

Perfiderweise hatte die Ben Ali-Diktatur sich damals auf die "Errungenschaften Tunesiens bei den Frauenrechten" berufen, um Mittelschichten und Intellektuelle dazu aufzufordern, über willkürliche Verhaftungen und Folterungen gegenüber Anhänger von En-Nahdha - die 1989 erstmals bei den, in jenem Jahr halbfreien, Wahlen erstmals gepunktet hatte - zu schweigen. In der Anfangsphase war die Rechnung sogar aufgegangen, da viele Tunesier über den rapiden Aufstieg des dortigen Islamismus im Nachbarland Algerien verängstigt waren. Im Laufe der Jahre war die Kritik jedoch gewachsen, und jene Werte, auf die das Regime Ben Alis sich verbal berief, wurden dadurch im Gegenzug in Teilen der Gesellschaft tendenziell diskreditiert.

Dies hält ein bedeutender Teil der Bevölkerung ihr heute zugute. Umgekehrt wurden manche politischen Kräfte dafür abgestraft, dass sie damals unter der Diktatur Ben Alis bereitwillig die Statisten in einem vollständig abgekarteten politischen Spiel abgegeben hatten - während andere in den Folterkellern saßen.

Dies gilt etwa für die "Progressive demokratische Partei" (den PDP), die mit rund 10 Prozent der Stimmen (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS) eine schwere Wahlniederlage einfuhr, wie die Partei am Montag öffentlich eingestand. In geringerem Maße gilt es aber auch für die, unter der Diktatur Ben Alis zumindest "tolerierte" und an abgekarteten "Wahlen" teilnehmende, Partei Ettajdid - "Erneuerung", eine wie andere arabische Ex-KPen nach 1989 vom Marxismus zu einem faden bürgerlichen Liberalismus konvertierte Formation. Letztere war die wichtigste Kraft im Pôle démocratique et moderniste (ungefähr: "Demokratisches und der Modernität verpflichtetes Zentrum").

Im Laufe der vergangenen Monate hatten die Umfragen den PDP einige Monate lang noch als eine der möglicherweise stärksten politischen Kräfte im Lande, und Parteichef Nadjib Chebi als aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten gehandelt. Doch dann kam der Einsturz. Man kann davon ausgehen, dass der Partei und ihrem Chef in einer ersten Periode ihre langjährige Bekanntheit zugute kam: Der PDP hatte unter der Diktatur Ben Alis mehrfach an "Wahlen" teilgenommen, deren Ergebnisse schon vor dem Wahltag längst feststanden, und Nadjib Chébi hatte bei Präsidentschaftswahlen den Sparringpartnern für Ben Ali abgegeben. Im Endeffekt rächte sich dies aber nun, da die Bevölkerung - die in der langjährig auf der politischen Bühne präsenten Partei zunächst einen beruhigenden Sicherheitsfaktor erblickte - nunmehr vor allem dezidierten Oppositionskräften der Ben Ali-Ära den Vorzug gab. Hinzu kommt das reichlich aalglatte Profil von Nadjib Chébi: Im Laufe seines politischen Lebens war er unter anderem Maoist, arabischer Nationalist und Anhänger der Baath-Partei, Liberaler mit Unterstützung aus den USA und schließlich prominenter "Demokrat" gewesen. Inhaltlich versprach die Partei die Beibehaltung des bisherigen Sozial- und Wirtschaftssystems, wobei aber die Ökonomie effizienter gestaltet werden und Investitionen anziehen sollte, und Bürgerrechtsgarantien.

An die zweite Stelle rücken nun, ungefähr gleichauf, der linksbürgerliche und linksnationalistische "Kongress für die Republik" (CPR) von Moncef Marzouki mit rund 20 Prozent (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS) und die sozialdemokratische Partei Ettatakol - ehemals "Demokratisches Forum für Arbeit und Freiheit" - von Mustapha Ben Jaafar mit 15 Bis 20 Prozent (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS). Beide Parteien waren unter Ben Ali zwar nicht so stark verfolgt worden wie En-Nahdha, aber permanent in der Illegalität gehalten worden. Das "Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit" hatte nie seine Zulassung als Partei, die jahrelang wiederholt beantragt worden. Der CPR hatte wiederholt versucht, Versammlungen oder Kongresse im Land abzuhalten, die durch die Polizei gewaltsam abgebrochen und aufgelöst wurden.

Eine der Achsen der politischen Polarisierung in Tunesien, welche den Wahlausgang prägten, war die Konfrontation zwischen den früheren Oppositionskräften unter Ben Ali entsprechend ihrer damaligen Positionierung. Diese Polarisierungslinie, so deutet sich an, könnte auch die künftige Zusammenarbeit in der Verfassungsgebenden Versammlung prägen. So schließt der CPR von Mouncef Marzouki derzeit eine Zusammenarbeit dort mit En-Nahdha nicht aus. Umgekehrt bot die moderat islamistische Partei am Montag sowohl Ettatakol als auch dem CPR, den beiden stärksten Kräften des Mitte-Links-Spektrums, eine Zusammenarbeit an.

Solche Kooperationsperspektiven versteht man nur, wenn man die politische Landschaft in der Endphase der Diktatur Ben Alis berücksichtigt. Im Oktober 2005 hatte ein Aufsehen erregender Hungerstreik stattgefunden, mit dem Oppositionelle gegen den "Weltinformationsgipfel" zur Informationsgesellschaft in Tunis protestierten - ein Unding in einem Land, das gleichzeitig das Internet so stark wie wenige andere Staaten zensierte. Damals hatten Aktivisten aus der Linken erstmals mit Leuten von En-Nahdha zusammengearbeitet, da beide Seiten gegen Repression und Zensur protestierten. Auch der PCOT ("Kommunistische Partei der Arbeiter Tunesiens"), eine früher einmal maoistische und pro-albanische Partei mit heute relativ vagem linkem Profil - die aber noch immer Hammer und Sichel als Wahrzeichen führt -, arbeitete damals mit. Daraus erklärt sich, dass auch der PCOT bislang eine Zusammenarbeit mit En-Nahdha in der Verfassunggebenden Versammlung nicht ausschloss.

Diese Kräfte könnten jedenfalls dort an einem Strang ziehen, wo es zukünftig um Fragen der Entschädigung von Repressionsopfern, von Bestrafung der Verantwortlichen für Repression und Misshandlungen, um die eventuelle Enteignung von Mafiosi aus dem Umfeld Ben Alis geht. Auf der anderen Seite könnten bei diesen Fragen jene Parteien stehen, die unter der alten Diktatur eine moderate, "legalistische" Strategie verfolgt hatten. Dem PDP sind zudem in den letzten Monate viele frühere Mitglieder der - im März 2011 gerichtlich verbotenen - ehemaligen Staatspartei RCD beigetreten. Laut Angaben der Partei vorwiegend die "nicht diskreditierten". Aber auch drei von früheren RCD-Baronen und Ministern geführte Listen erhielten zusammen über 15 Prozent (GENAUE ZAHLEN STEHEN NOCH AUS). Das ist nur auf den ersten B lick verwunderlich. Denn eine Staatspartei, die eine bis zwei Million Mitglieder hatte - nicht aufgrund von Ideologie, sondern weil die Zugehörigkeit vielen Familien Baugrundstücke, Arbeitsplätze oder Genehmigungen zur Eröffnung eines Geschäfts verschaffte -, verschwindet nicht innerhalb einiger Monate spurlos. Die Nachfolgeorganisationen des RCD könnten in naher Zukunft irgendwann wieder fusionieren, wenn die Kräfteverhältnisse zwischen ihnen geklärt sind.

Quer zu dieser Achse steht im politischen Koordinationssystem Tunesiens eine andere Polarisierungslinie, die in der Endphase des Wahlkampfs an Bedeutung gewann. Es ist jene zwischen "Laizisten", also Anhängern der Trennung zwischen Staat und Religion, und Islamisten sowie anderen Verfechtern einer Art Staatsreligion. En-Nahdha verfolgt eine moderate Strategie, die sich weitaus eher an die türkischen Regierungspartei AKP denn an die Khomenei-Fraktion oder die Radikalislamisten im Algerien der neunziger Jahre erinnert. Dass sie sich in ein bürgerlich-liberales System einfügen und grundlegende Freiheiten garantieren möchte, kann man ihr durchaus abnehmen: Während die islamistische Konterrevolution im Iran nach 1979 den Repressionsapparat des vorherigen Schah-Regimes fast bruchlos übernahm - aus dem berüchtigten Sicherheitsdienst SAVAK wurde lediglich durch Austausch eines Buchstabens die SAVAMA -, ist dies für Tunesien mehr als unwahrscheinlich. Denn überall in den Repressionsapparaten sitzen Personen, mit denen dieser oder jene "Nadhist" Rechnungen offen haben dürfte. Scharia-Gerichte und öffentliche Exekutionen, wie im Iran, sind in Tunesien so wenig zu erwarten wie aktuell in Istanbul oder Ankara.

Dennoch gibt es auch bei En-Nahdha unterschiedliche Strömungen, von denen einige als erkennbar autoritär zu charakterisieren sind. Einen Vor- und Nachteil zugleich bildet dabei für En-Nahdha die Konkurrenz mit den Aktivisten der salafistischen Strömung - einer besonders extremen Variante des politischen Islam -, die sich in den letzten Monaten immer wieder lautstark bemerkbar machte. Ihnen gegenüber können die "Nahdisten" sich allemal als gemä b igt profilieren. Es waren etwa die Salafisten, die am 9. Oktober die Sendeanstalt des Privatfernsehsenders "Nessma TV" angriffen, weil diese den Zeichentrickfilm "Persepolis" ausgestrahlt hatte: Ein Frevel in ihren Augen, denn in dem Film wird an einer Stelle Gott als menschliche Figur mit einem weißen Bart gezeigt. En-Nahdha distanzierte sich, wie bei vormaligen Attacken gegen Künstler oder eine Theatermacherin - in ihrer Presse war aber zugleich zu lesen, dass den Angegriffen ihre "Provokationen" vorzuwerfen seien. Gegenüber der breiten Öffentlichkeit versucht En-Nahdha, "beruhigend" zu wirken, was ihr durch den Vergleich mit den Salafisten erleichtert wird. Aber gleichzeitig muss sie auch ihr Terrain gegenüber dem Konkurrenten auf ihrer Rechten behaupten.

Am Montag Abend und Dienstag früh versicherte En-Nahdha, "die Rechte von Frauen und Minderheiten" würden künftig durch die Partei respektiert. Nicht alle Tunesierinnen und Tunesier vertrauen darauf. Bei den künftigen Debatten in der Verfassunggebenden Versammlung wird sich erweisen, welche Spielräume die Partei für "Ungläubige", konfessionelle Minderheiten, die Rechte von Frauen und Individuen zu lassen bereit ist. An symbolischen Vorstö b en seitens von En-Nahdha ist vor allem zu erwarten, dass die Partei ein Alkoholverbot in manchen Touristenzonen erwarten könnte. Nordine, Zeitungshändler in Paris, der die Hälfte des Jahres in Paris lebt und für Marzoukis RCD stimmte, sieht keinen Anlass zur Beunruhigung: "Tunesien wird niemals wie der Iran werden. Das ist unmöglich. Bei uns hatten die Frauen das Recht auf Abtreibung vor den Französinnen" - 1957 gegenüber 1975 - "und das Wahlrecht vor den Schweizerinnen. Niemals wird die Gesellschaft zulassen, dass diese Rechte angetastet werden."

Eine dritte Polarisierungslinie, entlang der "sozialen Frage" und der extrem ungleichen Verteilung von Armut und Reichtümern, spielte während der Unruhen im vergangenen Winter ebenso eine wichtige Rolle wie bei den Streiks, die sich das ganze Frühjahr und den Frühsommer hindurch zogen. Allerdings wurde der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit dabei weitgehend durch "demokratische Aspekte" überlagert. So wurde bei Streiks etwa die Absetzung von Ben Ali-nahen und korrupten Direktoren gefordert, allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Selbstverwaltung durch die Lohnabhängigen, sondern in der Regel begleitet von der Forderung nach einem "sauberen" Leitungspersonal. Im Wahlkampf spielten die sozialen Konfliktfragen jedoch keine Rolle. So kommentiert denn auch Mohamed, Arabischlehrer im französischen Staatsdienst: "Bei der Revolution ging es weder um Religion noch um Laizismus, beides spielte damals (im Winter 2010/11) keine Rolle. Damals ging es um ,Brot, Arbeit, Würde'. Aber alle wichtigen Kräfte, die jetzt eine Rolle spielen, habe diese Anliegen verraten."

Deswegen auch die extremen Schwierigkeiten für die Linke. In Zukunft darf das neue Establishment nicht darauf hoffen, dass es an dieser Front auf Dauer ruhig bleibt. Denn zumindest eines hat sich seit der Ben Ali-Ära geändert: Die Angst der Bevölkerung vor dem Staat ist nicht mehr dieselbe.

Auch wenn nunmehr eine neue Restauration anstehen könnte, so werden die Etablierten doch erstmals mit dem Druck der Straße zu rechnen haben.

Artikel von Bernard Schmid vom 25.10.2011


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