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Updated: 18.12.2012 15:51
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Zur demokratischen Revolution in Tunesien

Eine Antwort auf Murat Çakir von Bernard Schmid (Langfassung)

Grundsätzlich hat der Kollege Murat Çakir selbstverständlich recht damit, angesichts der ersten erfolgreichen demokratischen Revolution in einem arabischen Land seit über zwanzig Jahren [1] nicht einem blinden Enthusiasmus zu verfallen – sondern genauer prüfen zu wollen, was dort passiert. Reiner Enthusiasmus ist für uns selten ein guter Ratgeber, möglichst kluge materialistische Analyse ein weitaus besserer.

Und dennoch: Seine Ausführungen sind von der tunesischen Wirklichkeit doch ziemlich weit entfernt. Er stellt die tunesische Mittelklasse sowie die Außenpolitik der Europäischen Union als entscheidende Triebkräfte in der tunesischen demokratischen Revolution (der folklorisierende Begriff „Jasminrevolution“ wird vor Ort eher kritisiert) dar. Dies geht jedoch gründlich in die Irre, auch wenn diese inneren und äußeren Kräfte selbstverständlich mit der neu entstandenen Situation umzugehen versuchen und deswegen neue Strategien unter veränderten Bedingungen entwickeln.

Auslöser des Veränderungsprozesses waren sie jedoch keineswegs. Ebenso wenig wie beispielsweise die US-Administration, auch wenn diese im Vergleich etwa zur französischen Regierung relativ frühzeitig die Zeichen der Zeit verstand: Ab dem 10. Januar (so französische Nachrichtendienstquellen, die in der Presse durchsickerten) legten sie der tunesischen Armeespitze nahe, sich lieber vom Regime des Präsidenten Zine el-Abidine Ben ’Ali zu distanzieren, das sich vielleicht nicht halten werde. Bezüglich der Faktoren, die die tunesischen Militärs in Rivalität zu diesem Regime – das sich weitaus eher auf Polizei und Geheimdienste stützte und die Armee eher marginalisierte – brachten, hat Murat Çakir im übrigen Recht.

Es wäre jedoch falsch, aufgrund der gleichzeitigen Distanzierung der Armeespitze und offizieller US-Stellen vom untergehenden Ben ’Ali-Regime zu schlussfolgern, es handele sich um einen „CIA-Putsch“, wie etwa die marokkanische Regimepresse (die auf demokratische Aufstände eher „wenig Bock“ haben dürfte) in diesen Tagen schlagzeilt. [2] Die tunesische Diktatur wackelte bereits, als man in Washington und im Generalstab von ihr abrückte. Die Aufstandsbewegung ging der Neudefinition der Strategie dieser Mächte voraus, nicht umgekehrt – so herum wird ein Schuh draus. Natürlich werden in Bälde Verschwörungstheorien zirkulieren, die das ganze Geschehen als Wirken dieser oder jener „Lobby“ interpretieren werden, wobei die sozialen Akteure einmal mehr nur als Statisten im Spiel finsterer und verborgener „Strippenzieher“ erscheinen. [3] Solche Komplotttheorien sind nicht nur in den arabischen Ländern populär, und besonders seit dem 11. September 2001 dienen sie in breiteren Kreisen als Welterklärungsansatz oder -ersatz. Von solcherlei ideologischem Schrott sollten wir uns jedoch lieber fernhalten.

Auch wenn sie weniger oft den Gegenstand populärer Verschwörungstheorien darstellt: Genauso wenig hat die EU-Außenpolitik den aktuellen Veränderungsprozess in Tunesien initiiert. Sie versucht lediglich, dem Zug hinterher zu hechten und nachträglich auf ihn aufzuspringen – hinterher hat es man schon immer besser gewusst! Doch wäre es nach führenden Mächten in der Europäischen Union gegangen (und vor allem Frankreich, das als Ex-Protektoratsmacht den mit Abstand größten Einfluss in Tunesien ausübte), dann wäre Ben ’Ali auch heute noch an der Macht. Am 11. Januar 2011, drei Tage vor der überstürzten Abreise des – inzwischen – Ex-Präsidenten, bot die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie ihm vor dem französischen Parlament noch Polizeihilfe an: „Unser Know-how im Sicherheitsbereich“ würde es der tunesischen Diktatur erlauben, gleichzeitig „die Sicherheit zu gewährleisten“ und dabei weniger Leute zu töten. Und an jenem Freitag, an dem Ben ’Ali den Abgang machte, am 14. Januar, wartete eine Lieferung von Tränengas und „sicherheitstechnischem“ Material am Pariser Flughafen von Roissy, die für ihn bestimmt war. Nachträglich behauptete man im Elysée-Palast, diese Lieferung sei durch das französische Präsidentenamt unter Nicolas Sarkozy in letzter Minute blockiert worden. Doch diese Behauptung entpuppte sich als Lüge und wurde durch die französische Presse als solche entlarvt: Untere Zollbeamte hatten das Material bei einer Routinekontrolle aufgehalten und eine Überprüfung angeordnet – ihre Vorgesetzten erfuhren erst am Montag, den 17. Januar, davon. Da war Ben ’Ali bereits im saudi-arabischen Djidda angekommen.

Dass die EU also auf seinen Sturz hingearbeitet hätte, lässt sich fürwahr nicht behaupten. Apropos: Die so genannte „Sozialistische“ Internationale – ein Zusammenschluss staatstragender sozialdemokratischer Parteien, deren Vizepräsidentin die Französin Ségolène Royal (eine Blair-Anhängerin) ist und bei der französische, deutsche und österreichische Sozialdemokraten erheblichen Einfluss ausüben – schloss die frühere Staatspartei unter Ben ’Ali, den RCD, am 18. Januar 2011 als Mitglied aus. Vier Tage nach der Flucht Ben ’Alis. Also doch so früh! Der RCD selbst hatte es noch ein paar Stunden zuvor vermocht, seinerseits den Ex-Präsidenten aus der Partei zu werfen ...

Auch die tunesische Bourgeoisie und die Mittelschichten haben den Prozess, der (im Ergebnis) zur demokratischen Revolution führte, nicht initiiert – versuchen aber ihrerseits natürlich, angesichts der neuen Situation ihre eigenen Strategien zu entwickeln.

Unmittelbar ausgelöst wurde die tunesische demokratische Revolution durch die Selbstverbrennung eines jungen „Arbeitslosen mit Diplom“ – chômeur diplômé wurde im ganzen Maghreb zu einem geflügelten Begriff, so verbreitet ist das Phänomen -, Mohammed Bouazizi, am 17. Dezember 2010 in Sidi Bouzid. Der 26-Jährige hatte als „illegaler“ Gemüseverkäufer, als Prekärer im „informellen Sektor“ gearbeitet, wie so viele seiner Altersgenossen. Mit seiner Verzweiflungstat protestierte er gegen exzessive polizeiliche Schikanen. Ihr folgte am 23. Dezember in derselben Stadt der öffentliche Selbstmord eines weiteren, 24 Jahre jungen Arbeitslosen. Sidi Bouzid (eine Stadt, die theoretisch über einen prosperierenden Landwirtschaftssektor verfügen könnte, doch vier Fünftel des Bodens hatte sich der Ben ’Ali-Clan angeeignet) gehört zu jenen vernachlässigten Zonen des tunesischen Landesinneren, welche das Regime systematisch für die Entwicklung der Küstenstädte „geopfert“ hatte. Die Arbeitslosenquote dort beträgt 46 Prozent, in der jungen Generation wird sie jedoch mit 60 Prozent angegeben.

Auf die spektakuläre Verzweiflungstat der beiden jungen Männer folgten – bereits ab dem Wochenende des 18./19. Dezember 2010 – heftige Zusammenstöße zwischen Angehörigen des „informellen“ Subproletariats und den staatlichen „Sicherheitskräften“. Die Revolte breitete sich daraufhin auf andere vernachlässigte und strukturell unterentwickelt gehaltene Regionen im Süden und Westens Tunesiens aus. Zu den meisten Toten durch polizeilichen Schusswaffeneinsatz kam es etwa zwischen dem 5. und dem 10. Januar 2011 in Kasserine – einer Stadt in Westtunesien, die noch wesentlich ärmer ist als Sidi Bouzid, da es aufgrund des trockenen Klimas dort nicht einmal die Aussicht auf eine prosperierende Landwirtschaft gibt.

Am Wochenende des 25./26. Dezember 2010 fanden erstmals Demonstrationen in Tunis statt. Aber zur Massenbewegung wurde die Revolte mit der Wiederaufnahme des Unterrichts an Schulen und Universitäten ab dem 3. Januar 2011, auf die alsbald ein Streik der SchülerInnen und Studierenden folgte. Ab dem 10. Januar wurden Schulen und Hochschulen deswegen auf Anordnung des Regimes hin geschlossen, doch es war zu spät, um die Bewegung noch aufzuhalten. Auf Freitag, den 14. Januar, war ein Generalstreik angesetzt worden, zu dem der Gewerkschaftsdachverband UGTT (siehe unten) aufrief.

War dies insgesamt eine Bewegung von Privilegierten oder zumindest gut situierten Mittelschichtsintellektuellen? Wohl kaum. Im Übrigen müssen dazu zwei Anmerkungen gemacht werden: Erstens hat Bildung in Tunesien einen extrem hohen Stellenwert in der gesamten Gesellschaft (weshalb auch Streiks im Schulwesen zwar extrem gut befolgt werden – zwischen 90 und 100 Prozent des Lehrpersonals streikten am 23. Januar 2011 -, aber meistens nur einen Tag dauern, weil niemand „die Bildung opfern möchte“). Zahllose Familien opfern ihr gesamtes Hab und Gut, um ihren Kindern gute Schulabschlüsse zu ermöglichen. Auch aus diesem Grunde schockiert das Schicksal der „Arbeitslosen mit Diplom“ ganz besonders. Die Oberschüler und Studierenden in Tunesien entstammen also sehr unterschiedlichen sozialen Verhältnissen, ihre Eltern kommen aus breiten Kreisen. Zum Zweiten ist der Begriff „Mittelklasse“ in Tunesien äußerst relativ. Das alte Regime hatte diesbezüglich einen sehr voluntaristischen Diskurs gepflegt und stets einfach behauptet, „80 Prozent der tunesischen Bevölkerung“ gehörten „zu den Mittelschichten“, weil sie (tatsächlich oder angeblich) Zugang zu Konsum und die Möglichkeit zum Erwerb einer Eigentumswohnung hätten. Hinter den Kulissen sah die Wirklichkeit freilich etwas anders aus.

Zwar wurden breiteste Kreise zum Konsum, zum Kauf von Auto oder Wohnung animiert – mittels günstiger Kredite und kinderleicht zu erhaltender Kreditkarten. Die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass zahlreiche Familien hochverschuldet waren und an jedem Monatsende die eiserne Hand der Schuldenzahlungen an der Kehle spürten. Dies war auch eine Art und Weise, sich der Abhängigkeit dieser Milieus zu versichern, deren Zukunft auf Kredit gekauft war. Durch die krisenhafte Zuspitzung der wirtschaftlichen Situation in Tunesien (Stichworte: Auslaufen des Multifaser-Abkommens im Jahr 2005 mit einer Verschärfung der internationalen Konkurrenz für die Textilindustrie – 200.000 Arbeitsplätze in Tunesien hängen von ihr ab -, und Auswirkungen der Krise in Europa ab 2008 auf die in Tunesien angesiedelten Automobil-Zulieferer) verschlechterte sich die allgemeine Lage noch erheblich.

Zwar gibt es daneben auch eine tunesische Bourgeoisie, der eine Reihe von (oft „mittelständischen“) Unternehmen gehören. Und tatsächlich freut sich auch diese heute mehrheitlich über den Abgang Ben ’Alis, da sie bislang der mafiösen Überwucherung der Ökonomie des Landes durch die Familienclans von Ben ’Ali und seiner Gattin – Leila Trabelzi – einen beträchtlichen Tribut zollen musste. Die beiden Clans, die in direktem Kontakt mit Importeuren und ausländischen Investoren standen und Monopolstellungen einnahmen, verlangten von einheimischen Unternehmern oft eine Beteiligung an ihren Firmen. Zu diesen trugen die mafiösen Seilschaften jedoch nichts bei, sondern kassierten nur ab. Der Wirtschaftswissenschaftler El Mouhoub Mouhoud glaubt deswegen, dass durch das Ende der aufgezwungenen Racket-Praktiken auch unter kapitalistischen Bedingungen nunmehr bessere Wachstumsperspektiven herrschen. Wesentlich weniger erfreut als Teile der einheimischen Bourgeoisie ist unterdessen das internationale Kapital, das seine Geschäfte und Investitionen bislang in direktem Kontakt mit der regierenden Quasi-Mafia tätigte. Orange (alias die französische Telekom) etwa unterhielt ein Tochterunternehmen in Tunesien, „Orange Tunisie“. Dieses gehörte zu 49 Prozent der französischen Firma und zu 51 Prozent einem führenden Mitglied der Mafia: Marwan Mabrouk, einem Schwiegersohn von Präsident Ben ’Ali. Im Augenblick hat die französische Telekom deswegen ein erhebliches Problem, denn der tunesische Eigentümer floh zusammen mit seinem Clan aus dem Lande ...

Nichtsdestotrotz löste diese einheimische Bourgeoisie die Bewegung, die zum politischen Umsturz führte, nicht aus und führte die Demonstrationen nicht an: Als scharf geschossen wurde, waren es junge Prekäre, die in Kasserine auf den Straßen den Kugeln trotzten. Und die Interessen dieser tunesischen Bourgeoisie einerseits, jene der Jugend, des prekären Subproletariats im „informellen Sektor“ und der Arbeiterschaft andererseits dürften in naher Zukunft erheblich auseinanderdriften. Bislang zogen sie noch an einem Strang.

Vgl. auch: Artikelserie von Bernard Schmid: „Tunesien: Übergangsregierung vor dem Aus - oder doch nicht?“, im LabourNet Germany unter Internationales > Tunesien

Speziell zur Rolle der UGTT vgl. insbesondere:

http://labournet.de/internationales/tn/benali6.html externer Link

http://labournet.de/internationales/tn/benali7.html externer Link

Erschienen im express, Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 01/11
express im Netz unter: www.express-afp.info externer Link, www.labournet.de/express externer Link


1) Die letzte erfolgreiche demokratische Revolution in der Region war die Jugendrevolte in Algerien im Oktober 1988, die der Ein-Parteien-Herrschaft der (seit der Unabhängigkeit 1962 regierenden) „Nationalen Befreiungsfront“ – des FLN – ein Ende setzte. Auf einem anderen Blatt steht, was später daraus wurde: 1989 wurde eine Demokratisierung Algeriens, mit Einführung eines Mehr-Parteien-Systems sowie freier Gewerkschaftsgründung, eingeleitet. Doch ab 1991/92 wurde die junge Demokratie zwischen einer erstarkenden islamistischen Bewegung – deren politische Natur reaktionär war, die sich jedoch auf soziale Veränderungswünsche in den Unterklassen stützten konnte – einerseits und dem Revanchewunsch der (nie wirklich entmachteten) Oligarchie andererseits zerrieben.

2) Vgl. etwa MarocHebdo vom 21. Januar 2011: „La révolution tunisienne – La main de la CIA“ („Die Hand der CIA“). Untertitel: „Wie der General Rachid Ammar den Präsidenten Ben ’Ali mit amerikanischer Unterstützung absetzte“

3) Vgl. etwa einen Gro bteil der Kommentare unter folgendem Artikel (dessen Autor sich seinerseits enthusiastisch über die Entwicklung zeigt, jedoch selbst hochproblematische Sachen dazu schreibt): http://juergenelsaesser.wordpress.com/2011/01/30/hoch-lebe-die-arabische-revolution/ externer Link - Auf dieser Webseite gehören Verschwörungstheorien zum täglich’ Brot und dienen als Grundlage einer, nationalistisch unerlegten, Pseudo-Gesellschaftskritik.


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