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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Soziale Revolte in Tunesien und Algerien - Teil III Der Präsident sieht "Terroristen" am Werk, muss jedoch der Sozialrevolte zumindest vordergründig Zugeständnisse erklären Teil I und Teil II erschienen im Labournet am 23. Dezember 2010 sowie am 07. Januar 2011 "Terroristische Aktionen" sieht Tunesiens Präsident Zine el-Abidine Ben Ali (74) am Werk, und meint die Brandstiftungen an öffentlichen Gebäuden und Widerstandsaktionen gegen Polizisten im ganzen Land - die jedoch aus den sozialen Unruhen resultiere. In einer in ernstem Ton vorgetragenen Ansprache wandte Ben Ali sich an "sein" Volk - vgl. bei YouTube - und sprach von einer ersten Situation für " die Söhne und Töchter " des Vaterlands. Gleichzeitig sah er sich jedoch gezwungen, " die Anliegen der Bürger " zumindest vordergründig sehr ernst zu nehmen. Im selben Atemzug versprach Obergorilla Ben Ali also, " 300.000 Arbeitsplätze bis im Jahr 2012 " zu schaffen. In einem Kommuniqué versprach die Regierung ihrerseits, " 50.000 Arbeitslose in den kommenden vier bis acht Wochen " im Staatsdienst einzustellen. Die soziale Bewegung der letzten Wochen in Tunesien - in einem Land, in dem fast jegliche Information zensiert ist - erscheint beinahe unglaublich. Und doch war sie möglich. Internet und Facebook waren dabei wichtige Hilfsmittel für die massive Jugend- und Sozialprotestbewegung, die sich in den letzten drei Wochen in Tunesien formierte. Diese Revolte ist die erste, die Tunesien in diesem Ausmaß seit einem Generalstreik in den Jahren 1977/78 sowie den "Brotrevolten" von 1984 (deren Niederschlagung zahlreiche Tote kostete) erlebt - die letzte breite soziale Protestbewegung im Juni 2008 erfasste vor allem das Bergbaubecken von Gafsa, vgl. im LabourNet. Ihr aktueller Auslöser war der Selbstmord eines jungen Prekären. Am 17. Dezember übergoss sich der 26jährige Mohammed Bouazizi in der 40.000 Einwohner zählenden zentraltunesischen Stadt Sidi Bouzid mit einer brennbaren Flüssigkeit, Terpentin, und zündete sich an. Voraus gingen zahlreiche Schikanen durch die örtliche Polizei. Beim letzten Mal hatte eine Polizistin den jungen Mann, der Abitur hat, aber sein Leben durch "illegalen" Gemüseverkauf auf dem Markt fristen musste, angespuckt. Bouazizi wollte sich auf dem Polizeipräsidium beschweren, wo man ihn zum Teufel schickte. Daraufhin beging er vor den Türen des Gebäudes seine Verzweiflungstat. Doch Mohamed Bouazizi war nicht allein das Opfer polizeilicher Schikanen. Er wurde auch zum Sinnbild einer "verlorenen Generation", einer Jugend mit Schul- und oft Hochschul-Abschlüssen, aber ohne Chancen auf einen halbwegs erträglichen Job. Dass die aktuelle Explosion vom vernachlässigten Landesinneren - das gegenüber den etwas besser gestellten Küstenregionen systematisch "vergessen" und übergangen wird - ausging, nimmt dabei kein Wunder. In Sidi Bouzid ist die Rede von 48 Prozent Arbeitslosigkeit - und 60 Prozent in der jüngeren Generation. Die Schwestern und Brüder von Mohamed Bouazizi haben Hochschulabschlüsse und dennoch keinen Job. Er selbst besitzt "nur" das Abitur, womit er allerdings bereits einen höheren Bildungsabschluss aufweist als der Präsident: Der 74jährige Zine Abidine Ben Ali verfügt über keinerlei Diplom, auch kein Abitur. Das Einzige, was er im Leben gelernt hat, ist Repression: Seine Laufbahn führte über die Positionen eines hohen Polizeifunktionärs, eines bei französischen und US-amerikanischen Nachrichtendiensten ausgebildeten "Superbullen" und das Amt des Innenministers bis in den Präsidentenpalast. Seitdem er im November 1987 seinen Vorgänger im "Palast von Karthago", Habib Bourguiba, den "Vater der tunesischen Unabhängigkeit", für "medizinisch amtsunfähig" erklären ließ, residiert er dort ohne Unterbrechung. Die Machtausübung seines Regimes basiert auf keinerlei offiziell proklamierter "Idee". Vielmehr fußt sie auf dem nackten Machtanspruch eines Polizeistaats, gekoppelt an Konsumversprechen für die Bevölkerung, die sich jedoch längerfristig als trügerisch erwiesen. "80 Prozent der Bevölkerung gehören zum Mittelstand", propagierte das Regime in früheren Jahren, und versprach eine Lebensweise wie in Europa - die jedoch für das Gros der Einwohner auf Krediten basierte, die sie nun nicht oder nur unter schwersten Mühen zurückzahlen können. So auch die Familie von Mohamed Bouazizi, die von Schulden und abzuzahlenden Krediten erdrosselte wurde. Nach dem Tod ihres Bruders - der am 04. Januar in einem Krankenhaus in Tunis seinen Verbrennungsverletzungen erlag - wurde nunmehr der Schwester Mohameds ein Job im Staatsdienst versprochen. Am gestrigen Montag sprach die tunesische Opposition von 60 Toten, von denen ein Großteil in den beiden Nächten zuvor durch Schüsse mit scharfer Munition in Thala und Kasserine gestorben sei. Am Montag fügte sie hinzu, in Kasserine seien Scharfschützen auf den Dächern stationiert, die von dort aus auf Demonstranten und "Randalierer" zielen. Unterdessen wurde in Kasserine zu einem Streik der Arbeiter in der örtlichen Zellulosefabrik aufgerufen, der zur Stunde stattfindet. - Die Internationale Vereinigung der Menschenrechtsverbände (FIDH) ihrerseits spricht am heutigen Dienstag von "mindestens 35 Toten" der Repression in Tunesien. Das Regime in Tunis seinerseits spricht in einer offiziellen Bilanz von bislang 14 Toten und rechtfertigt den Schusswaffeneinsatz: Dieser sei angeblich "in Notwehr" erfolgt, und es seien auch mehrere Polizisten verletzt worden, "drei von ihnen schwer". Doch die ersten beiden Toten unter den Protestierenden hatte es schon Wochen zuvor gegeben, nachdem die Polizei am 24. Dezember in Menzel Bouzaïene das Feuer eröffnet hatte. Daraufhin starb der 18jährige Mohamed Ammari im Kugelhagel, und der schwerverletzte Chawki Hidri erlag eine Woche später seinen Verletzungen. Nur spärlich dringen die Informationen aus Thala und anderen Zentren der Protestbewegung, die einer rigiden Nachrichtensperre unterworfen sind und in denen weder tunesische noch ausländische Journalisten ungehindert arbeiten dürfen. Der französischen Abendzeitung Le Monde wurde etwa glatt die Einreise für die Journalistin Isabelle Mandraud - die die Proteste verfolgt - nach Tunesien verweigert. Wesentlich schlimmer noch ergeht es ihren tunesischen Kollegen. Die beiden Presseleute Zouheir Makhlouf und Loez el-Bey wurden am 24. Dezember "live" während der Aufzeichnung einer Radiosendung durch die Polizei misshandelt. Umso wichtiger wurde dadurch die Rolle des Internet. Doch auch dieses ist längst zum Kampfschauplatz geworden. Das Regime versucht darüber hinaus, die Akteure im virtuellen politischen "Cyberware" auf ganz handgreifliche Weise unter ihre Kontrolle zu bringen. Seit dem vergangenen Donnerstag (o6. Jan.) nehmen die Verhaftungen unter Bloggern - es gibt 900 von ihnen in Tunesien, von denen ein gutes Drittel regelmäßig aktiv ist - massiv zu. So wurden drei Mitglieder des tunesischen Ablegers der "Piratenpartei" festgenommen: Slim Amamou, Azyz Amami und Sla Eddine Kchouk. Zwei von ihnen wurden am vergangenen Sonntag wieder freigelassen, zusammen mit dem regimekritischen Rapsänger, Hamada Ben-Amor aus der Küstenstadt Sfax, der unter dem Spitznamen "El General" bekannt ist. Hingegen fehlt bisher jegliche Nachricht von Azyz Amami. Die Regierung glaubt, durch die Festnahmewelle unter Internetnutzern endlich "Ammar 404" enthauptet zu haben. So nennt sich sarkastisch die Netzbewegung von Regimekritikern, unter Anspielung auf die Fehlermeldung "Ammar 404" - oder englisch "error 404" -, die in Tunesien regelmäßig auf den Bildschirmen aufscheint, sobald man sich auf eine politisch unliebsame Webseite zu klicken versucht. Unterdessen wurde auch bekannt, dass der mit Abstand meistgenutzte Internet-Provider in Tunesien mutmaßlich die Passwörter von Benutzern "schluckt". Die Agence d'Internet tunisienne (AIT) soll auf diese Weise die Zugangs-Codes zu Diensten wie Yahoo, Google und Facebook Außenstehenden - etwa auch Polizisten oder Nachrichtendienstlern - zugänglich machen. Die Providerfirma AIT gehörte bis im September 2010 einer Tochter von Präsident Ben Ali, Cyrine Mabrouk, die seitdem einen privaten Radiosender in luxuriöser Umgebung leitet. Das tunesische Informationsministerium hat direkten Zugriff auf den Provider. In einem Land, wo ein Prozent der Bevölkerung - ein Rekordwert - bei den Sicherheitskräften beschäftigt ist, konnte bislang noch jede strukturierte politische Opposition erstickt werden. Die Revolte der letzten Wochen hat dieses Korsett nun gesprengt. Dass Anwälte und andere Berufe sich massiv der Bewegung anschlossen, weil sie glauben, sie erlaube die Durchsetzung grundlegender politischer Freiheiten, ist ein wichtiges Element für die nähere Zukunft. Die übrigen Maghreb-Staaten haben unterdessen Angst vor einem Übergreifen des Funkens der Revolte. In Marokko wurden vorsorgliche mehrere Solidaritätskundgebungen für die tunesische Jugend, die in Rabat und Casablanca geplant waren, verboten. Unterdessen rief in Algerien die unabhängige Gewerkschaft der Staatsbediensteten - SNAPAP - für Donnerstag zu Solidaritätskundgebungen für Tunesien auf. Diese Initiative wurde jedoch durch die Wucht einer eigenen Rebellion der algerischen Jugend überrollt. Seit dem vergangenen Dienstag brannte es zunächst in einem ärmeren Stadtteil der Hauptstadt Algier - Bab el-Oued -, dann auch in der westalgerischen Metropole Oran und in mehreren Städten im Nordosten des Landes. Am Wochenende waren fünf Todesopfer infolge von Zusammenstößen mit der Polizei zu beklagen, in Msila, Annaba, Boumerdès und Tipaza. 1100 Personen waren infolge von "Randalierens" und Plünderungen festgenommen worden. Vielerorts wurden Staatssymbole, darunter auch 40 Schulen, angegriffen. Den auslösenden Funken in Algerien bildete die starke Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel, besonders Speiseöl und Zucker. Diese ist unter anderem auf internationale Preisschwankungen infolge von Spekulationen und auf die starke Importabhängigkeit Algeriens bei fast allen Gütern - mit Ausnahme seiner beiden Devisenbringer Erdöl und Gas - zurückzuführen. Aufgrund der Proteste beschloss die algerische Regierung am Samstag, die Importsteuern und Abgabe auf die betroffenen Grundbedarfsgüter um 41 Prozent zu senken, in der Hoffnung, so zur Senkung der Preise zu führen. Aber die Revolte der Jugend geht längst über den Protest gegen die Preise für diese Nahrungsmittel hinaus. Bernard Schmid, Paris,11.01.2011 |