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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Wochenlange Rentnerproteste in ganz Russland - Putin macht Zugeständnisse Seit dem 10.Januar 2005 wird Russland von einer regelrechten - und in diesem Ausmass nicht erwarteten - Protest- und Aktionswelle der RentnerInnen geprägt - der sich zunehmend auch die potentiellen RentnerInnen anschliessen. Es geht um eine Systemänderung - mehr sei es nicht, sagt die Regierung - der Sozialpolitik. Finanzielle Zuschüsse sollen künftig an die Stelle der kostenlosen Versorgung treten. Vor allem, was die beiden zentralen Bereiche betrifft - kostenloser Transport und kostenlose Medikamente - sehen die Betroffenen das offensichtlich ganz anders als die Regierung. Am 10.Januar 2005 begannen die Proteste in Moskau, Solnechnogorsk, Samara und Almetevsk (Tatarstan), als in allen 4 Städten zusammen etwa 10.000 Menschen jeweils stundenlange Strassenblockaden organisierten. Am Tag darauf wurden diese Aktionen nicht nur wiederholt, sondern es wurden auch Aktionen in Sterlitamak, Ufa, Tolyatii, Vladimir, Staryi Oskol, und Barnaul gemeldet - wobei alleine in Sterlitamak 7.000 Menschen beteiligt waren. Neben Strassenblockaden wurden jetzt - vor allem aus Volgograd - massive "Bezahlt wird nicht" Aktionen vermeldet. Aus zahlreichen Städten werden auch Schlägereien mit dem Transportpersonal berichtet. Ebenfalls am 11.Januar fährt in Moskau ein Auto in eine Blockadereihe von Rentnerinnen und verletzt vier von ihnen schwer. Am selben Tag gibt es die ersten 12 gerichtlichen Ermittlungen gegen Blockierer. Am 12. und 13.Januar wiederholen sich die Proteste in den aufgeführten Städten und es kommen immer neue dazu - die grössten Aktionen finden in Izhevsk statt, wo 5.000 Menschen die Strassen blockieren. Waren die Mainstream-Medien in den ersten beiden Tagen noch deutlich in ihrer Stossrichtung: Die Kommunistische Partei und die Kommunistische Arbeiterpartei "stehen dahinter", so ändert sich dies deutlich ab dem 13.Januar: alles spontan, chaotisch, oder auch - kriminell. Findet die Polizei zum guten Teil nicht - in mehreren Städten gibt es Einsatzverweigerungen, denn auch die Polizisten haben zum neuen Jahr ihren Anspruch auf kostenlosen Transport verloren... Am 13.Januar sagt Patriarch Alexis II in einem "Interfax-Interview": "Reformen dürfen den Menschen nicht die Möglichkeit nehmen, Transportmittel zu benutzen, Miete zu bezahlen und medizinisch versorgt zu werden" - was allseits als eine Unterstützung für die Aktionen interpretiert wird und auch nicht dementiert. Am selben Tag verkündet der Premierminister von Tatarstan, die Zuschüsse für Grundbedürfnisse würden verdoppelt, und im Bezirk Oblast wird bekanntgegeben, der Gouverneur habe die Wiedereinführung des kostenlosen Transports verfügt. Von wegen nichts erreichen - wir gewinnen! Proteste würden nichts bewirken, war Anfang Januar das Medien-Machtwort gewesen - auch in Russland regiert das Einheitsdenken die Medienwelt. Deswegen tauchen ab 14.Januar auch Transparente wie das oben zitierte auf - und es wird berichtet, viele DemonstrantInnen weigerten sich, mit der Presse usw zu sprechen. Und neben immer grösseren und immer weiter verbreiteten Blockaden und Demonstrationen gibt es ab 14.Januar auch immer zahlreicher lange heftige Kundgebungen vor Regierungssitzen, regionalen Parlamenten etc. Nach einer Woche stets wachsender Proteste meldet sich erstmals Präsident Putin zu Wort - wohl auch, weil in den ersten Januartagen seine Beliebtheit bei Umfragen deutlich sank. Er versprach, überall werde es billige Monatskarten geben und kündigte an, die Rentenerhöhung werde um einen Monat auf den 1.März 2005 vorgezogen und die Erhöhung werde 200 statt der einst geplanten 100 Rubel (grob 1 US Dollar gleich 30 Rubel) betragen. Am selben Tag finden in Moskau 24 verschiedene RentnerInnendemonstrationen statt, im sibirischen Archangelsk wird die Innenstadt von Tausenden blockiert, die anschliessend das Bürgermeisteramt besetzen. Nicht genehmigte Demonstrationen gibt es an diesem Tag in Orel, Kaluga, Stavropol, Vologoda, Kazan, Novgorod, Khabarovsk, Angarsk, Nalchik, Cherkessk, Perm, Saratov, Tyumen, Novosibirsk, Naberezhnyi Chelny, und Yuzhno-Sakhalinsk - also quer durch das Riesenland. Der Gouverneur des Bezirks Moskau verkündet die Wiedereinführung des kostenlosen Transports. Der Hauptenor der Medien wandelt sich: Was wird im februar sein, wenn die Menschen die ersten Rechnungen für Medikamente usw bekommen? "Sie" werden immer mehr... Kazan, Kaluga, St. Petersburg, Perm und Tomsk vermelden an diesem Tag die grössten Demonstrationen - und die längsten Strassenblockaden, an denen sich in Perm 2.000 und in Tomsk 7.000 Menschen beteiligen - jetzt wird erstmals ausführlich berichtet, dass zunehmend auch "Nichtrentner" sich beteiligen. Die Politikerkaste reagiert auf gewohnte Weise: Neben den wachsenden Zugeständnissen, wo die "Not" am grössten, gibt es ungebetene Ratschläge wie, man möge sich auf legale Mittel beschränken von oppositionellen Parteien und die Schuldzuweisung an regionale Verantwortliche durch die Regierungsparteien, während die Blätterwelt inzwischen darin schwelgt auszumalen, in welchem Ausmaß die KPs von dieser Bewegung überrascht wurden...Die Polizei wird nach und nach - wie auch immer - auf "Linie" gebracht und in Perm wird ein Rentner als "Rädelsführer" festgenommen - allerdings wieder freigelassen, als die Demonstranten ihrerseits den Gouverneur festsetzen. In Samara wird der örtliche Vorsitzende der Kommunistischen Jugend festgenommen. Der Vorwurf: "Hooliganismus" (ähem, räusper kann da jemand, der ein bisschen die Geschichte der KPdSU kennt nur sagen). Seltsame Kritiken Ab dem 18.Januar beginnt ein kleiner "Medienkrieg": mehrere Zeitungen machen grosse Schlagzeilen daraus, dass die wichtigsten TV Sender am Sonntag, den 16. in mehreren (auch in Russland ein beliebter Schwachsinn) Talkshows ausschliesslich Regierungsvertreter und staatstragende Opposition als "Gäste" hatten und keinen einzigen Protestierer zu Wort kommen liessen. Eine berechtigte Kritik, die aber kaum darüber hinwegtäuschen kann, dass die Zeitungen es nicht viel anders handhaben...was die TV Sender in entsprechenden Erklärungen genüsslich auswalzen. Viele RentnerInnen ziehen die Konsequenz aus der Desinformationskampagne und gehen zu Demonstrationen und Blockaden mit Schildern, auf denen die Höhe ihrer Rentenbezüge steht. Durch mehrere Medien geht eine Frau aus Moskau, auf deren Schild steht: Mit 1.700 Rubeln wird jeder Laden zum Museum Während in den Medien unterdessen die für die Menschen reichlich unerhebliche Frage zum Hauptthema wird, ob Premierminister Mikhail Fradkov "geopfert" werde, machte die Regierung am Mittwoch, den 19.Januar weitere Zugeständnisse - vor allem sollen die finanziellen Zuschüsse weiter erhöht werden, wofür zusätzliche rund 125 Millionen US Dollar bereitgestellt werden sollen. Möchte man Finanzminister Alexei Kudrin einmal Glauben schenken. hätten sich bisher knapp eine halbe Million Menschen an den Protesten beteiligt: Er sagte nach der Kabinettssitzung, lediglich ein bisschen mehr als ein Prozent der RentnerInnen hätten sich an den Protesten beteiligt - bei über 40 Millionen RentnerInnen (wie in allen ehemaligen Planwirtschaften stets zu erinnern: unter den RentnerInnen sind stets auch sehr viele jüngere, die über - auch in Russland bei diversen gewerkschaftlichen Strömungen beliebten -"Sozialpläne" aus ehemaligen Staatsbetrieben aussortiert wurden). Mit Zugeständnissen einerseits und Bemühungen die Polizeiaktionen effektiver zu machen, Rädelsführer dingfest andrerseits, versucht die Regierung, "gute und böse" ProtestiererInnen zu trennen und nimmt den Faden auf, den zu Beginn die Medien vorgaben: Kommunisten (und Faschisten) seien die Urheber. Das ist nicht nur weltweit sattsam bekannt, das macht sie auch aktuell nicht populärer, denn es ist nun einmal eine weitgehend spontan entstandene und nach wie vor so geprägte Bewegung, trotz aller selbstverständlich vorhandener Aktivität lokaler Mitglieder aller möglichen Parteien und Gruppierungen - unter denen auffällt, dass Gewerkschaften wenig zu sehen sind... (Zusammengestellt von hrw aus Netz-Materialien und 3 Telefongesprächen mit ehemaligen russischen Gewerkschaftsdelegations-TeilnehmerInnen, die heute auch RentnerInnen sind...) |