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Updated: 18.12.2012 15:51 |
Mindesthungerlohn - In Rumänien fordern die Gewerkschaften eine deutliche Erhöhung des kläglichen Mindestlohns Artikel von Rosso Vincenzo * Der folgende Artikel zur wirtschaftlichen und gewerkschaftlichen Situation in Rumänien erschien in einer aus Platzgründen stark gekürzten und redigierten Fassung in der Tageszeitung „junge Welt“ (www.jungewelt.de ) vom 31.1.2008 unter dem Titel „El Dorado auf Zeit“. Hier die komplette Ursprungsfassung: Die Verlagerung der Nokia-Handy-Produktion von Bochum nach Cluj hat das Billiglohnland Rumänien wieder in die Schlagzeilen gerückt. Dort führen die Hungerlöhne inzwischen zu einer massenhaften Abwanderung von Fachkräften und zur Forderung der Gewerkschaften nach einer Anhebung des Mindestlohns um 60%. Rumänien ist bei ausländischen Investoren beliebt. Das Land bietet neben Bulgarien die niedrigsten Löhne und die niedrigsten Steuern in der EU. Der Durchschnittslohn betrug im Sommer 2007 433 Euro, wobei die höchsten Löhne bei Banken und Versicherungen (1.157 Euro), in der Luftfahrt (1.040 €) sowie in der Energieindustrie (676 €) und die niedrigsten in der Textilindustrie (283 €), im Gaststättengewerbe (263 €) bzw. in der Chemieindustrie (245 €) gezahlt wurden. Gesetzlich erlaubt ist eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit von 48 Stunden (auf Jahresbasis versteht sich!). Gleichzeitig verlangt der rumänische Staat auf Unternehmensgewinne und Privateinkommen nur einen Steuersatz von 16%. Obendrein winken Investoren reichhaltige Subventionen. Wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am 17.1.2008 berichtete, „profitiert Rumänien von erheblichen Finanzmitteln zur Modernisierung seiner Infrastruktur. 2008 dürfte die Regierung in Bukarest aus EU-Töpfen rund drei Milliarden Euro erhalten und auch an Unternehmen weiterreichen.“ Kein Wunder, dass der Gesamtumfang ausländischer Direktinvestitionen bereits Ende 2006 auf 34,5 Milliarden Euro angewachsen war und das Wirtschaftswachstum 2006 um 7,7% wuchs. Lange vor dem finnischen Nokia-Konzern hatten deutsche Großunternehmen wie der Nürnberger Kabel- und Bordnetzproduzent Leoni oder die Continental AG das neoliberale El Dorado Rumänien entdeckt und Produktionen dorthin verlagert. Conti-Chef Manfred Wessemer erklärte ganz ungeniert, dass in Rumänien Extraprofite locken und ging „rustikal“ zu Werke, wie selbst die „Wirtschaftswoche“ am 4.6.2007 feststellte. Wenn der Lohnanteil etwa in der Reifenfertigung in Westeuropa bei 30% in Rumänien hingegen nur bei 3% liegt, werden Sozialpartnerschaft und gute Umgangsformen schnell zweitrangig. Selbst führende Finanzkonzerne nutzen mittlerweile dieses Sonderangebot: Die italienische UniCredit siedelte jüngst ihr Backoffice-Kompetenzzentrum für Kreditkarten und Konsumentenkredite in dem südosteuropäischen Land an. UniCredit spart mit dem so genannten „Near-Shoring“ viel Geld: In Rumänien kostet ein Banker im Schnitt 13.000 Euro jährlich, In Deutschland und Österreich sind es mindestens fünfmal soviel. Zu einem Problem droht nun ausgerechnet der freie und einheitliche EU-Binnenmarkt zu werden, von dem ausländische Investoren bislang so üppig profitierten, ist dieser „freie Markt“ doch auch ein „freier Arbeitsmarkt“. Während das Kapital in Rumänien dank Billiglöhnen nach Extraprofite sucht machen sich qualifiziertere Arbeitskräfte zunehmend auf die Suche nach höheren Löhnen im Westen und sinkt die Geburtenrate infolge der prekären Einkommen drastisch. Das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) stellte bereits im letzten Juni fest, dass auf dem „Hoffnungsmarkt Rumänien“ der Fachkräftemangel deutlich zunimmt: „Einerseits weil Hunderttausende qualifizierte Arbeitskräfte entweder ausgewandert sind oder in den alten EU-Ländern arbeiten.“ Das „Handelsblatt“ prognostizierte am 8.8.2007, dass die Einwohnerzahl Rumäniens in den kommenden Jahren „um etwa 4,5 Millionen schrumpfen“ wird. Das entspricht 20% der heutigen Bevölkerung. Die rumänischen Gewerkschaften versuchen dem nun zumindest etwas Einhalt zu gebieten und fordern angesichts der florierenden Wirtschaft eine Anhebung des Mindestlohns um 60%. Gegenwärtig liegt der von der Regierung festgelegte Mindestlohn bei 330 Rumänische Leu (97 Euro) im Monat und beträgt damit weniger als ein Vierzehntel des irischen und nur ein Drittel des polnischen, estnischen oder ungarischen Satzes. Eurostat zufolge lag Rumänien in Kaufkraftparitäten berechnet im Januar 2006 unter allen EU-Mitgliedsstaaten und Beitrittskandidaten mit 189 KKP an letzter Stelle. (Zum Vergleich: Polen kam auf 379 KKP, die Türkei auf 517, Frankreich auf 1.128 und Luxemburg auf 1.417.) Selbst die Arbeitsgeberverbände waren bereit etwas mehr zu geben und vereinbarten mit den Gewerkschaften einen Mindestlohn von 370 Leu (109 Euro). Nach Aussage der Gewerkschaftsverbände würde ein Mindestlohn von 700 Leu (206 Euro) dem statistisch ermittelten Existenzminimum entsprechen, das gegenwärtig weit unterschritt wird. Die (wie auch große Teile der Opposition) immer wieder mit Korruptionsskandalen konfrontierte Minderheitsregierung von Ministerpräsident Calin Popescu Tariceanu, die sich auf die Nationalliberale Partei (PNL), die Ungarn-Partei UDMR und verschiedene Minderheitenparteien stützt, hat in den im September 2007 begonnenen Verhandlungen bislang allerdings keinerlei Bereitschaft zum Einlenken gezeigt. Stattdessen drohte sie im Zuge der Haushaltsplanungen für 2008 mit einem Abbau von 10% der 1,1 Millionen Arbeitsplätze im Öffentlichen Dienst. Die Arbeitgeberverbände reagieren mit einer Mischung aus knallharter Kalkulation und unverbindlicher Gönnerhaltung auf die Forderung. So erklärte PSC-Direktor Gheorghe Polizu: „Vom persönlichen Standpunkt aus betrachtet ist ein Bruttolohn von 600 Leu (177 Euro) gar nichts. Aber vom Standpunkt eines Arbeitgebers aus, der sein Augenmerk auf die Arbeitsproduktivität richtet, verdienen nur sehr wenige Arbeiter eine solche Lohnerhöhung.“ Hält man sich an die Fakten, so war Produktivität pro Beschäftigtem 2006 fünfmal höher als zehn Jahre zuvor. Der Mindestlohn allerdings nur 3,5mal. Geht man von der „Papierform“ aus, dann ist die rumänische Gewerkschaftsbewegung eine der stärksten in Europa und müsste eine beachtliche „Gegenmacht“ darstellen. Bei einer Gesamtbevölkerung von gut 21 Millionen Einwohnern vereinen die vier nationalen Dachverbände laut den glaubwürdigen Zahlen des europäischen Arbeitsgeberverbandes FEDEE insgesamt 2 Millionen Mitglieder. Größte Organisation ist der Zusammenschluss der Nachfolgerin der kommunistischen Gewerkschaftszentrale CNSLR (Allgemeine Union der Rumänischen Gewerkschaften) mit dem im Spätherbst 1991 gegründeten Nationalen Gewerkschaftsblock BNS, die zusammen auf 1,15 Millionen Mitglieder kommen. Daneben existieren das parteiunabhängige, 1990 gegründete und vor allem in der Metallindustrie sowie dem Bergbau vertretene Cartel Alfa (350.000 Mitglieder), die christdemokratische CSDR (ebenfalls 350.000) und der Meridian (150.000). Bei den letztjährigen Mindestlohnverhandlungen beschränkten sich die Gewerkschaften allerdings auf einen gemeinsamen Protesttag im Mai 2006, Drohungen mit weiteren Protesten, die jedoch ausblieben, und einen gemeinsamen Brief an die Regierung, in dem sie ihre Unzufriedenheit mit dem Verlauf der Gespräche zum Ausdruck brachten. Neben der sozialpartnerschaftlichen Einstellung ihrer Funktionärskörper sind die massiven Einschränkungen des Streikrechts und die Dreistigkeit der Unternehmer das größte Problem für die rumänischen Gewerkschaften. Der Internationale Gewerkschaftsbund (ITUC / IGB) stellt in seinem Jahresbericht 2007 über die Verletzungen von Gewerkschaftsrechten bezüglich Rumänien fest, dass „Tarifverhandlungen problematisch“ seien: „ Viele Arbeitgeber missachten das Recht auf Tarifverhandlungen und schließen keine Tarifverträge mit den Gewerkschaften ab, und viele der geltenden Tarifverträge werden nicht in Kraft gesetzt. Während des Jahres 2006 haben sich viele Arbeitgeber geweigert, die jährlichen Verhandlungen über die Löhne, die Arbeitszeit und die Arbeitsbedingungen zu beginnen. Anschließend haben es die zuständigen Arbeitsbehörden abgelehnt, die von den betroffenen Gewerkschaften gestellten Schlichtungsanträge zu registrieren, so dass ein legaler Streik – dem stets eine Schlichtung vorausgehen muss – nicht möglich war.“ Streiks sind nur erlaubt, wenn zuvor alles versucht wurde, um eine Einigung zu erzielen. Der Arbeitgeber muss 48 Stunden im Voraus verständigt werden. Streiks dürfen nur organisiert werden, um die wirtschaftlichen Interessen der Arbeitnehmer zu verteidigen. Politische Streiks sind verboten. Arbeitsniederlegungen sind darüber hinaus illegal, wenn ein Tarifvertrag vorhanden ist. Auch dann, wenn es bei dem Konflikt um ein neues Problem geht, das nicht unter den geltenden Vertrag fällt und wenn sich der Arbeitgeber weigert, mit der Gewerkschaft über dieses neue Problem zu verhandeln. Streiks können auch aufgrund verfahrenstechnischer Unregelmäßigkeiten für illegal erklärt werden. Wenn ein Streik für illegal erklärt wurde, kann der Gewerkschaftsführer rechtmäßig entlassen werden, selbst wenn der Streik unverzüglich beendet wird. Wenn ein Gericht einen Streik für illegal erklärt, muss die Gewerkschaft Schadenersatz zahlen. Außerdem kann das Firmenmanagement bei Gericht die Aussetzung eines legalen Streiks für bis zu 30 Tage beantragen, falls es meint, dass „Leib und Leben von Personen bedroht sind“. Ein Gummiparagraph, der in dem 1999 beschlossenen Gesetz nicht weiter konkretisiert wird und den jeweiligen Richtern allen Spielraum lässt. Noch härter trifft es freilich die öffentlich Bediensteten: Sie können zwar Tarifverhandlungen führen, aber nicht über ihre Gehälter. Die werden einseitig von der Regierung festgelegt! Sollten deutsche Gewerkschaften tatsächlich an der Abwehr solcher Dumping- und Knebelkonkurrenz interessiert sein, so wäre die rechtliche und praktische Unterstützung sowie die gleichberechtigte Zusammenarbeit mit der rumänischen Gewerkschaftsbewegung ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Darüber hinaus lehrt das Beispiel Rumänien, dass eine Mindestlohnforderung allein nicht ausreicht, denn ein Mindestlohn entpuppt sich nicht selten als Mindesthungerlohn. Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik „Aktuelles“ bzw. die regelmäßig erneuerten Artikel, Übersetzungen und Interviews dort). Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch |