letzte Änderung am 9. März 2004

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Gewerkschaftsforum Hannover:

"Proletarier aller Länder vereinigt Euch !” lautet seit 1848 die berühmteste Parole der Linken weltweit. Dennoch ist das selbst regional betrachtet und nur auf die Gewerkschaftslinke (in Europa) bezogen heute von der Realität meilenweit entfernt. Trotz der berühmt-berüchtigten "Globalisierung”, die in aller Munde ist, trotz EU-Binnenmarkt, Einheitswährung, Stabilitätspakt, EU-Verfassung und fast synchronen Angriffen auf Renten, Sozialstaat und Arbeitsrecht in Europa weiß die Gewerkschaftslinke nur sehr wenig voneinander, unterhält kaum Beziehungen zueinander (von punktuellen betrieblichen Kontakten und gewissen Verbindungen im Automobilsektor einmal abgesehen) und es bedurfte der beiden Europäischen Sozialforen in Florenz und Paris, um hier wenigstens ein bisschen was in Gang zu bringen. Dieser Zustand ist unseres Erachtens unhaltbar und daher haben wir versucht die Kontakte, die wir im Laufe der Jahre gewonnen haben sowie einige neu geknüpfte dazu zu nutzen einen aktuellen Überblick über die gewerkschaftliche Situation und die Probleme, Positionen und Diskussionen der Gewerkschaftslinken in Europa zu geben. Herausgekommen ist Anfang November 2003 eine 76seitige Broschüre im Din A4-Format mit dem Titel "Die europäische Gewerkschaftslinke”. Darin 9 lange Interviews mit Kolleg(inn)en und Genoss(inn)en aus Dänemark, Holland, Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Frankreich, Griechenland und Großbritannien. Dank der Förderung durch die in Berlin ansässige und der Gewerkschaftslinken verbundene Stiftung "Menschenwürde und Arbeitswelt” ist sie zum sehr erschwinglichen Preis von 3 Euro + Porto (BRD: 1,44 Euro / Ausland: 2 Euro) zu bestellen bei: H.Brückner, Kötnerholzweg 48, D ­ 30451 Hannover oder über: gewerkschaftsforum-H@web.de . Um einen Eindruck vom Inhalt der Broschüre zu vermitteln und als "Appetitanreger” hier das Interview zum vieldiskutierten Poldermodell und der gewerkschaftlichen Entwicklung in den Niederlanden mit einem der bekanntesten Vertreter der holländischen Gewerkschaftslinken :

Interview mit Hans Boot

Hans Boot ist 66 Jahre alt, arbeitete bis zu seiner Pensionierung vor zwei Jahren als Dozent für Arbeitswissenschaften an der Universität von Amsterdam. Seit 1965 ist er in verschiedenen Bewegungen aktiv. Zuerst innerhalb der sogenannten "Unterrichtsopposition” (den "Kritischen Lehrern”), dann ab den 70er Jahren verstärkt in der Unterrichtsgewerkschaft und später in der Gewerkschaftsbewegung allgemein, besonders aber im Bereich Industrie und Häfen. Unter anderem war er in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig, aber auch in politischen Theatergruppen etc. Er verfasste zahllose Artikel für linke Zeitungen innerhalb und außerhalb der Niederlande und ist Chefredakteur der seit 1983 erscheinenden Zeitschrift "Solidariteit” (Solidarität), dem Organ der holländischen Gewerkschaftslinken. Anfang 1999 referierte er auf einer gut besuchten Veranstaltung des Gewerkschaftsforums in Hannover über das berühmt-berüchtigte "Poldermodell”.

Kannst Du uns einen kurzen Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in den Niederlanden, insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg geben?

Die Niederlande gehören zu den Ländern in Westeuropa, wo am wenigsten gestreikt wird und die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder am niedrigsten ist. Die Gewerkschaftsbewegung (es gibt kaum Bewegung, daher ist es besser von Gewerkschaftsorganisationen zu sprechen) ist durch eine starke gesellschaftliche Integration geprägt. Das bedeutet, dass die Gewerkschaftsführung auf allen gesellschaftlichen Ebenen an der sozio-ökonomischen Steuerung beteiligt ist. Dabei zeigt sie ein großes Verständnis für die Defizite der kapitalistischen Produktionsweise. Die Gewerkschaften passen sich an die konjunkturelle Entwicklung an und garantieren dabei eine "verantwortungsbewusste" Lohnentwicklung - das heißt Lohnbescheidenheit und Lohnzurückhaltung. Die kapitalfreundliche Position und die Staatsorientierung haben den Einfluss der Gewerkschaftsführung gegenüber den normalen Mitgliedern erheblich gestärkt - sehr zur Zufriedenheit der Unternehmerorganisationen. Diese grundlegende Orientierung der Gewerkschaften gilt nicht nur für die Periode des sog. "Poldermodells", das 1982 mit dem Abkommen von Wassenaar begründet wurde. Das Abkommen leitete eine Politik der Lohnstopps, umfangreicher Deregulierungen, Steuersenkungen für die Unternehmen und Besserverdienenden sowie massiver Kürzungen im Sozialbereich ein. Sie ist bezeichnend für die Geschichte der "modernen" sozialdemokratischen Gewerkschaften, die 1906 begann.

Selbstverständlich können wir nicht von einer geradlinigen Entwicklung sprechen. Es gab durchaus Ausnahmen, zum Beispiel direkt nach dem 1. und dem 2.Weltkrieg, während der 70er Jahre, und in manchen Branchen wie in den Häfen, Teilen des Baugewerbes und der Industrie. Kurz zusammengefasst lässt sich die spezifische Geschichte der niederländischen Arbeiterbewegung durch die lange Dominanz des Handelskapitals bzw. des Kolonialismus erklären. Diese Dominanz wirkte sowohl in wirtschaftlicher als auch in ideologischer Hinsicht. Materiell ist die damit verbundene späte und träge Industrialisierung von Bedeutung. Diese war stets durch den Kleinbetrieb geprägt. Die Tradition der Werkstattorganisation der handwerklichen Manufakturphase, wie sie anderswo in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts entstand, blieb unterentwickelt. Die Folge war eine gewerkschaftliche Organisierung außerhalb der Betriebe, die darauf ausgerichtet war, mit den Unternehmern und dem Staat Kuhhandel zu betreiben und folglich eine zentralistische Struktur entwickelte.

Und die Entwicklung nach dem 2.Weltkrieg?

Vor diesem Hintergrund fand nach dem Zweiten Weltkrieg - schon vorbereitet durch die Entwicklungen Ende der dreißiger Jahre - eine definitive korporativistische Reorganisation der Gesellschaft statt. Die anerkannten Gewerkschaften traten einer Vielzahl von Beratungs- und Kontrollinstitutionen bei, an der drei Parteien beteiligt waren: Unternehmer, Regierung und Gewerkschaften. Was zur Folge hatte, dass nach einer Senkung der Reallöhne zwischen 1945 und 1950 Ende der 50er Jahre die Löhne in den Niederlanden bei gleichzeitig gewaltigen Produktivitätssteigerungen zu den niedrigsten in Westeuropa gehörten. Zugleich gab es eine hohe Fluktuation der Gewerkschaftsmitglieder. Man sprach offen von einer Krise der Gewerkschaften. Ab 1964 wurde versucht, die Versäumnisse in der Lohnentwicklung nachzuholen. Bei niedriger Arbeitslosigkeit kam es zu einer leichten Radikalisierung der Arbeiterklasse. Insbesondere die Metallarbeitergewerkschaft versuchte mit der Geschichte zu brechen und begann mit der sog. Betriebsarbeit. Zum ersten Mal erschien die Gewerkschaft in den Betrieben. Dabei handelte es sich um eine widersprüchliche Angelegenheit: Einerseits gab es eine Basisorganisation der Mitglieder, die zum Teil einen kämpferischen, antikapitalistischen Kurs verfolgten, andererseits war die Betriebsarbeit ein politisches Instrument für die Gewerkschaftsführungen, eine Antwort auf die sich radikalisierenden Strömungen zu finden. Die späten 70er und frühen 80er Jahre waren nach niederländischen Begriffen äußerst "heiß": Außerhalb der Transportarbeitergewerkschaft organisiert, wurde 1979 im Rotterdamer Hafen wochenlang gegen den zuvor abgeschlossenen Tarifvertrag gestreikt. Einen Sieger gab es in dieser Auseinandersetzung nicht. Im Herbst 1983 demonstrierten eine halbe Millionen Menschen gegen die Stationierung der Kurzstreckenraketen. Auch die FNV, die größte Gewerkschaftsföderation, die sozialdemokratischen Ursprung ist, war mit dem Motto "Jobs statt Bomben" daran beteiligt. Kurz darauf streikten die Beamten sieben Wochen lang gegen eine dreiprozentige Kürzung ihrer Gehälter. Jedoch führte auch dieser Kampf nicht zu einem Sieg. Den Lehrern wurde sogar das Gehalt um 3,15 Prozent gekürzt. Auf diese Niederlagen folgte dann ein Rückfall in die "Sozialpartnerschaft” bzw. die erneute Unterwerfung unter die Kapitalinteressen? Ja, das "Abkommen von Wassenaar" vom November 1982 hängt eng mit dieser Niederlage zusammen. Das heißt der berüchtigte zentrale "Einlieferungsvertrag” zur Lohnbegrenzung, auf den sich Vertreter der Unternehmer (darunter der frühere Unterrichtsminister) und die Gewerkschaftsvertreter (darunter der spätere sozialdemokratische Ministerpräsident Wim Kok, der heute Vorstandsmitglied der Shell AG ist) unter der Aufsicht des Staates einigten. Formell war es ein Abkommen der Wiederherstellung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Materiell wurde ein neoliberaler Umstrukturierungspakt abgeschlossen. Eine langjährige Lohnanpassung wurde eingetauscht gegen eine ungehemmte Profitmaximierung. Als Gegenleistung wurde eine geringe, langsam einzuführende Arbeitszeitverkürzung festgelegt. Diese Arbeitszeitverkürzung ermöglichte den Unternehmern, die sog. "stillen Stunden" und die Überkapazitäten abzubauen und gleichzeitig gegen die Arbeiter eine Welle von Flexibilisierungen durchzusetzen. Vielleicht kann den Zustand der niederländischen Gewerkschaften niemand treffender beschreiben als der heutige FNV-Vorsitzende, Lodewijk de Waal, der 1998 sagte: "Es ist für einen Gewerkschaftsvorsitzenden sonderbar, das zu sagen, aber ein Organisationsgrad von zum Beispiel 60% kann nicht gut sein. Ein gewisses Maß von Ohnmacht gehört dazu. Das verhindert nicht, dass ich an sich gern einen etwas höheren Organisationsgrad hätte. (Gegenwärtig sind es 27%, 17% sind in der FNV organisiert.) Aber ich ziehe einen maximalen Organisationsgrad von 35% vor, um ein neues Gleichgewicht in den Beziehungen mit den Arbeitgebern und der Obrigkeit entstehen zu lassen. Eine viel stärkere Machtstellung, so dass die Gewerkschaft alle Veränderungen aufhalten könnte, ist nicht gut. Wesentlich für das Poldermodell ist, dass es ein bei jeder der drei Parteien ein Gefühl von Ohnmacht gibt."

Will heißen: Nach der Meinung der "postmodernen" Gewerkschaftsführung ist die Zeit der "Gegenmacht" vorbei und die Zeit des "Mit der Macht gehen" hat begonnen. Anstatt Vertreter der potentiellen "Gegenmacht" zu sein, pflegt sie die Illusion "Teilhaber der Macht" zu sein und negiert die tatsächliche Herrschaft der Unternehmer. Die Folge ist eine tief greifende Entpolitisierung der Gewerkschaftsorganisationen und damit der gesamten Gesellschaft. Und was noch wichtiger ist: Die Opposition innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften ist marginal, jedenfalls nicht organisiert. Einige kleine politische Parteien ausgenommen. Die radikalen, antikapitalistischen Strömungen der niederländischen Arbeiterbewegung waren immer außerhalb der dominanten sozialdemokratischen Gewerkschaften organisiert und standen mit diesen in stetiger Auseinandersetzung, in die auch politische Parteien einbezogen waren. Zwischen 1893 und 1940 dominierte in der radikalen Linken eine syndikalistische Föderation, von 1945 bis 1958 eine kommunistisch orientierte "Einheitsfachzentrale". Eine interne linke Opposition in den sozialdemokratischen Gewerkschaften gab es selten.

Kannst Du die gegenwärtige Struktur der Gewerkschaften näher erläutern? Welche Bereiche sind gut organisiert, welche schlecht? Wie sieht es mit der Beteiligung von Frauen und Migranten aus?

Es gibt drei Föderationen bzw. Dachorganisationen, deren Mitglieder die Branchengewerkschaften sind. Diese sind formell unabhängig, faktisch dominiert aber die Zentrale der Dachorganisation. Die bereits erwähnte FNV hatte 2002 1.226.000 Mitglieder. Das sind 64% aller gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer. Zweitstärkste Gewerkschaft ist die evangelische, politisch rechts von der FNV angesiedelte, CNV mit 355.200 Mitglieder. Das sind 19% der Organisierten. Noch rechts von den Christlichen befindet sich die neoliberal orientierte, mittleres und höheres Führungspersonal organisierende MHP mit 196.300 Mitglieder (= 11% der organisierten Arbeitnehmer). Die restlichen 6% sind in Branchen- und Berufsverbänden organisiert, die in der Regel Abspaltungen der FNV sind. Daneben gibt es noch eine kleine anarcho-sydikalistische "unabhängige Betriebsorganisation".

Relativ gut organisiert ist der Transportsektor, insbesondere die Hafenarbeiter mit 56% der Arbeitnehmer, und die Lehrer mit 43%. Mäßig organisiert ist der Post- und Telekommunikationsbereich, wo 33% der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied sind, und das Gesundheitswesen mit 24%. Einen niedrigen Organisationsgrad gibt es im Versicherungswesen mit 17%, im Gaststättengewerbe mit 16% und in der IT-Branche mit 6%. Diese Zahlen sind von 1999, aber in den letzten Jahren hat es kaum bedeutende Verschiebungen gegeben. Insgesamt sinkt aber der Organisationsgrad, weil die berufstätige Bevölkerung stärker zunimmt als die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder. Der Organisationsgrad insgesamt beträgt 27%. Davon sind 29% Frauen, 12% Jugendliche und 19% Migranten. Etwa ein Drittel der Gewerkschaftsmitglieder sind Sozialhilfeempfänger, dass heißt Arbeitslose und Bezieher von Alters- oder Erwerbsunfähigkeitsrenten. Die sog. "Selbständigen ohne Personal" machen 5% der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Etwa 3% davon sind organisiert.

In Deutschland wird von interessierter Seite (Unternehmer, Regierung etc.) gern der Eindruck verbreitet, das "Poldermodell” und die damit verbundene Flexibilisierung und Deregulierung hätten die Arbeitslosigkeit in den Niederlanden drastisch reduziert. Stimmt das?

Gegenwärtig steigt die Erwerbslosigkeit schnell an und es gibt Auseinandersetzungen darüber, wie Erwerbslosigkeit definiert werden muss. Das heißt, ob etwa die nicht registrierten Arbeitslosen oder diejenigen, die nicht aktiv Arbeit suchen, mit eingerechnet werden müssen. Zumeist wird die Arbeitslosigkeit klein gerechnet. Danach betrug die Arbeitslosigkeit im Januar 2003 offiziell 4,3%. Im August 2003 waren es bereits 5,5%. Frauen sind mit 6,4% stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer mit 4,8%. Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren waren zu 11,9% arbeitslos und Migranten sind mit über 15% noch häufiger ohne Job. Es gibt aber einen großen Anteil versteckter Arbeitslosigkeit, der in der offiziellen Statistik nicht berücksichtigt wird. Etwa ein Drittel der mehr als 950.000 Erwerbsunfähigen müsste mitgezählt werden, ebenso die etwa 180.000 Frühverrenteten. Rechnet man diese Gruppen ein, dann kommt man auf eine Arbeitslosenrate von mindestens 10%.

Die sog. Erwerbsunfähigkeit ist seit mehr als 15 Jahren ein wichtiges und tragisches Problem. Die nackten Zahlen sagen darüber schon einiges aus: 22% von ihnen sind 60 Jahre und älter. Es handelt sich dabei nicht um Frühpensionierte. 14% der Jüngeren gelten als körperbehindert. Das bedeutet: Mehr als ein Drittel der Erwerbsunfähigen sind ein "Erfolg" der diesbezüglichen Gesetzgebung. Psychische Gründe für eine Erwerbsunfähigkeit geben 34% der Betroffenen an, dabei handelt es sich in der Mehrheit um Frauen und Jugendliche. Insgesamt sind Frauen im Alter von über 35 Jahren und Migranten überrepräsentiert. Mit anderen Worten: Der hohe Anteil der Erwerbsunfähigen an der gesamten Berufsbevölkerung ist ein Resultat der kapitalistischen Arbeitsteilung, des zunehmenden Arbeitsstresses, von schwerer körperlicher Arbeit und sozialer Ausgrenzung.

Und die Arbeitszeit ?

Die Arbeitszeit beträgt im Durchschnitt 36 - 38 Stunden in der Woche, die meisten arbeiten aber 40 Stunden und sparen "freie Zeit" (auf einem Arbeitszeitkonto) an. 15 bis 20% aller geleisteten Arbeitsstunden sind heutzutage Überstunden und 50% aller Arbeitsplätze sind hochgradig flexibilisiert. Das heißt sie sind vollständig an die Maschinenlaufzeiten angepasst. Die Flexibilisierung scheint aber eine Grenze erreicht zu haben. Zum einen wegen der ökonomischen Stagnation, zum anderen, weil die Betriebsbindung und die Loyalität der Arbeitnehmer abnehmen. Zudem erfordert eine hohe Flexibilität eine gute Planung und verursacht daher auch Inflexibilitäten.

Wie haben sich die Einkommen der Lohnarbeitenden in den letzten Jahren entwickelt?

Nach einer langen Periode der Lohnzurückhaltung - von 1982 bis in die 90er Jahre - gab es eine Verbesserung der Kaufkraft, die aber wieder gestoppt wurde. Bei niedrigem Wachstum oder gar Stagnation propagieren die bürgerlichen Ökonomen selbstverständlich eine Stagnation der Löhne und Gehälter. Ein internationaler Vergleich ist schwierig wegen der unterschiedlichen Steuern, Mieten, der Tragweite der Privatisierungen usw. Mit der Flexibilisierung der Arbeitszeiten hat auch die Flexibilisierung der Löhne stark zugenommen. Sehr deutlich ist der Prozess der Deregulierung und der Druck auf die niedrigen Einkommen zu beobachten. Sozialhilfeempfänger etwa geraten nach zwei bis drei Jahren in eine Situation wirklicher Armut. In den hochentwickelten Zentren - Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht - gibt es Stadteile mit großer Armut: Obdachlosigkeit, Drogenprobleme und all das.

Welche Art von Arbeitsverhältnissen schafft das "Poldermodell” ?

40% aller Arbeitsverhältnisse sind Teilzeitarbeit mit Teilzeitlöhnen - das liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt von 18%. Drei Viertel dieser Teilzeit-Jobs sind mit Frauen besetzt - darin besteht die wirkliche Arbeitszeitverkürzung seit 1982. Die Zahl befristeter Jobs beträgt mehr als 10%. Zwei Drittel dieser Jobs haben Frauen. Von den neu geschaffenen Arbeitsverhältnissen sind 40% zeitlich befristet und flexibel.

Du hast schon berichtet, dass die Gewerkschaftsführungen durch ihre Politik des "Co-Managements” mitgeholfen haben, diese Verhältnisse Wirklichkeit werden zu lassen. Inwieweit spielen dabei materielle Vorteile für die Betriebsrats- und Gewerkschaftsfunktionäre eine Rolle ? Und wie siehst Du das Problem der Gewerkschaftsbürokratie?

Das hat viel mit der Gewerkschaftsstrategie zu tun: Die Betriebsräte wurden früher als Konkurrenz zur Gewerkschaft gesehen, danach als Partner, nun als eine Waffe. In den großen Betrieben sind die Betriebsräte von der Arbeit freigestellt und bekommen finanzielle Mittel für ihre Aufgaben. In der Regel sind die Betriebsräte Mitglied in einer Gewerkschaft und haben ein höheres Einkommen als in ihrem vorherigen Arbeitsverhältnis. Die Betriebsratsvorsitzenden haben eine gewisse Autorität. Wirkliche Opposition im Betrieb und in der Gewerkschaft sind keine Empfehlung für eine Blitzkarriere. Grundsätzlich unterscheidet sich die Gesetzgebung in den Niederlanden nicht von der in Deutschland, die Befugnisse der Betriebsräte sind einigermaßen beschränkt. Die Mehrheit der Betriebsratsmitglieder (60-70%) ist organisiert. D.h. ihr Organisationsgrad ist sehr viel höher als bei den normalen Beschäftigten. Die Mehrheit dieser organisierten Betriebsratsmitglieder ist allerdings nicht gewerkschaftlich aktiv. Die Minderheit betätigt sich als loyales Kadermitglied der Gewerkschaftsbünde.

Die Bürokratisierung ist hoch entwickelt, auch weil die unabhängige Organisationskraft der Mitglieder schwach ist und damit die Gewerkschaftsgeschichte beherrscht wird von: Konsultationen, Konzessionen, Kompromissen und Konsenssuche. Das alles selbstverständlich institutionalisiert in den entsprechenden Strukturen.

Haben diese Strukturen alles erdrückt oder gab es in den letzten Jahren dennoch bedeutende Arbeitskämpfe?

Es gibt nicht sehr viele gewerkschaftliche und soziale Kämpfe. In der Regel sind die Auseinandersetzungen von vornherein auf einen möglichen Kompromiss ausgerichtet. Meistens geht es um Fragen von Arbeitszeiten und -leistungen wie im mehrwöchigen Bauarbeiterstreik vor einigen Jahren. In den traditionell gut organisierten Branchen - in den Häfen und in der Industrie - schrumpfen aufgrund der Rationalisierungen die Belegschaften, die zudem noch neu zusammengesetzt werden. Der Widerstand bei der Eisenbahn gegen die Neufestsetzung der Reisewege bezüglich der Routen und der Takte durch die Lokführer war auch ein Protest gegen den von der Gewerkschaftsführung festgelegten Akkord. Diese Reorganisation sollte auch eine Vorbereitung auf die Flexibilisierung bei der Bahn insgesamt sein. Interessant war dabei die wichtige, aber zeitlich begrenzte Rolle der sog. Personalkollektive innerhalb der Gewerkschaften, die sich nicht greifbar, informell und schnell via Mobiltelefon und Internet organisieren konnten. Seitdem hat die Privatisierung der Bahn weder ökonomisch noch politisch oder ideologisch eine Chance.

Wie sieht das Verhältnis zwischen den Gewerkschaften und der Antiglobalisierungsbewegung aus? Gibt es Versuche zu einer Kooperation?

Die Beziehungen zwischen den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften sind sehr schwach. In bestimmten Fragen finden sie zueinander, etwa bei den GATS-Verhandlungen. Die Antiglobalisierungsbewegung - in den Niederlanden heißen sie "Andersglobalisieringsbeweging" - erfreut sich einer wachsenden Teilnahme von Schülern und Studenten - eine wichtige Entwicklung. Leider fehlt ihr der historische Hintergrund. Während linke - nach meiner Meinung sektiererische - Gruppen sich zuviel Sorgen um ihre Traditionen machen und sie zum Dogma erheben. Im allgemeinen sind wichtige Teile der sozialen Bewegungen (Umwelt, Frauen, Erwerbslose) in Beratungsstrukturen integriert und üben einen erheblichen ideologischen Einfluss aus. Sehr aktiv sind die kleinen, radikalen anarchistischen Gruppen, die etwa in Umweltfragen oder in der Frage der illegalen Migranten eine eigenständige Politik verfolgen. Während des Golfkrieges gelang es zudem, eine sichtbare und kämpferische Gruppe von etwa 500 Leuten als "Gewerkschafter gegen den Krieg" zu organisieren. Hier und da beteiligten sich auch höhere Gewerkschaftsfunktionäre daran. <7p>

Apropos Anti- oder Andere Globalisierungsbewegung, welche Position nehmen die Gewerkschaften zur Europäischen Einigung ein? Wie steht Ihr selbst dazu?

Eine integrierte Gewerkschaft mit einer schwachen sozialen Verankerung gerät ins Abseits, wenn die Bedeutung der nationalen Beratungsstrukturen abnimmt und neigt dazu die Flucht nach vorn anzutreten: Mit dem Ausbau des individuellen Interessen-Service in Form von Versicherungen, Karrierebegleitung, Hypothekenberatung usw. Diese Entwicklung gab es schon vorher, sie wird durch den gemeinsamen Binnenmarkt aber verstärkt. Der Glaube an einen sozialen Dialog und eine soziale Europäische Union ist stark ausgeprägt, weil eine solche Orientierung die nationale Geschichte kennzeichnet. Wir selbst sehen in der Form der europäischen Einigung einen weiteren Angriff auf die Demokratie. Der Staatseinfluss sinkt und die Herrschaft der Märkte wird gestärkt.

Wie steht es um das Verhältnis von Gewerkschaften und Politik? Gibt es eine organisierte linke Gewerkschaftsströmung, die sich für politischere und kämpferischere Gewerkschaften einsetzt?

Die sozialdemokratische Orientierung der Gewerkschaftsmitglieder ist weiterhin dominant. Es gibt allerdings zwei im Parlament vertretene Parteien links von der sozialdemokratischen "Partij van de Arbeid" (PvdA): "GroenLinks" und die "Socialistische Partij". Beide lassen sich als radikal-/links-sozialdemokratisch charakterisieren, haben aber traditionell kaum Einfluß in den Gewerkschaften. "GroenLinks" ist radikal-evangelisch, pazifistisch und "kommunistisch", d.h. in ihr sind die Reste / die "eurokommunistische” Mehrheitsströmung der aufgelösten niederländischen KP aufgegangen. Die "Socialistische Partij" hat eine maoistische Vorgeschichte und ergreift meistens selbständige Initiativen, auch in Bezug auf soziale und ökonomische Fragen. Von einer organisierten linken Gewerkschaftsopposition kann nicht gesprochen werden. Die Zeitschrift "Solidariteit" (Solidarität), bei der ich "Chefredakteur" bin, wurde vor 20 Jahren in der Absicht gegründet, die oppositionellen, verstreuten Stimmen und Aktivitäten zu bündeln und ihnen ein Sprachrohr zu geben. Darüber ist dann unbeabsichtigt "die" Opposition geworden. "Solidariteit" hat eine Position, genießt Anerkennung und verfügt über eine gewisse Bedeutung. Es braucht aber Kraft, um den Kampf zu verstärken. Nach wie vor sind wir mit den verschiedenen kritischen Gruppen - der Antiglobalisierungs-, der Antikriegsbewegung usw. eng verbunden und in ihnen aktiv. Außerdem stehen wir immer mit den Mitgliedern der Gewerkschaften in Kontakt, die Aktionen unternehmen. <7p>

Aus gegebenem Anlass noch einmal zurück zur Weltpolitik: Gibt es bei Euch Diskussionen über den Israel-Palästina-Konflikt? Und wenn ja, welche praktischen Konsequenzen hat das?

Wir haben gute Kontakte zu einer neuen Gewerkschaft in Israel/Palästina, dem "Workers Advice Center", das wir nach Möglichkeit unterstützen, auch finanziell via FNV. Leider hat die FNV eine lange Tradition der Zusammenarbeit mit dem staatstreuen israelischen Gewerkschaftsbund Histradut.

Auch am 11. September 2001 und dem danach nicht nur von Bush und Blair entfesselten "Krieg gegen den Terror" kommen wir natürlich nicht vorbei. Wie seht Ihr diese Ereignisse ? In wieweit wirkt sich das politisch und gewerkschaftlich in den Niederlanden aus?

Nach den Ereignissen des 11.September 2001 wurde das verschärft und in Gesetze und in praktische Politik umgesetzt, was schon lange gängige Praxis war. Und ­ sehr wichtig ­ es wurde zum ersten Mal auch ganz offen ausgesprochen und propagiert. Zum Beispiel, dass Jugendliche aus Marokko, die in Holland straffällig geworden sind, strenger bestraft werden müssten als andere, weil sie eine andere Kulturgeschichte hätten (wie ein Polizeikommissar letztens verkündete). Junge Asylbewerber werden, ohne dass sie irgendetwas "Kriminelles” gemacht haben, eingesperrt, um "resozialisiert” und darauf vorbereitet zu werden, dass man sie in ihre Herkunftsländer zurückschickt. Hier handelt es sich um einen Diskurs und eine Entwicklung, in denen "Islam” und "Terror” gleichgesetzt werden. Und in diesem Rahmen werden dann Razzien gegen "illegale” Arbeiter veranstaltet, während illegale Unternehmer, Verleiher und Miethaie, die an ihnen kräftig verdienen, geschont werden. Auch nicht unwichtig sind die scharfen Sicherheitsmaßnahmen und die hohe Polizeipräsenz in den niederländischen Häfen. Das sind Dinge gegen die eindeutig Widerstand organisiert werden muss, auch von gewerkschaftlicher Seite aus, sonst wird diese fremdenfeindliche Bewegung sehr unangenehme Auswirkungen haben.

Die Notwendigkeit gewerkschaftlichen, politischen und sozialen Widerstandes existiert sicherlich auch gegenüber den Maßnahmen, die die neue niederländische Regierung plant. Kannst Du zum Abschluss noch kurz auf diese ganz aktuelle Entwicklung eingehen ?

Das Programm der Einsparungen, das die neue (konservative) Regierung soeben vorgestellt hat, ist das größte in der niederländischen Geschichte. Es beläuft sich auf 17 Milliarden Euro. Hier wird Hand an die Reste des Versorgungsstaates gelegt. Zum Beispiel soll es weniger Arbeitslosen- und Arbeitsunfähigkeits-Unterstützung geben, weniger garantierte Gesundheitsversorgung und weniger Mietbeihilfe. Die Steuererleichterungen bei vorzeitiger Pensionierung sollen gestrichen werden. Die Löhne sollen eingefroren und außerdem soll länger gearbeitet werden. Arbeitslose, die älter als 57 Jahre sind, will man wieder zwingen sich um Jobs zu bewerben usw. Ohne sonderliche Zurückhaltung versucht die christdemokratische (CDA) Mehrheits- und die liberale (VVD) Minderheitsfraktion der Regierung die organisierte Solidarität (die Basis des Systems der sozialen Sicherheit) zu beseitigen. Die Christdemokraten sind aus taktischen Gründen bei diesen Angriffen hier und da zu kleinen Konzessionen bereit, um ihr soziales Gesicht zu retten. Es gibt hierzulande nämlich eine verbreitete Redensart: "Jeder für sich und Gott für uns alle !” Aber selbst diese Hilfe von oben ist jetzt verschwunden.

Und was tut sich unten ?

Die FNV organisiert eine Informationskampagne und hofft dadurch die Christdemokraten (CDA) zu überzeugen. Zugleich weigert sich der Gewerkschaftsbund (immerhin relativ gesehen der "linkeste”) mit einem breiten Bündnis zahlreicher linker Gruppen, Organisationen und Parteien (inklusive Groenlinks und der SP) zusammenzuarbeiten und sich an einer landesweiten Demonstration teilzunehmen, die am 20.September 2003 in Amsterdam stattfinden soll. Stattdessen denkt die FNV neben besagter Informationskampagne über kleine lokale Aktionen und vielleicht hier und da mal eine kleine Arbeitsunterbrechung (in der Regel eine verlängerte Mittagspause!) nach. Dabei verweist der sozialdemokratische Gewerkschaftsbund immer auf die jüngste Niederlage der Gewerkschaft in Deutschland. Bei einem Erfolg hätten sie damit argumentiert, dass die Situation in Deutschland eine ganz andere ist! Doch immerhin (die Erwartungen sind halt bescheiden geworden!) denkt die FNV behutsam darüber nach irgendeine Art von Protest kundzutun und die sozialdemokratische Partei (PvdA) schweigt. Die Beamtengewerkschaft spricht im übrigen gar von einem landesweiten Streik, während der christdemokratische Gewerkschaftsbund CNV noch immer den Dialog mit der Regierung sucht. Die FNV hat hier eine Chance sich zu rehabilitieren ­ vielleicht die letzte. Man wird sehen, ob bzw. wie sie sie ergreift... Die Regierungsagenda läuft auf einen einzigen Punkt hinaus: Das noch immer existierende sozial-liberale Image der Niederlande durch eine europäische neoliberale Realität zu ersetzen.

Vielen Dank für diese interessanten Einblicke.

Kontakt: Hans Boot ist zu erreichen über die E-mail-Adresse: h.boot@chello.nl / Die Webseite der Zeitschrift "Solidariteit” findet Ihr unter: http://www.solidariteit.nl.

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