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Updated: 18.12.2012 15:51
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Der König, das Referendum & der "Arabische Frühling"

Am vorigen Freitag, den 1. Juli 11 wurde in Marokko eine Volksabstimmung über die Annahme einer neuen, "reformierten" Verfassung durchgeführt. Letztere wurde und wird als Antwort der marokkanischen Monarchie auf die Revolten des "Arabischen Frühlungs" verkauft.

Am Ergebnis bestand von vornherein kein Zweifel: Einerseits hatten die Massenmedien, die etablierten Parteien (inklusive der stärksten islamistischen Partei PJD, "Partei für Gerechtigkeit & Entwicklung", mit ihrer staatstragenden Strategie) und der Staatsapparat zur Annahme des Textes u. folglich zum "JA"-Stimmen aufgerufen. Andererseits rief fast niemand zum "NEIN"-Votum auf, da nahezu die gesamte radikale Opposition stattdessen den Boykott der Abstimmung forderte. Allein interessant war also die Frage der Beteiligung an der Abstimmung, nicht jene des konkreten Ergebnisses.

Unter den marokkanischen Gewerkschaften bzw. -dachverbänden rief eine, die CDT (Confédération démocratique du travail ),zum Abstimmungsboykott auf. Vgl. dazu folgende flammende Rede einer Kollegin externer Link, in denen sie die sozialen und politischen Motive dafür aufzählt, also Alles, was in der "reformerischen" Verfassung fehlt.

Laut offiziellen Zahlen vom 02. Juli um die Mittagszeit stimmten knapp 98,5 % der Wähler/innen, die eine gültige Stimme abgegeben hatten, mit Na'am (Ja). Rund 1,5 Prozent votierten für das La (Nein). Ansonsten waren knapp ein Prozent der Stimmzettel ungültig.

Auf die einzig interessante Frage der Stimmbeteiligung respektive -enthaltung hieß es, die Beteiligung liege bei 72,65 %. Diese Angaben des marokkanischen Innenministeriums sind jedoch höchst umstritten. Es beruft sich darauf, 9,49 Millionen Wähler/innen hätten ihre Stimme abgeben, bei insgesamt 13 Millionen Wahlberechtigten, d.h. in die Wählerlisten eingetragenen Einwohner/inne/n. Die Opposition ihrerseits rechnet jedoch völlig anders: In Marokko leben rund 21 Millionen erwachsene Bürger/innen, von denen circa 62 % (also o.g. 13 Millionen) in das Wählerregister eingetragen sind, um an Parlamentswahlen teilnehmen zu können. Jedoch wurde von niemandem beim Abstimmen über die Referendumsfrage eine Wählerkarte verlangt; im Gegenteil wurden auch nicht in die Wählerregister eingetragene Einwohner/innen ausdrücklich zur Stimmabgaben ermutigt, um die Beteiligung so hoch wir nur irgend möglich ausfallen zu lassen. Arbeitgeber insistierten darauf, dass ihre Lohnabhängigen während der Arbeitszeit unbedingt abstimmen gingen.

Insofern, argumentiert die Opposition, muss die Abgabe von 9,49 Millionen Stimmen (unter ihnen 9,228 Millionen "JA"-Voten) vielmehr auf die tatsächliche Anzahl der volljährigen Bürger/innen hochgerechnet werden. Dies ergibt, dass insgesamt 44 % der erwachsenen Bevölkerung der Vorlage zustimmten. Dabei wären eventuelle Wahlmanipulationen - es gibt Aufnahmen von Personen, die rechtswidrig zwei Wählerkarten in ihrem Besitz hatten und also doppelt abstimmen konnten - noch nicht berücksichtigt.

Am Sonntag, den 03. Juli beteiligten sich erneut Zehntausende von Menschen in mehreren marokkanischen Städten an Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition. Offizielle Angaben zur Teilnehmer/innen/zahl waren von behördlicher Seite nicht verfügbar. Und zwar dürften die Zahlen der Opposition ("200.000 in Tanger, 50.000 in Rabat") übertrieben ausfallen, doch deutet alles auf eine tatsächlich massive Teilnahme hin.

Vgl. zu den Demonstrationen

Bernard Schmid, 04. Juli 2011

Um die Hintergründe besser ausleuchten zu können, im Folgenden - in Auszügen - einige Passagen aus dem demnächst erscheinenden Büchlein des Verfasser dieser Zeilen über die arabischen Revolten: http://www.edition-assemblage.de/die-arabische-revolution/ externer Link

Marokko

Bernhard Schmid: Die arabische Revolution?In Marokko hat die Welle der arabischen Revolten im Frühjahr 2011 nicht so explosive Formen wie in Tunesien und Ägypten angenommen. Jedoch ist eine neue außerparlamentarische Opposition entstanden, die alle Aspekte der bestehenden politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Kritik unterzieht. Mehrmals im Monat demonstrieren manchmal Zehntausende, manchmal auch 200.000 oder 300.000 Menschen in verschiedenen marokkanischen Städten. Als Reaktion auf die Proteste, d.h. um ihnen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat die regierende Monarchie verfassungsrechtliche Reformen in die Wege geleitet.

Ähnlich wie in Tunesien gingen der Welle des "Arabischen Frühlings" von 2011 auch in Marokko aufsehenerregende soziale Bewegungen in jüngerer Vergangenheit voraus.

Seit Dezember 1990 existiert etwa die Bewegung der diplômes chômeurs (arbeitslosen Hochschulabgänger/innen), die damals im Zuge der Riots in Fès entstand und im Jahr 1991 die Vereinigung Association nationale des diplômés chômeurs gründete. Aufgrund der Struktur der marokkanischen Ökonomie ist das Risiko, arbeitslos zu bleiben, bei wachsendem Bildungsniveau steigend und nicht sinkend. Ursächlich dafür ist ein Angebot vor allem an "gering qualifizierten" Arbeitsplätzen, während die höher qualifizierten Stellen in den Firmen entweder den Abkömmlingen der gesellschaftlichen Oberklassen vorbehalten bleiben oder aber in Europa (besonders Frankreich) angesiedelt sind. Die offizielle Arbeitslosenrate variierte im Jahr 2010 zwischen 9 und 10 Prozent. Doch die Arbeitslosigkeit bei den unter 30jährigen - die meist wesentlich besser ausgebildet sind als die Generation ihrer Eltern - betrug etwa 2008 hingegen 17,6 Prozent. Unter den Hochschulabgängern betrug sie gar 29 Prozent im Jahr 2000, und sank dann (jedenfalls ausweislich der amtlichen Statistiken) auf 20 Prozent acht Jahre später. Dies erfolgte im Zuge einer Bereinigung des Statistiken, aber auch des Aufbaus neuer Wirtschaftszweige, da sich nach Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA und Europa manche Banken und Finanzdienstleister in Marokko ansiedelten, um von dort aus Afrika zu durchdringen.

Im Juni 2008 kam es zu einer heftigen regionalen Revolte im Fischereihafen Sidi Ifni, in der Nähe von Agadir. (Ausführliches dazu vgl. unter "Marokko zwei Jahre nach der Revolte von Sidi Ifni" externer Link und dort verlinktes Bildmaterial.) Auf sie reagierte der Staatsapparat mit brachialer Repression.

Nach dem Ausbruch der Revolte in Tunesien, im Dezember 2010, begann sie alsbald auch Sympathien in Marokko zu wecken. In dem Staat an der Nordwestflanke Afrikas wurden in der ersten Januarwoche mehrere Solidaritätskundgebungen für die tunesische Jugend, welche in Rabat und Casablanca geplant waren, vorsorglich verboten. Am 20. Februar waren jedoch erstmals in zahlreichen Städten gleichzeitig Demonstrationen abgehalten, denen weitere Protestzüge, Kundgebungen und Sit-ins am 26. und 27. Februar folgten. Die Spannbreite der Forderungen reichte dabei von sozialen Anliegen bis zur Einführung einer Demokratie, entweder - für die radikaleren Kräfte - durch Abschaffung der bestehenden autoritären Monarchie oder aber durch ihren Übergang zu einer konstitutionellen oder parlamentarischen Form der Monarchie. Auch die Opposition gegen die Folter war ein Thema. Letztere war seit dem Wechsel auf dem marokkanischen Thron - im Juli 1999 verstarb der langjährige despotische Monarch Hassan II., und sein als liberaler geltender Sohn Mohammed VI. wurde sein Nachfolger - zunächst zurückgedrängt worden, hatte aber in jüngerer Zeit erneut zugenommen.

Seither hat sich die außerparlamentarische Protestbewegung unter dem Namen mouvement du 20 février ("Bewegung des 20. Februar"), unter welche sie über eigene Koordinationsgremien auf der Ebene der einzelnen Städte verfügt, zur mit Abstand wichtigsten Oppositionskraft im Land entwickelt.

An politischen Kräften waren und sind einerseits vor allem mehrere linke Kräfte wie der linkssozialistische Parti Socialiste Unifié (PSU, "Vereinigte sozialistische Partei"), die von Ex-Maoisten gegründete Vereinigung An-Nahj Ad-dimocrati ("Demokratischer Weg") oder die kleinere trotzkistische Gruppe Al-Mounadhil-a (ungefähr: "Aktivist-in") an der Bewegung beteiligt. Auf der anderen Seite finden sich - außerhalb der Organisationsstrukturen der "Bewegung des 20. Februar", aber an ihrer Seite in den Protesten oder parallel zu ihr - auch Anhänger/innen islamistischer Kräfte. Insbesondere jene der charismatisch-pietistischen Bewegung Al- 'Adl wa-l Ihsane (sehr vergröbert übersetzt:: "Gerechtigkeit und gute Taten"), die auch als "Adlisten" bezeichnet werden. Al-'Adl wurde im Jahr 1973 durch den heute greisen "Scheikh" Abdessalam Yassine gegründet und wird heute vorwiegend durch seine Tochter Nadia geleitet. Die Vereinigung ist nicht legal zugelassen, sondern wird durch die Behörden lediglich toleriert. Sie tritt für eine Abschaffung der Monarchie und eine parlamentarische Republik ein, wobei sie sich gegen Vorwürfe wehrt, sie strebe in Wirklichkeit eine islamische Republik ein; Nadia Yassine jedenfalls erklärt: "Wir streben keinen islamischen Staat, sondern einen zivilen Staat an."

Zum Dritten finden sich in der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung auch aktive Mitglieder von Menschenrechtsvereinigungen, vor allem der AMDH ( Association marocaine des droits humains ) sowie von sozialen Oppositionskräften wie der o.g. Bewegung der diplômes chômeurs .

Seitens der Gewerkschaften erfährt die "Bewegung des 20. Februar" zum Teil ebenfalls Unterstützung (vgl. unser Kapitel über Soziale Kämpfe & Gewerkschaften), ebenso wie durch die Vereinigung ATTAC Marokko und andere zivilgesesellschaftliche Organisationen.

Vor allem in der Anfangsphase kam es zu teilweise heftigen Zusammenstößen mit den staatlichen Sicherheitskräften. In Al-Hoceima, einer Bezirkshauptstadt im Berbergebiet des Rif-Gebirges - einer durch den Zentralstaat vernachlässigten Region, kam es am 20. Februar zu Auseinandersetzungen mit brennenden Autos und öffentlichen Gebäuden sowie fünf Toten. Am letzten Wochenende im Februar wurden unter anderem im südmarokkanischen Agadir zahlreiche Protestierende sowie ein Mitglied einer französischen Solidaritätsvereinigung. Im Laufe der darauffolgenden Monate, während derer alle zwei bis drei Woche größere Demonstrationen in Metropolen wie Casablanca und Rabat, aber auch in mittleren und kleineren Städten stattfanden, veränderte sich jedoch das Muster der Repression. Nicht mehr im Staatsdienst stehende Uniformträger, sondern - mutmaßlich bezahlte - Schläger oder eigens aus den Haftanstalten entlassene "gewöhnliche" Kriminelle werden gegen die Protestierenden losgelassen. Vor allem im Mai und Juni 2011 kam es zu mehreren Zwischenfällen mit solchen Schlägertypen. Diese werden durch die Aktiven unter Benutzung des ägyptischen Begriffs (zur Bezeichnung jener Horden, die in Kairo Anfang Februar 2011 vom Mubarak-Regime mit Äxten und Dromedaren gegen die Demonstranten mobilisiert worden waren) als baltagija oder "Beilträger" bezeichnet. Mehrfach wurden Protest-Aktivist/inn/en in ihren Wohnvierteln angegriffen.

Am 09. März 2011 hatte König Mohammed VI. als Reaktion auf die Proteste eine Überarbeitung der marokkanischen Verfassung angekündigt. Diese sollte jedoch nicht durch einen demokratischen Prozess stattfinden, sondern durch die Arbeit einer aus Juristen und Beratern des Palasts bestehenden "Expertenkommission". Die Ergebnisse wurden in einer Ansprache des Monarchen vom 17. Juni d.J. präsentiert. Statt der bisherigen Verfassungsvorschriften (von 1996), die dem König zwar einen aus der parlamentarischen Mehrheit hervorgehenden Premierminister zur Seite stellten, aber dessen Vollmachten nicht genau definierten, wird nunmehr die Aufgabenstellung des Regierungschefs bestimmt. Allerdings wird gleichzeitig die Machtfülle des Königs nicht wirklich eingeschränkt. Nunmehr wird auch die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Geltung internationaler Konventionen - etwa zur Einhaltung der Menschenrechte - durch die Verfassung proklamiert. An anderen Stellen des Textes werden sie jedoch, durch die Unterordnung bzw. Bindung nationaler und internationaler Vorschriften an religiöse Normen, konterkariert. Der König trägt in Marokko auch einen Titel als religiöses Oberhaupt, emir al-muaminin (Befehlshaber der Gläubigen). Der neue Verfassungstext ist reich an Widersprüchen.

Am 01. Juli 2011 wurde eine Volksabstimmung zur Annahme der neuen Verfassung durchgeführt. Am Ergebnis bestanden von vornherein geringe Zweifel, da die politischen Kräfte entweder zum "Ja"-Stimmen oder aber (wie die "Bewegung des 20. Februar") zum Boykott des Referendums aufriefen, kaum jemand jedoch zum "Nein"-Stimmen. Seit 1965 hat die radikale Opposition in Marokko bei allen vom Staat organisierten Urnengängen zum Boykott aufgerufen. Befürchtet wurde seitens der Opposition besonders, dass nach dem Referendum die Repression gegen Regimegegner/innen zunehmen werde.

 


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