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Updated: 18.12.2012 15:51
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Il precariato si ribella«

Stephanie Weiss zur Bewegung gegen Prekarisierung in Italien

Italien ist nicht nur eines der europäischen Länder, in denen die Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse am weitesten fortgeschritten ist, in den letzten Jahren hat sich auch eine immer größere und entschiedenere Bewegung gegen diese entwickelt, die weit mehr ist als Einzelereignisse wie die auch international in den Medien vernommene Demonstration des letzten Novembers mit über 200000 TeilnehmerInnen. Im Folgenden werden blitzlichtartig einige der vielen Facetten dieser Bewegung beleuchtet.

In den letzten Jahren ist in Italien – in besonderem Ausmaß, aber bei weitem nicht nur im Süden des Landes – die Prekarisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse rasant angestiegen. Unsichere Arbeitsverhältnisse, unterbezahlte und sozial nicht abgesicherte Jobs und der oftmalige Zwang zur Schwarzarbeit betreffen keineswegs nur illegalisierte MigrantInnen, sondern auch einen immer größer werdenden Anteil der italienischen Bevölkerung.

200000 gegen Prekarisierung in Rom

Zeichen dafür, dass die Thematisierung der zunehmenden Prekarisierung und der Kampf gegen diese längst nicht mehr Randthema ist, sondern in das kollektive Bewusstsein der Menschen – primär auch aufgrund massenhafter Erfahrungen in erster Person – Eingang gefunden hat und dass es auch Bereitschaft gibt, gegen dies die Stimme zu erheben, war die Großdemonstration im November letzten Jahres: Am 4. November 2006 fand in der italienischen Hauptstadt mit der von Teilen der Gewerkschaften (insbesondere der Metallergewerkschaft FIOM, Teil der größten Gewerkschaftsfraktion CGIL) und den Basisgewerkschaften, verschiedensten linken und zivilgesellschaftlichen Organisationen (ARCI, Friedensgruppen, etc.) und Teilen der autonomen Linken veranstalteten Großdemonstration gegen Prekarisierung ein wichtiges Ereignis statt. Die Forderungen der breit gefächerten Plattform der Demonstration »Stop Precarietà ora!« (»Stop Prekarisierung jetzt!«) sind primär auf die Abschaffung von drei Gesetzen gerichtet: des »Gesetzes 30«, das die Prekarisierung der Arbeit in eine legale Form gebracht hat, des »Gesetzes Bossi-Fini« (ein restriktives, von den rechten Ministern Bossi und Fini der ehemaligen Berlusconi-Regierung durchgesetztes AusländerInnengesetz, das unter anderem die Aufenthaltsgenehmigung an einen Arbeitsvertrag bindet) und des »Ge-setzes Moratti« (das eine weitgehende Zerstörung des öffentlichen Bildungswesens bedeutet). Stattdessen wird eine »neue Gesetzgebung« gefordert, die »fundamentale Arbeits- und BürgerInnenrechte für Italiener-Innen und MigrantInnen garantiert«, es sollen prekäre Arbeitsverhältnisse in den öffentlichen Verwaltungen in unbefristete Verträge umgewandelt, und es sollen universelle soziale Rechte im Bereich der Bildung, Gesundheit, des Transportwesens und der Kultur garantiert werden.

Dass diese Forderungen nicht nur von vielen geteilt werden, sondern deren Umsetzung von essentieller Bedeutung ist, ist an den DemonstrationsteilnehmerInnen abzulesen: von Trentino bis Palermo wurden Busse und ganze Züge organisiert, viele nahmen eine 14 bis 18-stündige Reise in Kauf, um gegen prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse die Stimme zu erheben. Insgesamt wurden 200000 DemonstrationsteilnehmerInnen geschätzt.

Vereinnahmungsversuche der Mitte-Links Regierung

Die seit weniger als einem Jahr bestehende Mitte-Links Regierung unter Prodi hat geschickt versucht, diese Demonstration, die gegen sie und ihre Politik gerichtet ist, zu vereinnahmen und ihr die kritische Essenz zu nehmen. So meinte etwa Prodi: »Die Demonstration war nicht gegen die Regierung gerichtet, sondern gegen Prekarisierung.« Tatsächlich haben auch einige Mitglieder der Regierung an der Demonstration teilgenommen. So fünf Untersekretäre von drei der in der Regierung vertretenen Parteien: der Grünen, der Rifondazione Comunista und den Communisti Italiani. Dass der Großteil der DemonstrantInnen dies freilich anders sah, ist auch symbolisch an der räumlichen Aufteilung der Demonstration zu erkennen: Zwischen dem Kopf der Demonstration, an dem sich die ›Hohen Tiere‹, Senatoren, Abgeordnete und Untersekretäre bewegten, und ihrem ›Herz‹ mit Soundsystems, Transparenten und Slogans gegen die Mitte-›Links‹ Regierung und das Budgetgesetz gab es rund fünfzig Meter leeren Asphalts.

Das Mailänder Kollektiv »Chainworker« verteilte gefakte Briefe mit dem Stempel der überaus breit gefächerten Plattform der DemonstrationsorganisatorInnen sowie den Parteisymbolen der Grünen und der beiden kommunistischen Parteien, in denen versprochen wurde, die Spesen des Aufwands für diese Demonstration zur Gänze rückzuerstatten, wenn »bis zum 7. April 2007« die Ziele der Plattform nicht erreicht würden.

Kritik der »Disobbedienti« und der Generalstreik des 15. November

Teile der autonomen Linken wie die ehemaligen »Disobbedienti« (AktivistInnen, die in einigen vor allem norditalienischen Centri sociali (besetzten sozialen Zentren) zuhause sind, maßgeblich an der Organisierung der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 beteiligt waren und den Kampf gegen Prekarisierung als eines ihrer Hauptanliegen betrachten) haben zu dieser Demonstration nicht mobilisiert, auch wenn sie ursprünglich im Gründungskomitee dabei waren. Dies vor allem auch deshalb, weil sie nicht an einer Aktion, die von der Regierung vereinnahmt werden würde, teilnehmen wollten: »Nachdem die Kapazität des Konflikts und die Unabhängigkeit von Parteien und Regierungen annulliert wurden, wird der 4. November also als politische ›Repräsentation‹ von oben verwendet werden«, so ein Kommuniqué. Wie recht sie hatten. Dennoch sprechen 200 000 Menschen, deren Intention sicher nicht die Repräsentation der Regierung war, für sich.

Die »Disobbedienti« riefen, statt an der Demonstration teilzunehmen, gemeinsam mit den Basisgewerkschaften und SchülerInnen- und StudentInnenkollektiven zum Generalstreik des 15. November auf. An diesem Tag streikten Zehntausende gegen das neoliberale Budgetgesetz der Regierung und deren Politik der Prekarisierung und gingen in Rom, Neapel, Mailand und Florenz auf die Straße.

Anteprima der Bewegung

Bevor die Bewegung ›massenhaft‹ wurde, wurde das Thema der Prekarisierung von den sich seit den 70ern entwickelnden »Basisgewerkschaften« und von der autonomen Linken (die in Italien weit weniger isoliert ist als in Deutschland oder Österreich) in den Blickwinkel genommen. Insbesondere in und rund um diejenigen Centri sociali, aus denen sich vor Jahren die »Tute Bianche« und danach die »Disobbedienti« entwickelt haben, wurde die systematische Verunsicherung der Arbeits- und Lebensverhältnisse theoretisiert und mit verschiedenen Aktionen ins öffentliche Bewusstsein zu bringen versucht. So hat das Mailänder Kollektiv der »Chainworker« vor sechs Jahren zum ersten Mal die inzwischen schon längst europäisch gewordene Mayday-Streetparade des 1. Mai gegen Prekarisierung der Arbeit und des Lebens organisiert.

Des weiteren wurden verschiedenste ›Kommunikationsguerilla-Aktionen‹ durchgeführt, bei denen nicht nur versucht wurde, relativ breite Medienaufmerksamkeit zu erreichen und einen öffentlichen Diskurs in Gang zu setzen, sondern auch symbolisch das Paradigma des ›Kauf ohne Nachzudenken und stirb‹ (wenn du genug Geld zur Verfügung hast) zu brechen.

So etwa mit der immer wieder in zahlreichen Städten Italiens durchgeführten Aktion der ›Selbstreduktion‹ (»autoriduzione«) von Konsumgütern in Supermärkten und großen Buchhandlungen. Dies spielt sich für gewöhnlich so ab: Eine Gruppe von meist 20 bis 100 Menschen betritt das Geschäft, verteilt Flugzettel, bei denen über die Aktion und über die Anliegen der AktivistInnen berichtet wird und handelt signifikante Preisreduktionen für alle im Geschäft befindlichen Menschen aus. Dies auch deshalb, weil immer mehr Menschen Schwierigkeiten haben, auch zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse wie Essen und Trinken das notwendige Geld aufzubringen.

Genau deshalb ist eine zentrale Forderung der Bewegung diejenige nach einem unumschränkten Grundeinkommen von 1000 Euro, das unabhängig von den Verhältnissen der Arbeit/Nicht-Arbeit allen in Italien befindlichen Menschen garantiert wird. »Ein von jeglichen Konditionen unabhängiges Grundeinkommen zu fordern bedeutet, sich multiple Aktivitäten und Kooperationen vorzustellen, die verschiedene Realitäten und Subjektivitäten produzieren, und nicht die Zerstörung dieser im Namen des Profits«, so der Auszug aus einem Kommuniqué.

Der Kampf um das Recht auf ein Dach über dem Kopf

Denn dass die zunehmende Unsicherheit nicht nur die Arbeitsverhältnisse, sondern das gesamte Leben betrifft, ist inzwischen vielen klargeworden. Eine fixe Lebensplanung ist heutzutage kaum mehr möglich, da mensch oft nicht nur nicht weiß, wo mensch in sechs Monaten arbeiten wird, sondern ob mensch überhaupt Arbeit haben wird und wenn ja, zu welchen Konditionen. Krankheit ist überhaupt nicht mehr leistbar. Die durch Neoliberalismus vorangetriebene Umstrukturierung der Gesellschaft favorisiert Vereinzelung und individuellen Konkurrenz- ebenso wie Existenzkampf.

Autonome Zusammenhänge um die Centri sociali haben sich dieses Themas nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch angenommen, und entwickeln Solidarität und konkrete Strategien des Widerstands gegen Prekarisierung auch aus lebensweltlicher Perspektive. So haben sich in den letzten Jahren etwa einige Kollektive gebildet, die gegen die zunehmende Unsicherheit auch der Wohnverhältnisse ankämpfen und das Recht auf ein Dach über den Kopf (»la lotta per il diritto alla casa«) als fundamentales Recht einfordern. Sie haben verschiedene politische Praxen entwickelt, um einerseits dieses Thema im gesellschaftlichen Diskurs präsenter zu machen, und andererseits selbst (Wohn-)Raum eingenommen. Nicht zuletzt, weil die Mieten für viele oft ohnehin unbezahlbar sind, und an eine Eigentumswohnung schon längst nicht mehr zu denken ist.

So das Kollektiv »Action« in Rom, das mit einem großen Anteil an MigrantInnen mehrere Wohnhäuser mit Hunderten BewohnerInnen seit Jahren besetzt hat. In der norditalienischen Stadt Padua etwa ist etwa ein ganzes Wohnviertel (»Il Portello«) mit leerstehenden Gemeindewohnungen seit Jahren besetzt, und dies keineswegs nur von in gegenkulturellen Kontexten aufgewachsenen jugendlichen AktivistInnen, sondern auch von ›ganz normalen‹ Menschen jeden Alters, die sich eine ›normale‹ Miete nicht leisten können. Netzwerke der Nachbarschaft und Solidarität haben sich hier entwickelt, vom kollektiven Einkaufen vor allem auch für die älteren BewohnerInnen über Kinderbetreuung bis zur Organisierung kultureller Veranstaltungen.

Ein anderes Beispiel ist das »Collettivo Sottotetto« in Reggio Emilia, einer eigentlich reichen Stadt, nur dass sich der Reichtum primär in florierenden Unternehmen und hohen Lebenshaltungskosten als in gut bezahlten Lohnarbeitstätigkeiten äußert. Die Miete an einen Privaten zu zahlen ist für viele mit hohen Schulden verbunden, während es Hunderte an seit Jahren leerstehenden Gemeindewohnungen gibt (von den privaten Wohnungen, die leergehalten werden, um die Mieten hinaufzutreiben, ganz zu schweigen). Das »Collettivo Sottotetto« thematisiert genau diese Widersprüche. Die AktivistInnen haben seit einem Jahr mehrere Wohnungen einer Gemeindebausiedlung in einem ArbeiterInnenviertel besetzt. »Diese Wohnungen werden seit Jahren nicht mehr vermietet, sie stehen leer und sind ungenützt, während gleichzeitig Hunderte Menschen auf der Warteliste für eine Gemeindewohnung stehen und pro Woche 50 Zwangsräumungen durchgeführt werden«, so Silvio, ein Aktivist des Kollektivs. Die letzte Besetzung wurde vor wenigen Wochen mit einer aus drei Frauen bestehenden Familie, die seit Jahren auf eine Gemeindewohnung warteten und die private Miete nicht mehr bezahlen konnten, durchgeführt.

Illegalisierung von MigrantInnen und deren Kampf gegen Prekarisierung

Während es vielen ItalienerInnen und MigrantInnen mit Aufenthaltsgenehmigung bereits nicht mehr möglich ist, ein einigermaßen würdevolles Leben zu führen, stellen MigrantInnen ohne Papiere, in einem Zustand des kontinuierlichen Existenzkampfes befindlich, ein Paradigma der Prekarisierung dar. Während sie ihre Arbeitskraft unter den unwürdigsten Konditionen an Unternehmen verkaufen müssen, die systematisch Profit aus diesem Status schlagen, sind sie vom Staat zur Unsichtbarkeit gezwungen und ununterbrochen von der Abschiebung oder der Einschließung in eines der Abschiebegefängnisse (CPTs) bedroht. Trotz dieser extrem prekären Situation und alle damit verbundenen Risiken in Kauf nehmend haben sich, um ein Beispiel des multiplen Widerstands von MigrantInnen für deren Rechte zu bringen, in Reggio Emilia Dutzende in Baufirmen arbeitende illegalisierte MigrantInnen zu einem mutigen Schritt entschlossen: Sie haben das »Komitee der irregulären ArbeiterInnen« (»Comitato dei lavoratori irregulari«) gegründet und werden kollektiv einen Prozess gegen eine italienische Baufirma, die sie unter schlechtesten Bedingungen schwarz arbeiten ließ und monatelang keinen Lohn zahlte, führen. Dies ist mit dem Risiko der Abschiebung aus Italien verbunden. Sollten sie den Prozess gewinnen, wird damit jedoch ein bedeutendes Zeichen im Kampf gegen Illegalisierung und Prekarisierung in Italien gesetzt werden.

Dies waren lediglich wenige Beispiele für die vielen Aktionen der ebenso breiten wie breitgefächerten Bewegung gegen Prekarisierung in Italien. Während Staat und Kapital durch die neoliberale Umstrukturierung und damit Prekarisierung der Arbeits- und Lebensbereiche der Menschen Vereinzelung, Isolation und Konkurrenz vorantreiben, zeigen viele Menschen, dass es nicht nur unabdingbar, sondern auch möglich ist, gerade in Situationen wie diesen Netzwerke der Solidarität zu knüpfen und kollektiv für Rechte und ein Leben in Würde zu kämpfen.

Stephanie Weiss

Erschienen im express, Zeitschrift für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 3-4/07


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