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Updated: 18.12.2012 15:51
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Empörung über Thyssens Todesopfer

"Der schwere Unfall im Stahlwerk des Thyssen-Krupp-Konzerns in Turin mit sieben Toten verwandelt sich zunehmend in einen Kristallisationspunkt des Widerstandes gegen die zum Teil lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen in Italien. Nach der Beschlagnahme zahlreicher firmeninterner E-Mails durch die örtliche Staatsanwaltschaft zeichnet sich ein Strafverfahren gegen führende Manager des Stahlkonzerns ab" - so beginnt der Artikel "Siebter Toter im Thyssen-Krupp-Stahlwerk Turin. Konzernspitze unter Druck" von Rosso Vicenzo vom 4. Januar 2008 (eine längere Fassung des ebenfalls heute erschienen Beitrags in der "Jungen Welt".

Profit oder Leben:

Siebter Toter im Thyssen-Krupp-Stahlwerk Turin - Konzernspitze unter Druck

Von Rosso Vincenzo

Der schwere Unfall im Stahlwerk des Thyssen-Krupp-Konzerns in Turin mit sieben Toten verwandelt sich zunehmend in einen Kristallisationspunkt des Widerstandes gegen die zum Teil lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen in Italien. Nach der Beschlagnahme zahlreicher firmeninterner E-Mails durch die örtliche Staatsanwaltschaft zeichnet sich ein Strafverfahren gegen führende Manager des Stahlkonzerns ab.

In der Nacht zum 6.Dezember 2007 war in dem Walzwerk für Spezialstahl ein verheerender Brand ausgebrochen, bei dem insgesamt sieben Arbeiter starben. Als Letzter erlag am 30.Dezember der 26jährige Giuseppe De Masi nach mehr als dreiwöchigem Kampf in einer Turiner Spezialklinik seinen Verletzungen. Wie seine Kollegen hatte er bei dem Unfall, den Augenzeugen als "Inferno" bezeichneten, Verbrennungen dritten Grades an 90% seines Körpers erlitten. Angehörige, Kollegen, Gewerkschaftsführer und Politiker erhoben schwere Vorwürfe gegen die Konzernpolitik, die allem Anschein nach in dem von Schließung bedrohten Werk ohne Rücksicht auf Leib und Leben der Arbeiter produzierte. So stellte sich bei den Untersuchungen heraus, dass die Feuerlöscher leer waren, der Brandschutz unzureichend und die Belegschaft völlig überarbeitet. (Die Betroffenen waren seit 12 Stunden im Einsatz.). Die Inspektoren der lokalen Gesundheitsbehörde ASL registrierten in nur zehn Arbeitstagen 116 Verletzungen der gesetzlichen Bestimmungen, die neben den innerbetrieblichen Missständen auch eine deutliche Überschreitung der Emissionswerte sowie Umweltverschmutzung durch wilde Industrieölentsorgung umfassten.

Während die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" in einem Artikel vom 11.12.2007 unter Berufung auf die, von ihr selbst so genannte, "rechtspopulistische Zeitung ,Libero'" den Gewerkschaften die Schuld zuzuschieben versuchte, weil diese sich angeblich "in der Regel nicht für Sicherheitsfragen im Betrieb interessierten" , berichtete die FIAT-eigene Turiner Tageszeitung "La Stampa" unter Berufung auf den beschlagnahmten deutsch- und englischsprachigen E-Mail-Verkehr der italienischen Thyssen-Krupp-Manager und der deutschen Konzernspitze, dass diese seit langem über die skandalösen Zustände im Bilde waren, aber nichts unternahmen, um Abhilfe zu schaffen, da das piemonteser Werk im Herbst 2008 stillgelegt werden soll. In einem Leitartikel sprach der Industriehistoriker und Professor an der Mailänder Privatuniversität Bocconi, Giuseppe Berta, von "China in Turin" . Die Staatsanwaltschaft ermittelt inzwischen gegen die Vorstandsmitglieder Harald Espenham, Gerald Priegnitz und Marco Pucci wegen fahrlässiger Tötung, Körperverletzung und mutwilliger Unfallverursachung.

Die Anklage der Angehörigen der Opfer und der Gewerkschaften fällt noch sehr viel schärfer aus. An einer Protestdemonstration am Montag, den 10.Dezember, der von einem 8stündigen Streik der Turiner Metallindustrie begleitet wurde, beteiligten sich offiziellen Angaben zufolge 30.000 Arbeiter. Dabei erklärte der Generalsekretär der größten Metallarbeitergewerkschaft Italiens FIOM-CGIL, Gianni Rinaldini: "Wir stehen hier vor einem Mord, der an Arbeitern verübt wurde." Noch weiter ging der Vater des jüngsten Opfers, Nino Santino, der in einer bewegenden Ansprache an die Teilnehmer die verantwortlichen Manager mit tränenerstickter Stimme verfluchte: "Ihr werdet nicht mehr ruhig schlafen. Bastarde! Ihr habt ein Herz aus Stein und ein volles Bankkonto. Ihr habt so viele Familien ruiniert. Die ganze Welt soll wissen, was Ihr angerichtet habt!" Auch von den Demonstranten wurde immer wieder "Assassini (Mörder)!" und "Ihr werdet alles bezahlen und ihr werdet teuer bezahlen!" skandiert. Nicht weniger wütend und spannungsgeladen war die Stimmung auf den Begräbnissen der, einer nach dem anderen, verstorbenen Thyssen-Arbeiter.

Angesichts der aufgeheizten Stimmung versicherte Ministerpräsident Romano Prodi in einem eigenen Leitartikel in "La Stampa" beflissen, der Kampf um mehr Arbeitssicherheit sei von nun an "erste Bürgerpflicht" . Ob sich ohne massiven gewerkschaftlichen und politischen Widerstand tatsächlich etwas ändern wird, darf getrost bezweifelt werden. Zwar soll, den Prognosen des Nationalen Instituts zur Verhinderung von Arbeitsunfällen (INAIL) zufolge, die Zahl der Arbeitsunfälle in Italien in den letzten fünf Jahren um 6,5% von 992.655 im Jahr 2002 auf ca. 900.000 in diesem Jahr zurückgehen. Doch werden in dieser Statistik Wegeunfälle nicht berücksichtigt und ist die "kreative Buchführung" staatlicher Stellen allgemein bekannt. Zugleich vergeht kein Tag, an dem nicht einer oder mehrere tödliche Arbeitsunfälle gemeldet werden. Eine Folge der Tatsache, dass der italienischen Wirtschaft seit Einführung des Euro die früher gebräuchliche Methode einer Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit auf den Weltmärkten durch Währungsabwertung versperrt ist und dies nun über Einsparungen bei den Produktionskosten ausgeglichen wird.

Während im Turiner Werk nicht einmal Geld für die Füllung der Feuerlöscher ausgegeben wurde, steigerte die Thyssen-Krupp AG in diesem Jahr zum fünften Mal infolge Gewinn und Rendite. Makabererweise einen Tag vor dem Inferno in Italien jubelte die "Neue Zürcher Zeitung" in einem ausführlichen Artikel über die Unternehmensbilanz: "Der führende deutsche Stahlkonzern Thyssen-Krupp versteht es auf beeindruckende Weise, die Chancen der Globalisierung für sich zu nutzen. Das Unternehmen hat am Dienstag ein weiteres Rekordergebnis bekannt gegeben. (.) Der Konzerngewinn vor Steuern stieg im Ende September abgeschlossenen Geschäftsjahr um 27% auf 3,3 Milliarden Euro. Ohne eine von der EU-Kommission wegen Kartellabsprachen in der Aufzug-Sparte verhängte Buße von 480 Millionen Euro wären es sogar 3,8 Mrd. gewesen, 45% mehr als im Vorjahr." Und: "Die Aktionäre sehen ihr Aktienkapital sogar mit einer Rendite von 31% verzinst, die wirklich nichts zu wünschen übrig lässt."

Selbst die Tageszeitung "l'Unità" , das wichtigste Presseorgan der im April 2007 formierten mitte-linken Demokratischen Partei (PD), der stärksten Kraft in der Regierung Prodi, musste angesichts dessen am 11.12.2007 eingestehen: "Die Gewalt, die die Arbeiter tötet, ist die entwaffnende Gewalt einer Arbeitsorganisation, in der der Profit mehr zählt als das Leben. Das ist die direkte Erfahrung eines Konfliktes, der noch immer existiert, auch in einem demokratischen Land. Eines Konfliktes zwischen Kapital und Arbeit, zwischen denjenigen, die zu denen gehören, die viel verdienen und denjenigen, die ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, um einen Lohn nach Hause zu bringen, der geradeso ausreicht, um irgendwie über die Runden zu kommen."

Die Gewerkschaften (insbesondere die FIOM) wollen sich in den kommenden Wochen landesweit intensiv mit dem Thema Arbeitssicherheit befassen, die Verantwortlichen an der Basis besser koordinieren und weitere Proteste vorbereiten. Im Januar soll es, nach Abschluss der Ermittlungen, auf nationaler Ebene ein Treffen mit dem Thyssen-Krupp-Management geben, das bereits neue Einsparideen hat: Um teuren Instandsetzungskosten aus dem Weg zu gehen, sollen die Beschäftigten in Turin ab Februar in öffentlich finanzierte Kurzarbeit Null geschickt werden. Eine Forderung, die die Gewerkschaften strikt ablehnen.

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Vorbemerkung, Übersetzung und Einfügungen in eckigen Klammern: * Rosso

Der Name * Rosso steht für ein Mitglied des Gewerkschaftsforums Hannover und der ehemaligen Antifa-AG der Uni Hannover, die sich nach mehr als 17jähriger Arbeit Ende Oktober 2006 aufgelöst hat (siehe: http://www.freewebtown.com/antifauni/ Rubrik "Aktuelles" bzw. die regelmäßig erneuerten Artikel, Übersetzungen und Interviews dort).

Hinweise, Kritik, Lob oder Anfragen per Mail an: negroamaro@mymail.ch

Der Artikel erschien in einer aus Platzgründen gekürzten Version (knapp 5.800 Zeichen) in der Tageszeitung "junge Welt" vom 4.1.2008 . Hier die vollständige Fassung (7.320 Zeichen)

 


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